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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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meist von "Damen" geschriebnen modernen Kuustmärche" lebendig zu erhalten!
Seit der Freigebung der Grinimscheii Märchen ist jn die Möglichkeit vor¬
handen^ die beste Sammlung in jedes Haus zu bringe", und wenn auch der
mythologische Hintergrund der Märchen im Volke längst nicht mehr empfunden
wird, ihr poetischer Gehalt sollte doch, meine ich, dem Ansturm der Gegen¬
wart noch auf lauge Zeit gewachsen sein. Was aber die Lokalsagen betrifft,
so sollte man sie, ähnlich wie die geschichtlichen Erinnerungen, immer wieder
auffrischen; ihre Bedeutung ist annähernd dieselbe, und die Stärkung des Heimat¬
gefühls durch sie unzweifelhaft. Die meisten sind durch mehr oder minder gute
Dichter in Verse gebracht, und wenn ich auch die poetische Form für weniger
zweckentsprechend halte als die alte, schlichte prosaische aus dem Nolksmuude,
so kann sie doch auch ihren Dienst thun, und Sammlungen solcher Bearbei¬
tungen, nach Länder" geordnet, wie sie wohl hin und wieder vorhanden sind,
können einen guten Einfluß üben.

Hier will ich auch gleich die Bedeutung der Poesie überhaupt im moderne"
Volksleben mit ein paar Worten beleuchten. Wie das Volksmärchen, so ist
auch das Volkslied heute im ganzen tot; wo noch Volkslieder gesungen werden,
da sind sie meist durch die Schule und deu Gesangverein, durch Vermittlung
also von Litteratur "ut Musik, zum Volke zurückgelangt. Doch machen einige
Gegenden Deutschlands eine Ausnahme, ja es entstehen wohl noch Volkslieder,
namentlich Soldatenlieder, aber diese sind meist von geringem Wert, ja ge¬
radezu roh. Leider ist auch der Versuch, die Volkslieder ius Volk zurückzu¬
bringen, nicht recht gelungen; was am meisten gesungen wird, sind von gro߬
städtischen Winkelpoeten, Tingeltangelkomikern gedichtete und durch Drehorgeln
überallhin verbreitete Gassenhauer, Kouplets auf Operettenmelodien, oft auch
die ursprünglichen oder verdorbnen Texte dazu. Daneben erhält sich freilich
eine beschränkte Anzahl "anständiger" Lieder, meist nicht echte Volkslieder,
sondern Lieder von Knnstpoeten, wie Heines "Loreley." Als Kind hörte ich
"och sehr viele der Lieder, die in Wustmcmus Sammlung "Als der Gro߬
vater die Großmutter nahm" Aufnahme gefunden haben, aber jetzt sind sie
wohl auch verstummt. Die weitern poetischen Bedürfnisse des Volks befrie¬
digen der Zeitungs- und der Kolportageroman. Den Kolpvrtageroman haben
die Zeitungen stets in hellster Entrüstung verdammt, aber was sie unterm
Strich bringen, ist auch nicht viel besser, mögen es nun, wie bei allen General¬
anzeigern, Sensations- oder fade Liebesromane sein. Mit welcher Wut sich
das Volk auf die Sensationsromane stürzt, beweist z. B. der Erfolg eines neu¬
gegründeten Blattes, natürlich eines Generalanzeigers, mit einem Pariser
Schauerroman "Die Krallenhand," der ihm nicht weniger als fünfzehntausend
Abonnenten einbrachte. Die Leute waren, wie ich mehrfach habe beobachten
können, wie verrückt auf die "Krallenhand." Ähnliche Wirkungen erreichen die
Hintertreppenromane, von denen ich aus Erfahrung sprechen kann, da ich in


meist von „Damen" geschriebnen modernen Kuustmärche» lebendig zu erhalten!
Seit der Freigebung der Grinimscheii Märchen ist jn die Möglichkeit vor¬
handen^ die beste Sammlung in jedes Haus zu bringe», und wenn auch der
mythologische Hintergrund der Märchen im Volke längst nicht mehr empfunden
wird, ihr poetischer Gehalt sollte doch, meine ich, dem Ansturm der Gegen¬
wart noch auf lauge Zeit gewachsen sein. Was aber die Lokalsagen betrifft,
so sollte man sie, ähnlich wie die geschichtlichen Erinnerungen, immer wieder
auffrischen; ihre Bedeutung ist annähernd dieselbe, und die Stärkung des Heimat¬
gefühls durch sie unzweifelhaft. Die meisten sind durch mehr oder minder gute
Dichter in Verse gebracht, und wenn ich auch die poetische Form für weniger
zweckentsprechend halte als die alte, schlichte prosaische aus dem Nolksmuude,
so kann sie doch auch ihren Dienst thun, und Sammlungen solcher Bearbei¬
tungen, nach Länder» geordnet, wie sie wohl hin und wieder vorhanden sind,
können einen guten Einfluß üben.

Hier will ich auch gleich die Bedeutung der Poesie überhaupt im moderne»
Volksleben mit ein paar Worten beleuchten. Wie das Volksmärchen, so ist
auch das Volkslied heute im ganzen tot; wo noch Volkslieder gesungen werden,
da sind sie meist durch die Schule und deu Gesangverein, durch Vermittlung
also von Litteratur »ut Musik, zum Volke zurückgelangt. Doch machen einige
Gegenden Deutschlands eine Ausnahme, ja es entstehen wohl noch Volkslieder,
namentlich Soldatenlieder, aber diese sind meist von geringem Wert, ja ge¬
radezu roh. Leider ist auch der Versuch, die Volkslieder ius Volk zurückzu¬
bringen, nicht recht gelungen; was am meisten gesungen wird, sind von gro߬
städtischen Winkelpoeten, Tingeltangelkomikern gedichtete und durch Drehorgeln
überallhin verbreitete Gassenhauer, Kouplets auf Operettenmelodien, oft auch
die ursprünglichen oder verdorbnen Texte dazu. Daneben erhält sich freilich
eine beschränkte Anzahl „anständiger" Lieder, meist nicht echte Volkslieder,
sondern Lieder von Knnstpoeten, wie Heines „Loreley." Als Kind hörte ich
»och sehr viele der Lieder, die in Wustmcmus Sammlung „Als der Gro߬
vater die Großmutter nahm" Aufnahme gefunden haben, aber jetzt sind sie
wohl auch verstummt. Die weitern poetischen Bedürfnisse des Volks befrie¬
digen der Zeitungs- und der Kolportageroman. Den Kolpvrtageroman haben
die Zeitungen stets in hellster Entrüstung verdammt, aber was sie unterm
Strich bringen, ist auch nicht viel besser, mögen es nun, wie bei allen General¬
anzeigern, Sensations- oder fade Liebesromane sein. Mit welcher Wut sich
das Volk auf die Sensationsromane stürzt, beweist z. B. der Erfolg eines neu¬
gegründeten Blattes, natürlich eines Generalanzeigers, mit einem Pariser
Schauerroman „Die Krallenhand," der ihm nicht weniger als fünfzehntausend
Abonnenten einbrachte. Die Leute waren, wie ich mehrfach habe beobachten
können, wie verrückt auf die „Krallenhand." Ähnliche Wirkungen erreichen die
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[0229] meist von „Damen" geschriebnen modernen Kuustmärche» lebendig zu erhalten! Seit der Freigebung der Grinimscheii Märchen ist jn die Möglichkeit vor¬ handen^ die beste Sammlung in jedes Haus zu bringe», und wenn auch der mythologische Hintergrund der Märchen im Volke längst nicht mehr empfunden wird, ihr poetischer Gehalt sollte doch, meine ich, dem Ansturm der Gegen¬ wart noch auf lauge Zeit gewachsen sein. Was aber die Lokalsagen betrifft, so sollte man sie, ähnlich wie die geschichtlichen Erinnerungen, immer wieder auffrischen; ihre Bedeutung ist annähernd dieselbe, und die Stärkung des Heimat¬ gefühls durch sie unzweifelhaft. Die meisten sind durch mehr oder minder gute Dichter in Verse gebracht, und wenn ich auch die poetische Form für weniger zweckentsprechend halte als die alte, schlichte prosaische aus dem Nolksmuude, so kann sie doch auch ihren Dienst thun, und Sammlungen solcher Bearbei¬ tungen, nach Länder» geordnet, wie sie wohl hin und wieder vorhanden sind, können einen guten Einfluß üben. Hier will ich auch gleich die Bedeutung der Poesie überhaupt im moderne» Volksleben mit ein paar Worten beleuchten. Wie das Volksmärchen, so ist auch das Volkslied heute im ganzen tot; wo noch Volkslieder gesungen werden, da sind sie meist durch die Schule und deu Gesangverein, durch Vermittlung also von Litteratur »ut Musik, zum Volke zurückgelangt. Doch machen einige Gegenden Deutschlands eine Ausnahme, ja es entstehen wohl noch Volkslieder, namentlich Soldatenlieder, aber diese sind meist von geringem Wert, ja ge¬ radezu roh. Leider ist auch der Versuch, die Volkslieder ius Volk zurückzu¬ bringen, nicht recht gelungen; was am meisten gesungen wird, sind von gro߬ städtischen Winkelpoeten, Tingeltangelkomikern gedichtete und durch Drehorgeln überallhin verbreitete Gassenhauer, Kouplets auf Operettenmelodien, oft auch die ursprünglichen oder verdorbnen Texte dazu. Daneben erhält sich freilich eine beschränkte Anzahl „anständiger" Lieder, meist nicht echte Volkslieder, sondern Lieder von Knnstpoeten, wie Heines „Loreley." Als Kind hörte ich »och sehr viele der Lieder, die in Wustmcmus Sammlung „Als der Gro߬ vater die Großmutter nahm" Aufnahme gefunden haben, aber jetzt sind sie wohl auch verstummt. Die weitern poetischen Bedürfnisse des Volks befrie¬ digen der Zeitungs- und der Kolportageroman. Den Kolpvrtageroman haben die Zeitungen stets in hellster Entrüstung verdammt, aber was sie unterm Strich bringen, ist auch nicht viel besser, mögen es nun, wie bei allen General¬ anzeigern, Sensations- oder fade Liebesromane sein. Mit welcher Wut sich das Volk auf die Sensationsromane stürzt, beweist z. B. der Erfolg eines neu¬ gegründeten Blattes, natürlich eines Generalanzeigers, mit einem Pariser Schauerroman „Die Krallenhand," der ihm nicht weniger als fünfzehntausend Abonnenten einbrachte. Die Leute waren, wie ich mehrfach habe beobachten können, wie verrückt auf die „Krallenhand." Ähnliche Wirkungen erreichen die Hintertreppenromane, von denen ich aus Erfahrung sprechen kann, da ich in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/229>, abgerufen am 24.07.2024.