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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Staatshilfe oder Selbsthilfe?

Gesellschaftsretter zugeben wollen. Der Mensch hat nicht allein mit der Natur,
er hat auch mit seinesgleichen einen beständigen Kampf zu führen. In den
Kämpfen der Völker unter einander, anch wenn wir dabei nur an wirtschaft¬
liche Kämpfe denken, ist die Selbstsucht stärker als die Liebe. Und es steht
nicht bei uns, die Waffen zu bestimmen, die hierbei gebraucht werden, mit
denen auch wir uns wehren müssen. Wir haben nicht die Macht, unsern Grund¬
sätzen von sozialer Gerechtigkeit und von einem dem Menschen zukommenden ge¬
ringsten Maße der Lebenshaltung allgemeine Geltung zu verschaffen. Erst vor
kurzem ist die Kulturwelt erinnert worden an die Gefahr, die ihr von einer
Menschenrasse mit niedriger Lebenshaltung droht.

Aber auch zwischen den Einzelnen, zwischen Man" und Mann werden
wir den wirtschaftlichen Kampf nicht ganz beseitigen können, mögen sich auch
seine Härten mildern lassen. Wir werden es nicht dahin bringen, im großen
und ganzen anstatt der Gewinnsucht das Wohlwollen zur Triebfeder der wirt¬
schaftlichen Unternehmungen zu macheu; wir werdeu es nicht dahin bringen,
daß der Mensch mit derselben Freudigkeit für untre schafft, wie für sich selbst,
es sei deun, daß ihn sein eignes Interesse ans die Vereinigung mit andern
hinwiese und er dadurch zu Aufgaben befähigt würde, für die die Kraft des
Einzelnen nicht ausreicht. Wir können es auch nicht ändern, daß durchweg
menschliche Dienstleistungen irgend welcher Art darnach beurteilt und belohnt
werden, welchen Wert sie für den haben, der diese Leistungen empfängt. Mit
andern Worten: was der Arbeitende auf irgend einem Gebiete von dem Wohl¬
wollen andrer, von ihrer Rücksicht aus seine Lage zu erwarten hat, das bleibt
immer untergeordnet und minderwertig im Verhältnis zu dem, was er dnrch
den eignen Wert seiner Arbeit zu erzwingen vermag. Darum müssen wir
suchen, die Widerstandskraft gegen Übervorteilung und ungünstige Lage in den
Arbeitenden selbst hineinzulegen.

So können wir denn auch die Unterschiede der äußern Lage, die durch
das Verhalten der Einzelnen entstehen, nicht beseitigen. Wir können dem nicht
emporhelfen, dessen Leichtsinn und UnWirtschaftlichkeit die Wirkung jeder wohl¬
wollenden Fürsorge für ihn verdirbt. Eine Gesellschaftsordnung, die dem Un¬
würdigen, dem Leichtsinnigen, dem Verschwender das Recht zuspräche, ohne
eigne Anstrengung durch fremde Hilfe auf dieselbe Stufe emporgehoben zu
werdeu, worauf der Thatkräftige und Strebsame steht, wäre nicht gerecht,
sondern im höchsten Grade ungerecht und dazu unverständig, denn es würde
ihr jedes Mittel fehlen, wirtschaftliche Tugenden zu wecken und zu Pflegen, ja
sie würde geradezu eine Aufmunterung zu wirtschaftlicher Untüchtigkeit be¬
deuten.

Solche Erwägungen sind für die Vertreter des Sozialismus nicht vor¬
handen. Es ist aber bemerkenswert, wie sehr sich unsre heutigen Gesellschafts¬
retter in diesem Punkte sozialistischen Vorstellungen nähern. Wirtschaftliche Not


Staatshilfe oder Selbsthilfe?

Gesellschaftsretter zugeben wollen. Der Mensch hat nicht allein mit der Natur,
er hat auch mit seinesgleichen einen beständigen Kampf zu führen. In den
Kämpfen der Völker unter einander, anch wenn wir dabei nur an wirtschaft¬
liche Kämpfe denken, ist die Selbstsucht stärker als die Liebe. Und es steht
nicht bei uns, die Waffen zu bestimmen, die hierbei gebraucht werden, mit
denen auch wir uns wehren müssen. Wir haben nicht die Macht, unsern Grund¬
sätzen von sozialer Gerechtigkeit und von einem dem Menschen zukommenden ge¬
ringsten Maße der Lebenshaltung allgemeine Geltung zu verschaffen. Erst vor
kurzem ist die Kulturwelt erinnert worden an die Gefahr, die ihr von einer
Menschenrasse mit niedriger Lebenshaltung droht.

Aber auch zwischen den Einzelnen, zwischen Man» und Mann werden
wir den wirtschaftlichen Kampf nicht ganz beseitigen können, mögen sich auch
seine Härten mildern lassen. Wir werden es nicht dahin bringen, im großen
und ganzen anstatt der Gewinnsucht das Wohlwollen zur Triebfeder der wirt¬
schaftlichen Unternehmungen zu macheu; wir werdeu es nicht dahin bringen,
daß der Mensch mit derselben Freudigkeit für untre schafft, wie für sich selbst,
es sei deun, daß ihn sein eignes Interesse ans die Vereinigung mit andern
hinwiese und er dadurch zu Aufgaben befähigt würde, für die die Kraft des
Einzelnen nicht ausreicht. Wir können es auch nicht ändern, daß durchweg
menschliche Dienstleistungen irgend welcher Art darnach beurteilt und belohnt
werden, welchen Wert sie für den haben, der diese Leistungen empfängt. Mit
andern Worten: was der Arbeitende auf irgend einem Gebiete von dem Wohl¬
wollen andrer, von ihrer Rücksicht aus seine Lage zu erwarten hat, das bleibt
immer untergeordnet und minderwertig im Verhältnis zu dem, was er dnrch
den eignen Wert seiner Arbeit zu erzwingen vermag. Darum müssen wir
suchen, die Widerstandskraft gegen Übervorteilung und ungünstige Lage in den
Arbeitenden selbst hineinzulegen.

So können wir denn auch die Unterschiede der äußern Lage, die durch
das Verhalten der Einzelnen entstehen, nicht beseitigen. Wir können dem nicht
emporhelfen, dessen Leichtsinn und UnWirtschaftlichkeit die Wirkung jeder wohl¬
wollenden Fürsorge für ihn verdirbt. Eine Gesellschaftsordnung, die dem Un¬
würdigen, dem Leichtsinnigen, dem Verschwender das Recht zuspräche, ohne
eigne Anstrengung durch fremde Hilfe auf dieselbe Stufe emporgehoben zu
werdeu, worauf der Thatkräftige und Strebsame steht, wäre nicht gerecht,
sondern im höchsten Grade ungerecht und dazu unverständig, denn es würde
ihr jedes Mittel fehlen, wirtschaftliche Tugenden zu wecken und zu Pflegen, ja
sie würde geradezu eine Aufmunterung zu wirtschaftlicher Untüchtigkeit be¬
deuten.

Solche Erwägungen sind für die Vertreter des Sozialismus nicht vor¬
handen. Es ist aber bemerkenswert, wie sehr sich unsre heutigen Gesellschafts¬
retter in diesem Punkte sozialistischen Vorstellungen nähern. Wirtschaftliche Not


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[0264] Staatshilfe oder Selbsthilfe? Gesellschaftsretter zugeben wollen. Der Mensch hat nicht allein mit der Natur, er hat auch mit seinesgleichen einen beständigen Kampf zu führen. In den Kämpfen der Völker unter einander, anch wenn wir dabei nur an wirtschaft¬ liche Kämpfe denken, ist die Selbstsucht stärker als die Liebe. Und es steht nicht bei uns, die Waffen zu bestimmen, die hierbei gebraucht werden, mit denen auch wir uns wehren müssen. Wir haben nicht die Macht, unsern Grund¬ sätzen von sozialer Gerechtigkeit und von einem dem Menschen zukommenden ge¬ ringsten Maße der Lebenshaltung allgemeine Geltung zu verschaffen. Erst vor kurzem ist die Kulturwelt erinnert worden an die Gefahr, die ihr von einer Menschenrasse mit niedriger Lebenshaltung droht. Aber auch zwischen den Einzelnen, zwischen Man» und Mann werden wir den wirtschaftlichen Kampf nicht ganz beseitigen können, mögen sich auch seine Härten mildern lassen. Wir werden es nicht dahin bringen, im großen und ganzen anstatt der Gewinnsucht das Wohlwollen zur Triebfeder der wirt¬ schaftlichen Unternehmungen zu macheu; wir werdeu es nicht dahin bringen, daß der Mensch mit derselben Freudigkeit für untre schafft, wie für sich selbst, es sei deun, daß ihn sein eignes Interesse ans die Vereinigung mit andern hinwiese und er dadurch zu Aufgaben befähigt würde, für die die Kraft des Einzelnen nicht ausreicht. Wir können es auch nicht ändern, daß durchweg menschliche Dienstleistungen irgend welcher Art darnach beurteilt und belohnt werden, welchen Wert sie für den haben, der diese Leistungen empfängt. Mit andern Worten: was der Arbeitende auf irgend einem Gebiete von dem Wohl¬ wollen andrer, von ihrer Rücksicht aus seine Lage zu erwarten hat, das bleibt immer untergeordnet und minderwertig im Verhältnis zu dem, was er dnrch den eignen Wert seiner Arbeit zu erzwingen vermag. Darum müssen wir suchen, die Widerstandskraft gegen Übervorteilung und ungünstige Lage in den Arbeitenden selbst hineinzulegen. So können wir denn auch die Unterschiede der äußern Lage, die durch das Verhalten der Einzelnen entstehen, nicht beseitigen. Wir können dem nicht emporhelfen, dessen Leichtsinn und UnWirtschaftlichkeit die Wirkung jeder wohl¬ wollenden Fürsorge für ihn verdirbt. Eine Gesellschaftsordnung, die dem Un¬ würdigen, dem Leichtsinnigen, dem Verschwender das Recht zuspräche, ohne eigne Anstrengung durch fremde Hilfe auf dieselbe Stufe emporgehoben zu werdeu, worauf der Thatkräftige und Strebsame steht, wäre nicht gerecht, sondern im höchsten Grade ungerecht und dazu unverständig, denn es würde ihr jedes Mittel fehlen, wirtschaftliche Tugenden zu wecken und zu Pflegen, ja sie würde geradezu eine Aufmunterung zu wirtschaftlicher Untüchtigkeit be¬ deuten. Solche Erwägungen sind für die Vertreter des Sozialismus nicht vor¬ handen. Es ist aber bemerkenswert, wie sehr sich unsre heutigen Gesellschafts¬ retter in diesem Punkte sozialistischen Vorstellungen nähern. Wirtschaftliche Not

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/264>, abgerufen am 26.07.2024.