Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Heimen und volkstum

meiner Jugend malade gelesen habe. Da sie nicht "ausmalen," sind sie meist
anständiger als die extrem-naturalistischen Werke, aber das Bild der Welt,
das sie bieten, ist trotzdem imstande, die Phantasie, die es aufnimmt, und noch
andres nach und nach vollständig zu zerrütten. Manche Leser lieben sie so
sehr, daß sie sie einbinden lassen und in ihre Bibliothek stellen, auch führen
sie viele Leihbibliotheken, was einfach nicht geduldet werden sollte. Ich für
meine Person hätte gegen die Einführung einer ästhetischen Zensur, der alle
in Lieferungen und durch die Zeitung zu verbreitenden Romane wie die auf
den Bahnhöfen zu kaufende Lektüre vorgelegt werden müßten, nicht nur nichts
einzuwenden, sondern ich halte sie für das einzige Mittel, dem Unheil zu
steuern. Auch wäre die Einrichtung der Zensur ziemlich einfach, da z. B. der
Vertrieb der meisten Zeitungsromane in der Hauptsache durch eine kleine An¬
zahl von Agenturen geschieht. Ob dann die deutschen Romane viel besser
würden, ist freilich die Frage; jedenfalls würde das ganz Verderbliche fern
gehalten werden. Daß das Volk gern bessere Kost annehmen würde, unter¬
liegt für mich keinem Zweifel, namentlich geschichtliche Romane und Erzäh¬
lungen, zumal wenn sie in der Heimat der Leser spielten, würden willkommen
sein. Wir haben ja auch eine große Anzahl geschichtlicher Romane, aber sie
sind, von ihrem dichterischen Wert ganz abgesehen, meist nicht genug lokalisirt,
hier wäre also noch manches zu thun, was auch der Erstarkung der Heimat¬
liebe zu gute kommen würde. Meister wie Wilibald Alexis würde nicht so¬
bald jedes deutsche Laud aufweisen können, aber auch bescheidnere Talente
könnten hier immerhin Ansprechendes leisten. Viel gewonnen wäre auch schon,
wenn nur die Zeitungen das vorhandne in regelmäßigen Zwischenräumen wieder
abdrucken wollten.

Aber ich glaube, man weiß nicht einmal recht, was vorhanden ist, hier
harren der Litteraturgeschichte, die nun doch mit der Durchforschung des Lebens
unsrer Großen und der Textkritik der Klassiker einigermaßen fertig sein sollte,
noch hübsche Aufgaben, für die sie bei allen Gebildeten Interesse voraussetzen
könnte. Noch ist die provinzielle Litteraturgeschichte, wenn ich so sagen darf,
ein wenig angebautes Feld, es sind nicht einmal Anthologien der Dichtung
aller deutschen Stämme da; wenigstens ist mir nur eine einzige bekannt, die
billigen Anforderungen einigermaßen genügt, die der baltischen Dichtung von
dem Freiherrn von Grothuß. Und doch giebt es unter den nicht zu allge¬
meiner Berühmtheit gelangten deutschen Dichtern eine ganze Anzahl echter, wenn
auch beschränkter Talente, ferner gewinnen die aus der allgemeinen Litteratur¬
geschichte bekannten oft eine andre Stellung, sie werden verstündlicher, wenn
man sie in Zusammenhang mit den übrigen heimischen Talenten betrachtet,
und endlich ist es von großem Reiz, den Einfluß der "führenden Geister" auf
die kleinern im einzelnen zu verfolgen und zu erkennen, wie die litterarischen
Flutwellen, manchmal sehr allmählich, bis in das fernste Gebiet deutschen


Heimen und volkstum

meiner Jugend malade gelesen habe. Da sie nicht „ausmalen," sind sie meist
anständiger als die extrem-naturalistischen Werke, aber das Bild der Welt,
das sie bieten, ist trotzdem imstande, die Phantasie, die es aufnimmt, und noch
andres nach und nach vollständig zu zerrütten. Manche Leser lieben sie so
sehr, daß sie sie einbinden lassen und in ihre Bibliothek stellen, auch führen
sie viele Leihbibliotheken, was einfach nicht geduldet werden sollte. Ich für
meine Person hätte gegen die Einführung einer ästhetischen Zensur, der alle
in Lieferungen und durch die Zeitung zu verbreitenden Romane wie die auf
den Bahnhöfen zu kaufende Lektüre vorgelegt werden müßten, nicht nur nichts
einzuwenden, sondern ich halte sie für das einzige Mittel, dem Unheil zu
steuern. Auch wäre die Einrichtung der Zensur ziemlich einfach, da z. B. der
Vertrieb der meisten Zeitungsromane in der Hauptsache durch eine kleine An¬
zahl von Agenturen geschieht. Ob dann die deutschen Romane viel besser
würden, ist freilich die Frage; jedenfalls würde das ganz Verderbliche fern
gehalten werden. Daß das Volk gern bessere Kost annehmen würde, unter¬
liegt für mich keinem Zweifel, namentlich geschichtliche Romane und Erzäh¬
lungen, zumal wenn sie in der Heimat der Leser spielten, würden willkommen
sein. Wir haben ja auch eine große Anzahl geschichtlicher Romane, aber sie
sind, von ihrem dichterischen Wert ganz abgesehen, meist nicht genug lokalisirt,
hier wäre also noch manches zu thun, was auch der Erstarkung der Heimat¬
liebe zu gute kommen würde. Meister wie Wilibald Alexis würde nicht so¬
bald jedes deutsche Laud aufweisen können, aber auch bescheidnere Talente
könnten hier immerhin Ansprechendes leisten. Viel gewonnen wäre auch schon,
wenn nur die Zeitungen das vorhandne in regelmäßigen Zwischenräumen wieder
abdrucken wollten.

Aber ich glaube, man weiß nicht einmal recht, was vorhanden ist, hier
harren der Litteraturgeschichte, die nun doch mit der Durchforschung des Lebens
unsrer Großen und der Textkritik der Klassiker einigermaßen fertig sein sollte,
noch hübsche Aufgaben, für die sie bei allen Gebildeten Interesse voraussetzen
könnte. Noch ist die provinzielle Litteraturgeschichte, wenn ich so sagen darf,
ein wenig angebautes Feld, es sind nicht einmal Anthologien der Dichtung
aller deutschen Stämme da; wenigstens ist mir nur eine einzige bekannt, die
billigen Anforderungen einigermaßen genügt, die der baltischen Dichtung von
dem Freiherrn von Grothuß. Und doch giebt es unter den nicht zu allge¬
meiner Berühmtheit gelangten deutschen Dichtern eine ganze Anzahl echter, wenn
auch beschränkter Talente, ferner gewinnen die aus der allgemeinen Litteratur¬
geschichte bekannten oft eine andre Stellung, sie werden verstündlicher, wenn
man sie in Zusammenhang mit den übrigen heimischen Talenten betrachtet,
und endlich ist es von großem Reiz, den Einfluß der „führenden Geister" auf
die kleinern im einzelnen zu verfolgen und zu erkennen, wie die litterarischen
Flutwellen, manchmal sehr allmählich, bis in das fernste Gebiet deutschen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0230" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221206"/>
          <fw type="header" place="top"> Heimen und volkstum</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_681" prev="#ID_680"> meiner Jugend malade gelesen habe. Da sie nicht &#x201E;ausmalen," sind sie meist<lb/>
anständiger als die extrem-naturalistischen Werke, aber das Bild der Welt,<lb/>
das sie bieten, ist trotzdem imstande, die Phantasie, die es aufnimmt, und noch<lb/>
andres nach und nach vollständig zu zerrütten. Manche Leser lieben sie so<lb/>
sehr, daß sie sie einbinden lassen und in ihre Bibliothek stellen, auch führen<lb/>
sie viele Leihbibliotheken, was einfach nicht geduldet werden sollte. Ich für<lb/>
meine Person hätte gegen die Einführung einer ästhetischen Zensur, der alle<lb/>
in Lieferungen und durch die Zeitung zu verbreitenden Romane wie die auf<lb/>
den Bahnhöfen zu kaufende Lektüre vorgelegt werden müßten, nicht nur nichts<lb/>
einzuwenden, sondern ich halte sie für das einzige Mittel, dem Unheil zu<lb/>
steuern. Auch wäre die Einrichtung der Zensur ziemlich einfach, da z. B. der<lb/>
Vertrieb der meisten Zeitungsromane in der Hauptsache durch eine kleine An¬<lb/>
zahl von Agenturen geschieht. Ob dann die deutschen Romane viel besser<lb/>
würden, ist freilich die Frage; jedenfalls würde das ganz Verderbliche fern<lb/>
gehalten werden. Daß das Volk gern bessere Kost annehmen würde, unter¬<lb/>
liegt für mich keinem Zweifel, namentlich geschichtliche Romane und Erzäh¬<lb/>
lungen, zumal wenn sie in der Heimat der Leser spielten, würden willkommen<lb/>
sein. Wir haben ja auch eine große Anzahl geschichtlicher Romane, aber sie<lb/>
sind, von ihrem dichterischen Wert ganz abgesehen, meist nicht genug lokalisirt,<lb/>
hier wäre also noch manches zu thun, was auch der Erstarkung der Heimat¬<lb/>
liebe zu gute kommen würde. Meister wie Wilibald Alexis würde nicht so¬<lb/>
bald jedes deutsche Laud aufweisen können, aber auch bescheidnere Talente<lb/>
könnten hier immerhin Ansprechendes leisten. Viel gewonnen wäre auch schon,<lb/>
wenn nur die Zeitungen das vorhandne in regelmäßigen Zwischenräumen wieder<lb/>
abdrucken wollten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_682" next="#ID_683"> Aber ich glaube, man weiß nicht einmal recht, was vorhanden ist, hier<lb/>
harren der Litteraturgeschichte, die nun doch mit der Durchforschung des Lebens<lb/>
unsrer Großen und der Textkritik der Klassiker einigermaßen fertig sein sollte,<lb/>
noch hübsche Aufgaben, für die sie bei allen Gebildeten Interesse voraussetzen<lb/>
könnte. Noch ist die provinzielle Litteraturgeschichte, wenn ich so sagen darf,<lb/>
ein wenig angebautes Feld, es sind nicht einmal Anthologien der Dichtung<lb/>
aller deutschen Stämme da; wenigstens ist mir nur eine einzige bekannt, die<lb/>
billigen Anforderungen einigermaßen genügt, die der baltischen Dichtung von<lb/>
dem Freiherrn von Grothuß. Und doch giebt es unter den nicht zu allge¬<lb/>
meiner Berühmtheit gelangten deutschen Dichtern eine ganze Anzahl echter, wenn<lb/>
auch beschränkter Talente, ferner gewinnen die aus der allgemeinen Litteratur¬<lb/>
geschichte bekannten oft eine andre Stellung, sie werden verstündlicher, wenn<lb/>
man sie in Zusammenhang mit den übrigen heimischen Talenten betrachtet,<lb/>
und endlich ist es von großem Reiz, den Einfluß der &#x201E;führenden Geister" auf<lb/>
die kleinern im einzelnen zu verfolgen und zu erkennen, wie die litterarischen<lb/>
Flutwellen, manchmal sehr allmählich, bis in das fernste Gebiet deutschen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0230] Heimen und volkstum meiner Jugend malade gelesen habe. Da sie nicht „ausmalen," sind sie meist anständiger als die extrem-naturalistischen Werke, aber das Bild der Welt, das sie bieten, ist trotzdem imstande, die Phantasie, die es aufnimmt, und noch andres nach und nach vollständig zu zerrütten. Manche Leser lieben sie so sehr, daß sie sie einbinden lassen und in ihre Bibliothek stellen, auch führen sie viele Leihbibliotheken, was einfach nicht geduldet werden sollte. Ich für meine Person hätte gegen die Einführung einer ästhetischen Zensur, der alle in Lieferungen und durch die Zeitung zu verbreitenden Romane wie die auf den Bahnhöfen zu kaufende Lektüre vorgelegt werden müßten, nicht nur nichts einzuwenden, sondern ich halte sie für das einzige Mittel, dem Unheil zu steuern. Auch wäre die Einrichtung der Zensur ziemlich einfach, da z. B. der Vertrieb der meisten Zeitungsromane in der Hauptsache durch eine kleine An¬ zahl von Agenturen geschieht. Ob dann die deutschen Romane viel besser würden, ist freilich die Frage; jedenfalls würde das ganz Verderbliche fern gehalten werden. Daß das Volk gern bessere Kost annehmen würde, unter¬ liegt für mich keinem Zweifel, namentlich geschichtliche Romane und Erzäh¬ lungen, zumal wenn sie in der Heimat der Leser spielten, würden willkommen sein. Wir haben ja auch eine große Anzahl geschichtlicher Romane, aber sie sind, von ihrem dichterischen Wert ganz abgesehen, meist nicht genug lokalisirt, hier wäre also noch manches zu thun, was auch der Erstarkung der Heimat¬ liebe zu gute kommen würde. Meister wie Wilibald Alexis würde nicht so¬ bald jedes deutsche Laud aufweisen können, aber auch bescheidnere Talente könnten hier immerhin Ansprechendes leisten. Viel gewonnen wäre auch schon, wenn nur die Zeitungen das vorhandne in regelmäßigen Zwischenräumen wieder abdrucken wollten. Aber ich glaube, man weiß nicht einmal recht, was vorhanden ist, hier harren der Litteraturgeschichte, die nun doch mit der Durchforschung des Lebens unsrer Großen und der Textkritik der Klassiker einigermaßen fertig sein sollte, noch hübsche Aufgaben, für die sie bei allen Gebildeten Interesse voraussetzen könnte. Noch ist die provinzielle Litteraturgeschichte, wenn ich so sagen darf, ein wenig angebautes Feld, es sind nicht einmal Anthologien der Dichtung aller deutschen Stämme da; wenigstens ist mir nur eine einzige bekannt, die billigen Anforderungen einigermaßen genügt, die der baltischen Dichtung von dem Freiherrn von Grothuß. Und doch giebt es unter den nicht zu allge¬ meiner Berühmtheit gelangten deutschen Dichtern eine ganze Anzahl echter, wenn auch beschränkter Talente, ferner gewinnen die aus der allgemeinen Litteratur¬ geschichte bekannten oft eine andre Stellung, sie werden verstündlicher, wenn man sie in Zusammenhang mit den übrigen heimischen Talenten betrachtet, und endlich ist es von großem Reiz, den Einfluß der „führenden Geister" auf die kleinern im einzelnen zu verfolgen und zu erkennen, wie die litterarischen Flutwellen, manchmal sehr allmählich, bis in das fernste Gebiet deutschen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/230
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/230>, abgerufen am 24.07.2024.