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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Heimat und volkstum

geblieben, und so haben wir zwar eine große Weltgeschichte in Einzeldarstel¬
lungen, aber eine deutsche Geschichte in solchen, soviel ich weiß, nicht, und
wer die Geschichte der deutsche" Lande kennen lernen will, ist oft genug ge¬
nötigt, zu Schriftstellern des vorigen Jahrhunderts zurückzugreifen. Von volks¬
tümlichen Darstellungen will ich nicht einmal reden, die hält man in Dentsch-
land heute überhaupt für unter der Würde des Gelehrten und überläßt sie
strebsamen Volksschullehrern und den sozialdemokratischen Schriftstellern. Und
doch, wie fruchtbar könnten ausführliche volkstümliche Darstellungen heimischer
Geschichte, die darum nicht unwissenschaftlich zu sein brauchten, wirken, wie
freudig würde sie das Volk auch heute noch willkommen heißen! Wenn doch
der Verein für Massenverbreitung guter Schriften auf den Einfall käme, für
gute Geschichtswerke zu sorgen, anstatt dnrch Preisausschreiben die Zahl der
mittelmäßigen Volksrvmane zu vermehren! Wenigstens der männliche Teil
unsrer Bevölkerung ist für ein Geschichtswerk immer noch eher zu haben als
für einen Roman. Kompendienweisheit freilich will das Volk nicht, es will
Unterhaltung bei seiner Geschichte, und vielleicht ist die Bearbeitung und Fort¬
setzung der alten Chroniken und naiven Geschichtswerke überhaupt das richtige;
der Historiker für das Volk muß erzählen, viel erzählen, nicht untersuchen und
charakterisiren. Sehr viel zur Neubelebung des geschichtlichen Sinns im Volke
würde es beitragen, wenn man die geschichtlichen Bauwerke und Denkmäler
kenntlich machte und die geschichtlichen Stätten möglichst auszeichnete. Es war
z. B. gar kein übler Gedanke, das ehemalige Grimmische Thor in Leipzig an
der Stätte, wo es gestanden hat, am Cass frein?ais, abzumalen -- leider
nehmen Wind und Wetter in Deutschland solche Abbildungen stark mit. Der
Deukmalswut und namentlich einer Vermehrung der Statuen und Büsten will
ich nicht das Wort reden, aber schlichte Tafeln mit Inschriften könnte man
in Deutschland noch viel mehr anbringen, nicht bloß an Häusern, auch an
Bäumen, an Wegen, überall, wo es geschehen kann, ohne zu stören. Ich bin
während eines mehrjährigen Aufenthalts zu Lahr in Baden oft über die
Schutterbrücke in Dinglinger gegangen und habe jedesmal daran gedacht, daß
das der Ort sei, wo man im dreißigjährigen Kriege den kaiserlichen General
Johann van Werth und den Schweden Gustav Horn gegen einander aus¬
wechselte -- wieviel mögen außer mir daran gedacht haben, auch wieviel Ge¬
bildete? Aber wenn man auch mir das Vorhandne erhielte! Wie manches
geschichtliche Gebäude in Deutschland wird abgerissen, ohne daß ein Hahn
darnach kräht, wenn es eine Behörde in ihrer Weisheit verfügt. Oft muß es
ja wohl sein, aber dann sollte wenigstens an Ort und Stelle eine Erinnerung
gelassen werden. Wie mancher alte, geschichtliche Straßenname wird gegen
einen neuen zu Ehren eines Prinzen, einer Prinzessin, eines Staatsmanns,
eines Dichters oder eines wohlthätigen Fabrikanten umgetauscht! So entsinne
ich mich, daß man einmal den alten Gänsemarkt in Hamburg, wo die Lessing-


Heimat und volkstum

geblieben, und so haben wir zwar eine große Weltgeschichte in Einzeldarstel¬
lungen, aber eine deutsche Geschichte in solchen, soviel ich weiß, nicht, und
wer die Geschichte der deutsche» Lande kennen lernen will, ist oft genug ge¬
nötigt, zu Schriftstellern des vorigen Jahrhunderts zurückzugreifen. Von volks¬
tümlichen Darstellungen will ich nicht einmal reden, die hält man in Dentsch-
land heute überhaupt für unter der Würde des Gelehrten und überläßt sie
strebsamen Volksschullehrern und den sozialdemokratischen Schriftstellern. Und
doch, wie fruchtbar könnten ausführliche volkstümliche Darstellungen heimischer
Geschichte, die darum nicht unwissenschaftlich zu sein brauchten, wirken, wie
freudig würde sie das Volk auch heute noch willkommen heißen! Wenn doch
der Verein für Massenverbreitung guter Schriften auf den Einfall käme, für
gute Geschichtswerke zu sorgen, anstatt dnrch Preisausschreiben die Zahl der
mittelmäßigen Volksrvmane zu vermehren! Wenigstens der männliche Teil
unsrer Bevölkerung ist für ein Geschichtswerk immer noch eher zu haben als
für einen Roman. Kompendienweisheit freilich will das Volk nicht, es will
Unterhaltung bei seiner Geschichte, und vielleicht ist die Bearbeitung und Fort¬
setzung der alten Chroniken und naiven Geschichtswerke überhaupt das richtige;
der Historiker für das Volk muß erzählen, viel erzählen, nicht untersuchen und
charakterisiren. Sehr viel zur Neubelebung des geschichtlichen Sinns im Volke
würde es beitragen, wenn man die geschichtlichen Bauwerke und Denkmäler
kenntlich machte und die geschichtlichen Stätten möglichst auszeichnete. Es war
z. B. gar kein übler Gedanke, das ehemalige Grimmische Thor in Leipzig an
der Stätte, wo es gestanden hat, am Cass frein?ais, abzumalen — leider
nehmen Wind und Wetter in Deutschland solche Abbildungen stark mit. Der
Deukmalswut und namentlich einer Vermehrung der Statuen und Büsten will
ich nicht das Wort reden, aber schlichte Tafeln mit Inschriften könnte man
in Deutschland noch viel mehr anbringen, nicht bloß an Häusern, auch an
Bäumen, an Wegen, überall, wo es geschehen kann, ohne zu stören. Ich bin
während eines mehrjährigen Aufenthalts zu Lahr in Baden oft über die
Schutterbrücke in Dinglinger gegangen und habe jedesmal daran gedacht, daß
das der Ort sei, wo man im dreißigjährigen Kriege den kaiserlichen General
Johann van Werth und den Schweden Gustav Horn gegen einander aus¬
wechselte — wieviel mögen außer mir daran gedacht haben, auch wieviel Ge¬
bildete? Aber wenn man auch mir das Vorhandne erhielte! Wie manches
geschichtliche Gebäude in Deutschland wird abgerissen, ohne daß ein Hahn
darnach kräht, wenn es eine Behörde in ihrer Weisheit verfügt. Oft muß es
ja wohl sein, aber dann sollte wenigstens an Ort und Stelle eine Erinnerung
gelassen werden. Wie mancher alte, geschichtliche Straßenname wird gegen
einen neuen zu Ehren eines Prinzen, einer Prinzessin, eines Staatsmanns,
eines Dichters oder eines wohlthätigen Fabrikanten umgetauscht! So entsinne
ich mich, daß man einmal den alten Gänsemarkt in Hamburg, wo die Lessing-


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[0226] Heimat und volkstum geblieben, und so haben wir zwar eine große Weltgeschichte in Einzeldarstel¬ lungen, aber eine deutsche Geschichte in solchen, soviel ich weiß, nicht, und wer die Geschichte der deutsche» Lande kennen lernen will, ist oft genug ge¬ nötigt, zu Schriftstellern des vorigen Jahrhunderts zurückzugreifen. Von volks¬ tümlichen Darstellungen will ich nicht einmal reden, die hält man in Dentsch- land heute überhaupt für unter der Würde des Gelehrten und überläßt sie strebsamen Volksschullehrern und den sozialdemokratischen Schriftstellern. Und doch, wie fruchtbar könnten ausführliche volkstümliche Darstellungen heimischer Geschichte, die darum nicht unwissenschaftlich zu sein brauchten, wirken, wie freudig würde sie das Volk auch heute noch willkommen heißen! Wenn doch der Verein für Massenverbreitung guter Schriften auf den Einfall käme, für gute Geschichtswerke zu sorgen, anstatt dnrch Preisausschreiben die Zahl der mittelmäßigen Volksrvmane zu vermehren! Wenigstens der männliche Teil unsrer Bevölkerung ist für ein Geschichtswerk immer noch eher zu haben als für einen Roman. Kompendienweisheit freilich will das Volk nicht, es will Unterhaltung bei seiner Geschichte, und vielleicht ist die Bearbeitung und Fort¬ setzung der alten Chroniken und naiven Geschichtswerke überhaupt das richtige; der Historiker für das Volk muß erzählen, viel erzählen, nicht untersuchen und charakterisiren. Sehr viel zur Neubelebung des geschichtlichen Sinns im Volke würde es beitragen, wenn man die geschichtlichen Bauwerke und Denkmäler kenntlich machte und die geschichtlichen Stätten möglichst auszeichnete. Es war z. B. gar kein übler Gedanke, das ehemalige Grimmische Thor in Leipzig an der Stätte, wo es gestanden hat, am Cass frein?ais, abzumalen — leider nehmen Wind und Wetter in Deutschland solche Abbildungen stark mit. Der Deukmalswut und namentlich einer Vermehrung der Statuen und Büsten will ich nicht das Wort reden, aber schlichte Tafeln mit Inschriften könnte man in Deutschland noch viel mehr anbringen, nicht bloß an Häusern, auch an Bäumen, an Wegen, überall, wo es geschehen kann, ohne zu stören. Ich bin während eines mehrjährigen Aufenthalts zu Lahr in Baden oft über die Schutterbrücke in Dinglinger gegangen und habe jedesmal daran gedacht, daß das der Ort sei, wo man im dreißigjährigen Kriege den kaiserlichen General Johann van Werth und den Schweden Gustav Horn gegen einander aus¬ wechselte — wieviel mögen außer mir daran gedacht haben, auch wieviel Ge¬ bildete? Aber wenn man auch mir das Vorhandne erhielte! Wie manches geschichtliche Gebäude in Deutschland wird abgerissen, ohne daß ein Hahn darnach kräht, wenn es eine Behörde in ihrer Weisheit verfügt. Oft muß es ja wohl sein, aber dann sollte wenigstens an Ort und Stelle eine Erinnerung gelassen werden. Wie mancher alte, geschichtliche Straßenname wird gegen einen neuen zu Ehren eines Prinzen, einer Prinzessin, eines Staatsmanns, eines Dichters oder eines wohlthätigen Fabrikanten umgetauscht! So entsinne ich mich, daß man einmal den alten Gänsemarkt in Hamburg, wo die Lessing-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/226>, abgerufen am 24.07.2024.