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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Heimat und volkstum

Statue steht, durchaus in Lessingplatz umlaufen wollte. Als ob so ein jahr¬
hundertealter Marktname nicht sein gutes Recht hatte, und die Verbindung
der Namen Lessing und Gänsemarkt etwa Zweifel an der Bildung der Ham¬
burger erwecken könnte! Denn das fürchtete man doch wohl. Man schleppt
zwar jetzt alle möglichen Merkwürdigkeiten in die städtischen Museen, aber
welche Bedeutung haben sie dort für das Volk? Doch ist wohl kaum zu
hoffen, daß der altertümliche Charakter unsrer großen Städte erhalten bleibt;
mau bemalt die Häuserwände lieber mit Reklamen als mit Erinnerungs¬
inschriften. Fort mit der Geschichte! Unsre Zeit keimt nur noch eine Wissen¬
schaft, und das ist die Naturwissenschaft.

Ja, wenn sie sie nur kennte! Es klingt paradox, aber es ist unzweifelhaft
richtig, daß in unserm Zeitalter der naturwissenschaftlichen Bildung beim Volke
wie bei den Gebildeten die Kenntnis der Natur, die aus eigner Anschauung
gewonnen wird, sehr zurückgegangen ist. Mit der naturwissenschaftlichen Heimat¬
kunde steht es nicht besser als mit der geschichtlichen, eben weil unsre Kultur
städtisch geworden ist und man trotz aller Ausflüge und Reisen nur noch wenig
mit der Natur lebt. Die modernen Touristen spreizen sich freilich alle ge¬
waltig mit ihrer Frende an der Natur und kommen sich selber als halbe
Naturforscher vor, und auch die Radfahrer reden gern von Naturgenuß, aber
bei beiden Sports entwickelt sich im allgemeinen nichts weniger als Natur¬
kunde; der ruhige Wandrer und der harmlose Spaziergänger von ehedem kamen
der Natur weit näher. Höchstens mag die Kenntnis der Terrainverhältnisse
der Landschaften heute etwas größer geworden sein, da mehr Gelegenheit ist,
sie in der Gesamtheit kennen zu lernen, im einzelnen kennt man sie aber jetzt
sicher schlechter. Unsre Schulen treiben alle Zoologie und Botanik als Unter¬
richtsgegenstand, aber wie oft kann man erleben, daß selbst herangewachsene
Schüler weder die heimischen Singvögel noch die häufigsten Pflanzen, selbst
Bäume der Heimat zu benennen wissen! Die alten volkstümlichen Über¬
lieferungen über die Tier- und Pflanzenwelt, die, so fabelreich sie waren, doch
mit der Natur verbanden und zum Beobachten führten, sterben auch allmählich
aus, und der Tag wird nicht mehr so fern sein, wo sich das letzte Krüuter-
weib auf deutschem Boden zur Ruhe legt. Und doch, wenn unsre Lehrer ihre
Weisheit nicht bloß ans dem Buche holten, wenn sich auch die Eltern Mühe
gäben, noch einiges für ihre Kinder zu lernen, so wäre die Jugend bald wieder
in der heimischen Natur heimisch zu machen. Aber die Neigung der Zeit geht
trotz aller Naturschwärmerei und des Prunkens mit naturwissenschaftlicher
Bildung gar nicht auf die Kenntnis der Natur, man hat keine Zeit für sie.
Während die Proletarierkinder sriih mit verdienen müssen, werden die der
Wohlhabenden und Gebildeten durch die Beschäftigung mit andern Dingen so
sehr in Anspruch genommen, daß nur hin und wieder ein Spaziergang für sie
abfällt. Das fröhliche Herumschweifen in Wald und Feld schickt sich ja auch


Heimat und volkstum

Statue steht, durchaus in Lessingplatz umlaufen wollte. Als ob so ein jahr¬
hundertealter Marktname nicht sein gutes Recht hatte, und die Verbindung
der Namen Lessing und Gänsemarkt etwa Zweifel an der Bildung der Ham¬
burger erwecken könnte! Denn das fürchtete man doch wohl. Man schleppt
zwar jetzt alle möglichen Merkwürdigkeiten in die städtischen Museen, aber
welche Bedeutung haben sie dort für das Volk? Doch ist wohl kaum zu
hoffen, daß der altertümliche Charakter unsrer großen Städte erhalten bleibt;
mau bemalt die Häuserwände lieber mit Reklamen als mit Erinnerungs¬
inschriften. Fort mit der Geschichte! Unsre Zeit keimt nur noch eine Wissen¬
schaft, und das ist die Naturwissenschaft.

Ja, wenn sie sie nur kennte! Es klingt paradox, aber es ist unzweifelhaft
richtig, daß in unserm Zeitalter der naturwissenschaftlichen Bildung beim Volke
wie bei den Gebildeten die Kenntnis der Natur, die aus eigner Anschauung
gewonnen wird, sehr zurückgegangen ist. Mit der naturwissenschaftlichen Heimat¬
kunde steht es nicht besser als mit der geschichtlichen, eben weil unsre Kultur
städtisch geworden ist und man trotz aller Ausflüge und Reisen nur noch wenig
mit der Natur lebt. Die modernen Touristen spreizen sich freilich alle ge¬
waltig mit ihrer Frende an der Natur und kommen sich selber als halbe
Naturforscher vor, und auch die Radfahrer reden gern von Naturgenuß, aber
bei beiden Sports entwickelt sich im allgemeinen nichts weniger als Natur¬
kunde; der ruhige Wandrer und der harmlose Spaziergänger von ehedem kamen
der Natur weit näher. Höchstens mag die Kenntnis der Terrainverhältnisse
der Landschaften heute etwas größer geworden sein, da mehr Gelegenheit ist,
sie in der Gesamtheit kennen zu lernen, im einzelnen kennt man sie aber jetzt
sicher schlechter. Unsre Schulen treiben alle Zoologie und Botanik als Unter¬
richtsgegenstand, aber wie oft kann man erleben, daß selbst herangewachsene
Schüler weder die heimischen Singvögel noch die häufigsten Pflanzen, selbst
Bäume der Heimat zu benennen wissen! Die alten volkstümlichen Über¬
lieferungen über die Tier- und Pflanzenwelt, die, so fabelreich sie waren, doch
mit der Natur verbanden und zum Beobachten führten, sterben auch allmählich
aus, und der Tag wird nicht mehr so fern sein, wo sich das letzte Krüuter-
weib auf deutschem Boden zur Ruhe legt. Und doch, wenn unsre Lehrer ihre
Weisheit nicht bloß ans dem Buche holten, wenn sich auch die Eltern Mühe
gäben, noch einiges für ihre Kinder zu lernen, so wäre die Jugend bald wieder
in der heimischen Natur heimisch zu machen. Aber die Neigung der Zeit geht
trotz aller Naturschwärmerei und des Prunkens mit naturwissenschaftlicher
Bildung gar nicht auf die Kenntnis der Natur, man hat keine Zeit für sie.
Während die Proletarierkinder sriih mit verdienen müssen, werden die der
Wohlhabenden und Gebildeten durch die Beschäftigung mit andern Dingen so
sehr in Anspruch genommen, daß nur hin und wieder ein Spaziergang für sie
abfällt. Das fröhliche Herumschweifen in Wald und Feld schickt sich ja auch


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[0227] Heimat und volkstum Statue steht, durchaus in Lessingplatz umlaufen wollte. Als ob so ein jahr¬ hundertealter Marktname nicht sein gutes Recht hatte, und die Verbindung der Namen Lessing und Gänsemarkt etwa Zweifel an der Bildung der Ham¬ burger erwecken könnte! Denn das fürchtete man doch wohl. Man schleppt zwar jetzt alle möglichen Merkwürdigkeiten in die städtischen Museen, aber welche Bedeutung haben sie dort für das Volk? Doch ist wohl kaum zu hoffen, daß der altertümliche Charakter unsrer großen Städte erhalten bleibt; mau bemalt die Häuserwände lieber mit Reklamen als mit Erinnerungs¬ inschriften. Fort mit der Geschichte! Unsre Zeit keimt nur noch eine Wissen¬ schaft, und das ist die Naturwissenschaft. Ja, wenn sie sie nur kennte! Es klingt paradox, aber es ist unzweifelhaft richtig, daß in unserm Zeitalter der naturwissenschaftlichen Bildung beim Volke wie bei den Gebildeten die Kenntnis der Natur, die aus eigner Anschauung gewonnen wird, sehr zurückgegangen ist. Mit der naturwissenschaftlichen Heimat¬ kunde steht es nicht besser als mit der geschichtlichen, eben weil unsre Kultur städtisch geworden ist und man trotz aller Ausflüge und Reisen nur noch wenig mit der Natur lebt. Die modernen Touristen spreizen sich freilich alle ge¬ waltig mit ihrer Frende an der Natur und kommen sich selber als halbe Naturforscher vor, und auch die Radfahrer reden gern von Naturgenuß, aber bei beiden Sports entwickelt sich im allgemeinen nichts weniger als Natur¬ kunde; der ruhige Wandrer und der harmlose Spaziergänger von ehedem kamen der Natur weit näher. Höchstens mag die Kenntnis der Terrainverhältnisse der Landschaften heute etwas größer geworden sein, da mehr Gelegenheit ist, sie in der Gesamtheit kennen zu lernen, im einzelnen kennt man sie aber jetzt sicher schlechter. Unsre Schulen treiben alle Zoologie und Botanik als Unter¬ richtsgegenstand, aber wie oft kann man erleben, daß selbst herangewachsene Schüler weder die heimischen Singvögel noch die häufigsten Pflanzen, selbst Bäume der Heimat zu benennen wissen! Die alten volkstümlichen Über¬ lieferungen über die Tier- und Pflanzenwelt, die, so fabelreich sie waren, doch mit der Natur verbanden und zum Beobachten führten, sterben auch allmählich aus, und der Tag wird nicht mehr so fern sein, wo sich das letzte Krüuter- weib auf deutschem Boden zur Ruhe legt. Und doch, wenn unsre Lehrer ihre Weisheit nicht bloß ans dem Buche holten, wenn sich auch die Eltern Mühe gäben, noch einiges für ihre Kinder zu lernen, so wäre die Jugend bald wieder in der heimischen Natur heimisch zu machen. Aber die Neigung der Zeit geht trotz aller Naturschwärmerei und des Prunkens mit naturwissenschaftlicher Bildung gar nicht auf die Kenntnis der Natur, man hat keine Zeit für sie. Während die Proletarierkinder sriih mit verdienen müssen, werden die der Wohlhabenden und Gebildeten durch die Beschäftigung mit andern Dingen so sehr in Anspruch genommen, daß nur hin und wieder ein Spaziergang für sie abfällt. Das fröhliche Herumschweifen in Wald und Feld schickt sich ja auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/227>, abgerufen am 24.07.2024.