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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Kunst und Polizei

des nackten menschlichen Körpers niemals für anstößig gehalten, im Gegenteil
immer als die höchste und vornehmste Aufgabe der Kunst betrachtet worden,
abgesehen natürlich von religiösen Bildern, bei denen andre Gesichtspunkte
maßgebend sind, überhaupt der Gegenstand vom Künstler nicht frei gewählt
wird. Aber selbst in der religiösen Kunst ist man, wie jede Sammlung von
Abgüssen alter Bildwerke zeigt, vor der völligen Nacktheit nicht immer zurück¬
geschreckt. Hat doch auch Michelangelo in Rom, unmittelbar unter den Auge"
des Papstes, seinen Christus in S. Maria sopra Minerva nackt dargestellt und
in der Hauskapelle des päpstlichen Palastes selbst die Heiligen des jüngsten
Gerichts splitternackt gemalt.

Derartige Dinge scheinen nun im königlich bairischen Kultusministerium
nicht bekannt zu sein, was jn nicht Wunder nehmen kann, wenn man bedenkt,
daß unsre höher" Verwaltungsbeamten in der Regel während ihrer Studien¬
jahre ihre sreie Zeit zu wichtigern Dingen haben verwenden müssen, als zum
Anhören kunstgeschichtlicher Vorträge. So erschien denn eines schönen Tages
ein höherer Beamter des Kultusministeriums im Kupferstichkabinett und ver¬
langte die Entfernung der betreffenden Radirung. Warum derselbe Beamte
nicht gleichzeitig in der Glyptothek, im Gipsmuseum unter den Arkaden und
in der ältern Pinakothek erschienen ist, um dort eine Razzin nach Nuditäten
vorzunehmen, wissen wir nicht. Wahrscheinlich sind diese Sammlungen den
Beamten des Ministeriums nicht in dem Maße bekannt, daß sie sich erinnerten,
auch dort einige Darstellungen nackter Menschen gesehen zu haben, die einen
prüde" Beobachter allenfalls in den Harnisch bringen könnten. Man hat in den
Ministerien so viel andres zu thun, daß man nicht dazu kommt, Kunstsamm-
lungen zit besuchen. Auch die Nudität im königlichen Kupferstichkabinett war
dem betreffenden Ministerialbeamten, zumal da sie an einem ganz versteckte"
Platze hing, nicht von selbst aufgefallen, sondern er mußte sie sich erst zeigen lassen,
ehe er daran Anstoß nehmen konnte. Man muß also wohl vermute", daß er von
gewisser Seite darauf aufmerksam gemacht worden ist. Kurz und gut, das Blatt
mußte entfernt werden und ist auch -- trotz des falschen Dementis, das nachher
in den Zeitungen kam -- nicht wieder aufgehängt worden. Der Herr Mi¬
nister erschien sogar eines Morgens vor nenn Uhr persönlich im Kupferstich¬
kabinett, um sich dort längere Zeit mit dem Direktor über die Angelegenheit
zu unterhalten. Wahrscheinlich hat man darüber beraten, welches Blatt an
seine Stelle zu setzen, gewissermaßen als Feigenblatt zu benutzen wäre. Die
Wahl fiel auf die' bekannte Nadiruug von Geyger, eine Gesellschaft von Affen,
die ein kleines nacktes Kind betrachten, eine Satire auf -- die Darwinsche
Deszendenzlehre. Wir wissen aus sicherster Quelle, daß die Auswahl dieses
Blattes keine Beziehung zu den Vorgängen hat, die zu seiner Aufhängung
Veranlassung gegeben haben.

Nun der zweite Fall. Am Tage nachdem man dem Direktor des Kupfer-


Gnnizbotc" IV 1895 39
Kunst und Polizei

des nackten menschlichen Körpers niemals für anstößig gehalten, im Gegenteil
immer als die höchste und vornehmste Aufgabe der Kunst betrachtet worden,
abgesehen natürlich von religiösen Bildern, bei denen andre Gesichtspunkte
maßgebend sind, überhaupt der Gegenstand vom Künstler nicht frei gewählt
wird. Aber selbst in der religiösen Kunst ist man, wie jede Sammlung von
Abgüssen alter Bildwerke zeigt, vor der völligen Nacktheit nicht immer zurück¬
geschreckt. Hat doch auch Michelangelo in Rom, unmittelbar unter den Auge»
des Papstes, seinen Christus in S. Maria sopra Minerva nackt dargestellt und
in der Hauskapelle des päpstlichen Palastes selbst die Heiligen des jüngsten
Gerichts splitternackt gemalt.

Derartige Dinge scheinen nun im königlich bairischen Kultusministerium
nicht bekannt zu sein, was jn nicht Wunder nehmen kann, wenn man bedenkt,
daß unsre höher« Verwaltungsbeamten in der Regel während ihrer Studien¬
jahre ihre sreie Zeit zu wichtigern Dingen haben verwenden müssen, als zum
Anhören kunstgeschichtlicher Vorträge. So erschien denn eines schönen Tages
ein höherer Beamter des Kultusministeriums im Kupferstichkabinett und ver¬
langte die Entfernung der betreffenden Radirung. Warum derselbe Beamte
nicht gleichzeitig in der Glyptothek, im Gipsmuseum unter den Arkaden und
in der ältern Pinakothek erschienen ist, um dort eine Razzin nach Nuditäten
vorzunehmen, wissen wir nicht. Wahrscheinlich sind diese Sammlungen den
Beamten des Ministeriums nicht in dem Maße bekannt, daß sie sich erinnerten,
auch dort einige Darstellungen nackter Menschen gesehen zu haben, die einen
prüde» Beobachter allenfalls in den Harnisch bringen könnten. Man hat in den
Ministerien so viel andres zu thun, daß man nicht dazu kommt, Kunstsamm-
lungen zit besuchen. Auch die Nudität im königlichen Kupferstichkabinett war
dem betreffenden Ministerialbeamten, zumal da sie an einem ganz versteckte»
Platze hing, nicht von selbst aufgefallen, sondern er mußte sie sich erst zeigen lassen,
ehe er daran Anstoß nehmen konnte. Man muß also wohl vermute», daß er von
gewisser Seite darauf aufmerksam gemacht worden ist. Kurz und gut, das Blatt
mußte entfernt werden und ist auch — trotz des falschen Dementis, das nachher
in den Zeitungen kam — nicht wieder aufgehängt worden. Der Herr Mi¬
nister erschien sogar eines Morgens vor nenn Uhr persönlich im Kupferstich¬
kabinett, um sich dort längere Zeit mit dem Direktor über die Angelegenheit
zu unterhalten. Wahrscheinlich hat man darüber beraten, welches Blatt an
seine Stelle zu setzen, gewissermaßen als Feigenblatt zu benutzen wäre. Die
Wahl fiel auf die' bekannte Nadiruug von Geyger, eine Gesellschaft von Affen,
die ein kleines nacktes Kind betrachten, eine Satire auf — die Darwinsche
Deszendenzlehre. Wir wissen aus sicherster Quelle, daß die Auswahl dieses
Blattes keine Beziehung zu den Vorgängen hat, die zu seiner Aufhängung
Veranlassung gegeben haben.

Nun der zweite Fall. Am Tage nachdem man dem Direktor des Kupfer-


Gnnizbotc» IV 1895 39
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[0233] Kunst und Polizei des nackten menschlichen Körpers niemals für anstößig gehalten, im Gegenteil immer als die höchste und vornehmste Aufgabe der Kunst betrachtet worden, abgesehen natürlich von religiösen Bildern, bei denen andre Gesichtspunkte maßgebend sind, überhaupt der Gegenstand vom Künstler nicht frei gewählt wird. Aber selbst in der religiösen Kunst ist man, wie jede Sammlung von Abgüssen alter Bildwerke zeigt, vor der völligen Nacktheit nicht immer zurück¬ geschreckt. Hat doch auch Michelangelo in Rom, unmittelbar unter den Auge» des Papstes, seinen Christus in S. Maria sopra Minerva nackt dargestellt und in der Hauskapelle des päpstlichen Palastes selbst die Heiligen des jüngsten Gerichts splitternackt gemalt. Derartige Dinge scheinen nun im königlich bairischen Kultusministerium nicht bekannt zu sein, was jn nicht Wunder nehmen kann, wenn man bedenkt, daß unsre höher« Verwaltungsbeamten in der Regel während ihrer Studien¬ jahre ihre sreie Zeit zu wichtigern Dingen haben verwenden müssen, als zum Anhören kunstgeschichtlicher Vorträge. So erschien denn eines schönen Tages ein höherer Beamter des Kultusministeriums im Kupferstichkabinett und ver¬ langte die Entfernung der betreffenden Radirung. Warum derselbe Beamte nicht gleichzeitig in der Glyptothek, im Gipsmuseum unter den Arkaden und in der ältern Pinakothek erschienen ist, um dort eine Razzin nach Nuditäten vorzunehmen, wissen wir nicht. Wahrscheinlich sind diese Sammlungen den Beamten des Ministeriums nicht in dem Maße bekannt, daß sie sich erinnerten, auch dort einige Darstellungen nackter Menschen gesehen zu haben, die einen prüde» Beobachter allenfalls in den Harnisch bringen könnten. Man hat in den Ministerien so viel andres zu thun, daß man nicht dazu kommt, Kunstsamm- lungen zit besuchen. Auch die Nudität im königlichen Kupferstichkabinett war dem betreffenden Ministerialbeamten, zumal da sie an einem ganz versteckte» Platze hing, nicht von selbst aufgefallen, sondern er mußte sie sich erst zeigen lassen, ehe er daran Anstoß nehmen konnte. Man muß also wohl vermute», daß er von gewisser Seite darauf aufmerksam gemacht worden ist. Kurz und gut, das Blatt mußte entfernt werden und ist auch — trotz des falschen Dementis, das nachher in den Zeitungen kam — nicht wieder aufgehängt worden. Der Herr Mi¬ nister erschien sogar eines Morgens vor nenn Uhr persönlich im Kupferstich¬ kabinett, um sich dort längere Zeit mit dem Direktor über die Angelegenheit zu unterhalten. Wahrscheinlich hat man darüber beraten, welches Blatt an seine Stelle zu setzen, gewissermaßen als Feigenblatt zu benutzen wäre. Die Wahl fiel auf die' bekannte Nadiruug von Geyger, eine Gesellschaft von Affen, die ein kleines nacktes Kind betrachten, eine Satire auf — die Darwinsche Deszendenzlehre. Wir wissen aus sicherster Quelle, daß die Auswahl dieses Blattes keine Beziehung zu den Vorgängen hat, die zu seiner Aufhängung Veranlassung gegeben haben. Nun der zweite Fall. Am Tage nachdem man dem Direktor des Kupfer- Gnnizbotc» IV 1895 39

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/233>, abgerufen am 25.07.2024.