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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Staatshilfe oder Selbsthilfe?

Hältnissen eine harte Zumutung an den gebildeten jungen Mann oder das ge¬
bildete junge Mädchen wäre, eine dienende Stellung einzunehmen. Aber daß
eine Trennung der Stände so weit eingetreten ist, daß sich Standcsvorurteile ein¬
gebürgert haben, ist eben eine verkehrte Zeitrichtung. Und diese Anschauungen
wirken, genau wie das Streben nach Erhöhung der Genüsse und die Unwirt-
schaftlichkcit in der Verwendung des Einkommens, ansteckend auf die untern
Volksschichten, deren Vildungsstandpuukt das Abwenden von der gröber" Ar¬
beit noch weniger berechtigt erscheinen läßt. Besonders beim weiblichen Ge¬
schlecht macht sich diese ansteckende Kraft der Standesvorurteile bemerkbar.

Es ist der Irrtum, der allen "Utopien" zu Grunde lag, daß wir in einer
Welt lebten, wo, wenn man es mir richtig anzufangen und die Gesetzgebung
diesem Zweck dienstbar zu machen verstünde, ein sorgenfreies Dasein, Wohl¬
leben und Genuß für alle zu erlangen wäre. Die Anklagen, die in dem so
oft gehörten: "Es sollte oder es müßte so und so sein" liegen, gehören in Wahr¬
heit vor einen viel höhern Richterstuhl als die staatliche Gewalt, deren Fähig¬
keiten die so gestellten Forderungen weit übersteigen. Aber auch viele, die an
eine waltende Vorsehung im Sinne des Christentums nicht glauben, tragen
doch in sich ein lebhaftes Bewußtsein von einer hohen Würde des Menschen,
kraft deren er Anspruch habe ans eine entsprechende änßere Lebensstellung.
Gutmütige Schwärmer, die aus ihrem Füllhorn von Gaben die ganze Mensch¬
heit glauben beglücken zu können, stimmen in die Klagen über die UnHaltbar¬
keit und Trostlosigkeit unsrer Zustände, in den Ruf der Jnteressenpolitiker nach
gründlichen "Reformen" mit ein, ohne zu bedenken, daß sie der Selbstsucht
anstatt der Menschenliebe den Weg bahnen. Diesen unklaren, schwärmerischen
Vorstellungen gegenüber thut Berufung ans einfache Wahrheiten not. Unsre
Vorstellung von dem, was sein sollte, ist nicht ein Zauber, der uns die Schütze
der Erde vollkommner erschließen, die Mittel zur Befriedigung unsrer Wünsche
besser verschaffen kann. Nirgends bietet sich uns ein Anhalt dafür, daß ein
Recht auf Wohlergehen der Menschheit verbrieft sei. In dem Maße, wie der
Mensch die Natur zu beherrschen und ihr Schätze abzugewinnen gelernt hat,
hat er sich aus der Bedürftigkeit emporgerungen und seine Lage verbessert.
Auch sind die wichtigsten Fortschritte, durch die die Lage der Menschen am
wirksamsten verbessert worden ist, nicht dnrch Wohlwollen für die Mitmenschen
oder durch ein ideales Streben nach allgemeiner Glückseligkeit bewirkt worden,
sondern durch Kräfte andrer Art, die nicht bewußt auf dieses Ziel hinstrebten.
Menschliche Thatkraft, menschlicher Erfindungsgeist und Wissensdurst haben die
bedeutendsten und in ihren Folgen wohlthätigsten Fortschritte herbeigeführt.
Wider ihren Willen ist sogar die vielgeschmähte Gewinnsucht in den Dienst
der Menschheit gezwungen worden.

Und wie auch das Wohlwollen in der Neuzeit erstarkt sein mag, seinen
Wirkungen sind doch viel eUgere Grenzen gezogen, als viele unsrer heutigen


Staatshilfe oder Selbsthilfe?

Hältnissen eine harte Zumutung an den gebildeten jungen Mann oder das ge¬
bildete junge Mädchen wäre, eine dienende Stellung einzunehmen. Aber daß
eine Trennung der Stände so weit eingetreten ist, daß sich Standcsvorurteile ein¬
gebürgert haben, ist eben eine verkehrte Zeitrichtung. Und diese Anschauungen
wirken, genau wie das Streben nach Erhöhung der Genüsse und die Unwirt-
schaftlichkcit in der Verwendung des Einkommens, ansteckend auf die untern
Volksschichten, deren Vildungsstandpuukt das Abwenden von der gröber» Ar¬
beit noch weniger berechtigt erscheinen läßt. Besonders beim weiblichen Ge¬
schlecht macht sich diese ansteckende Kraft der Standesvorurteile bemerkbar.

Es ist der Irrtum, der allen „Utopien" zu Grunde lag, daß wir in einer
Welt lebten, wo, wenn man es mir richtig anzufangen und die Gesetzgebung
diesem Zweck dienstbar zu machen verstünde, ein sorgenfreies Dasein, Wohl¬
leben und Genuß für alle zu erlangen wäre. Die Anklagen, die in dem so
oft gehörten: „Es sollte oder es müßte so und so sein" liegen, gehören in Wahr¬
heit vor einen viel höhern Richterstuhl als die staatliche Gewalt, deren Fähig¬
keiten die so gestellten Forderungen weit übersteigen. Aber auch viele, die an
eine waltende Vorsehung im Sinne des Christentums nicht glauben, tragen
doch in sich ein lebhaftes Bewußtsein von einer hohen Würde des Menschen,
kraft deren er Anspruch habe ans eine entsprechende änßere Lebensstellung.
Gutmütige Schwärmer, die aus ihrem Füllhorn von Gaben die ganze Mensch¬
heit glauben beglücken zu können, stimmen in die Klagen über die UnHaltbar¬
keit und Trostlosigkeit unsrer Zustände, in den Ruf der Jnteressenpolitiker nach
gründlichen „Reformen" mit ein, ohne zu bedenken, daß sie der Selbstsucht
anstatt der Menschenliebe den Weg bahnen. Diesen unklaren, schwärmerischen
Vorstellungen gegenüber thut Berufung ans einfache Wahrheiten not. Unsre
Vorstellung von dem, was sein sollte, ist nicht ein Zauber, der uns die Schütze
der Erde vollkommner erschließen, die Mittel zur Befriedigung unsrer Wünsche
besser verschaffen kann. Nirgends bietet sich uns ein Anhalt dafür, daß ein
Recht auf Wohlergehen der Menschheit verbrieft sei. In dem Maße, wie der
Mensch die Natur zu beherrschen und ihr Schätze abzugewinnen gelernt hat,
hat er sich aus der Bedürftigkeit emporgerungen und seine Lage verbessert.
Auch sind die wichtigsten Fortschritte, durch die die Lage der Menschen am
wirksamsten verbessert worden ist, nicht dnrch Wohlwollen für die Mitmenschen
oder durch ein ideales Streben nach allgemeiner Glückseligkeit bewirkt worden,
sondern durch Kräfte andrer Art, die nicht bewußt auf dieses Ziel hinstrebten.
Menschliche Thatkraft, menschlicher Erfindungsgeist und Wissensdurst haben die
bedeutendsten und in ihren Folgen wohlthätigsten Fortschritte herbeigeführt.
Wider ihren Willen ist sogar die vielgeschmähte Gewinnsucht in den Dienst
der Menschheit gezwungen worden.

Und wie auch das Wohlwollen in der Neuzeit erstarkt sein mag, seinen
Wirkungen sind doch viel eUgere Grenzen gezogen, als viele unsrer heutigen


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[0263] Staatshilfe oder Selbsthilfe? Hältnissen eine harte Zumutung an den gebildeten jungen Mann oder das ge¬ bildete junge Mädchen wäre, eine dienende Stellung einzunehmen. Aber daß eine Trennung der Stände so weit eingetreten ist, daß sich Standcsvorurteile ein¬ gebürgert haben, ist eben eine verkehrte Zeitrichtung. Und diese Anschauungen wirken, genau wie das Streben nach Erhöhung der Genüsse und die Unwirt- schaftlichkcit in der Verwendung des Einkommens, ansteckend auf die untern Volksschichten, deren Vildungsstandpuukt das Abwenden von der gröber» Ar¬ beit noch weniger berechtigt erscheinen läßt. Besonders beim weiblichen Ge¬ schlecht macht sich diese ansteckende Kraft der Standesvorurteile bemerkbar. Es ist der Irrtum, der allen „Utopien" zu Grunde lag, daß wir in einer Welt lebten, wo, wenn man es mir richtig anzufangen und die Gesetzgebung diesem Zweck dienstbar zu machen verstünde, ein sorgenfreies Dasein, Wohl¬ leben und Genuß für alle zu erlangen wäre. Die Anklagen, die in dem so oft gehörten: „Es sollte oder es müßte so und so sein" liegen, gehören in Wahr¬ heit vor einen viel höhern Richterstuhl als die staatliche Gewalt, deren Fähig¬ keiten die so gestellten Forderungen weit übersteigen. Aber auch viele, die an eine waltende Vorsehung im Sinne des Christentums nicht glauben, tragen doch in sich ein lebhaftes Bewußtsein von einer hohen Würde des Menschen, kraft deren er Anspruch habe ans eine entsprechende änßere Lebensstellung. Gutmütige Schwärmer, die aus ihrem Füllhorn von Gaben die ganze Mensch¬ heit glauben beglücken zu können, stimmen in die Klagen über die UnHaltbar¬ keit und Trostlosigkeit unsrer Zustände, in den Ruf der Jnteressenpolitiker nach gründlichen „Reformen" mit ein, ohne zu bedenken, daß sie der Selbstsucht anstatt der Menschenliebe den Weg bahnen. Diesen unklaren, schwärmerischen Vorstellungen gegenüber thut Berufung ans einfache Wahrheiten not. Unsre Vorstellung von dem, was sein sollte, ist nicht ein Zauber, der uns die Schütze der Erde vollkommner erschließen, die Mittel zur Befriedigung unsrer Wünsche besser verschaffen kann. Nirgends bietet sich uns ein Anhalt dafür, daß ein Recht auf Wohlergehen der Menschheit verbrieft sei. In dem Maße, wie der Mensch die Natur zu beherrschen und ihr Schätze abzugewinnen gelernt hat, hat er sich aus der Bedürftigkeit emporgerungen und seine Lage verbessert. Auch sind die wichtigsten Fortschritte, durch die die Lage der Menschen am wirksamsten verbessert worden ist, nicht dnrch Wohlwollen für die Mitmenschen oder durch ein ideales Streben nach allgemeiner Glückseligkeit bewirkt worden, sondern durch Kräfte andrer Art, die nicht bewußt auf dieses Ziel hinstrebten. Menschliche Thatkraft, menschlicher Erfindungsgeist und Wissensdurst haben die bedeutendsten und in ihren Folgen wohlthätigsten Fortschritte herbeigeführt. Wider ihren Willen ist sogar die vielgeschmähte Gewinnsucht in den Dienst der Menschheit gezwungen worden. Und wie auch das Wohlwollen in der Neuzeit erstarkt sein mag, seinen Wirkungen sind doch viel eUgere Grenzen gezogen, als viele unsrer heutigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/263>, abgerufen am 26.07.2024.