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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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oder weniger als bekannt vorauszusetzen und, je nachdem, geiht- und humorvoll
darüber zu plaudern, oder durch eindringlichen Ernst auf seine Leser zu wirken.
Wir Deutschen Pflegen umgekehrt auch bei populären Darstellungen das Haupt¬
augenmerk auf den Stoff selbst zu richten. Unser Humor in politischen Dingen
klingt leicht bösartig, unser Pathos gesucht. Zudem ist fast jede einzelne
politische Frage von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, und gerade das
englische Buch läßt uns wieder schmerzlich erkennen, wie sehr es den Deutschen
noch an einem Grundstock gemeinsamer politischer Überzeugungen fehlt. Wir
haben uns deshalb in unsrer Deutschen Bürgerkunde (Hoffmann und Groth,
Leipzig, Fr. Will). Grunow, 1894) darauf beschränkt, eine so genane Dar¬
stellung aller Zweige des staatlichen Lebens zu geben, als im kleinen Rahmen
möglich war. Wir haben uns bemüht, möglichst anschaulich zu werden, aber
politische Räsonnements grundsätzlich unterlassen. In der That, ehe für eine
mehr philosvphireude Behandlung der Grundzüge unsers Staatslebens die
Zeit gekommen ist, muß die Kenntnis dieser Grundzüge selbst noch weit mehr
verallgemeinert sein.

Der englische Verfasser ist in der angenehmen Lage, seinen Landsleute"
die Einzelheiten des Verfassungsrechts, der Verwnltungsorgauisation, des Ge¬
richtsverfahrens, der Finanzpolitik usw. nicht erst weitläufig auseinandersetzen
zu müssen, wenn er auch genug davon mitteilt, um dem Ausländer einen
guten Überblick zu geben. Eine tiefer eindringende wissenschaftliche Be¬
handlung ihres Staatsrechts haben übrigens die Engländer, gerade wie es
ihnen mit ihrem größten nationalen Dichter gegangen ist, einem Deutschen,
den epochemachenden Untersuchungen Greises zu verdanken. Maldens Lese¬
publikum steht, die englischen Frauen nicht ausgeschlossen, als Glied irgend
eines Selbstverwaltungskörpers oder einer gemeinnützigen Gesellschaft, als Ge¬
schworner, als Tradesunionist, jedenfalls als Wähler und aufmerksamer Leser
der Parlamentsberichte täglich im praktischen Staatsleben mitten darin. Das
Buch ist nnr dort ausführlicher, wo es sich darum handelt, gewisse von der
praktischen Arbeit bisher ferngehaltue Kreise mit den dnrch die neuere Gesetz¬
gebung ihnen übertragnen Aufgaben bekannt zu machen. So sind z. V. die
erst 1894 neu geschaffnen untersten Organe der örtlichen Selbstverwaltung,
die ländliche" Kirchspielräte (Distrikt- und Parish-Councils) ziemlich eingehend
behandelt. Beiläufig: es ist bei uns noch wenig bekannt, daß mit alleiniger
Ausnahme der Ehefrauen auch den Frauen für die Kirchspielräte das volle
aktive und passive Wahlrecht eingeräumt ist. Mulden ist anch darin beneidens¬
wert, daß er bei seiner Darstellung auf partikulare Besonderheiten keine Rück¬
sicht zu nehmen braucht (aus die irischen Verhältnisse läßt er sich allerdings
nicht ein), und daß er überall an das geschichtlich Gewordne anknüpfen kann.
Wen" man bedenkt, daß England zu der Entwicklung von der absoluten Mon¬
archie bis zum konstitutionellen System viele Jahrhunderte, Deutschland zu


Line englische Bürgerkunde

oder weniger als bekannt vorauszusetzen und, je nachdem, geiht- und humorvoll
darüber zu plaudern, oder durch eindringlichen Ernst auf seine Leser zu wirken.
Wir Deutschen Pflegen umgekehrt auch bei populären Darstellungen das Haupt¬
augenmerk auf den Stoff selbst zu richten. Unser Humor in politischen Dingen
klingt leicht bösartig, unser Pathos gesucht. Zudem ist fast jede einzelne
politische Frage von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, und gerade das
englische Buch läßt uns wieder schmerzlich erkennen, wie sehr es den Deutschen
noch an einem Grundstock gemeinsamer politischer Überzeugungen fehlt. Wir
haben uns deshalb in unsrer Deutschen Bürgerkunde (Hoffmann und Groth,
Leipzig, Fr. Will). Grunow, 1894) darauf beschränkt, eine so genane Dar¬
stellung aller Zweige des staatlichen Lebens zu geben, als im kleinen Rahmen
möglich war. Wir haben uns bemüht, möglichst anschaulich zu werden, aber
politische Räsonnements grundsätzlich unterlassen. In der That, ehe für eine
mehr philosvphireude Behandlung der Grundzüge unsers Staatslebens die
Zeit gekommen ist, muß die Kenntnis dieser Grundzüge selbst noch weit mehr
verallgemeinert sein.

Der englische Verfasser ist in der angenehmen Lage, seinen Landsleute»
die Einzelheiten des Verfassungsrechts, der Verwnltungsorgauisation, des Ge¬
richtsverfahrens, der Finanzpolitik usw. nicht erst weitläufig auseinandersetzen
zu müssen, wenn er auch genug davon mitteilt, um dem Ausländer einen
guten Überblick zu geben. Eine tiefer eindringende wissenschaftliche Be¬
handlung ihres Staatsrechts haben übrigens die Engländer, gerade wie es
ihnen mit ihrem größten nationalen Dichter gegangen ist, einem Deutschen,
den epochemachenden Untersuchungen Greises zu verdanken. Maldens Lese¬
publikum steht, die englischen Frauen nicht ausgeschlossen, als Glied irgend
eines Selbstverwaltungskörpers oder einer gemeinnützigen Gesellschaft, als Ge¬
schworner, als Tradesunionist, jedenfalls als Wähler und aufmerksamer Leser
der Parlamentsberichte täglich im praktischen Staatsleben mitten darin. Das
Buch ist nnr dort ausführlicher, wo es sich darum handelt, gewisse von der
praktischen Arbeit bisher ferngehaltue Kreise mit den dnrch die neuere Gesetz¬
gebung ihnen übertragnen Aufgaben bekannt zu machen. So sind z. V. die
erst 1894 neu geschaffnen untersten Organe der örtlichen Selbstverwaltung,
die ländliche» Kirchspielräte (Distrikt- und Parish-Councils) ziemlich eingehend
behandelt. Beiläufig: es ist bei uns noch wenig bekannt, daß mit alleiniger
Ausnahme der Ehefrauen auch den Frauen für die Kirchspielräte das volle
aktive und passive Wahlrecht eingeräumt ist. Mulden ist anch darin beneidens¬
wert, daß er bei seiner Darstellung auf partikulare Besonderheiten keine Rück¬
sicht zu nehmen braucht (aus die irischen Verhältnisse läßt er sich allerdings
nicht ein), und daß er überall an das geschichtlich Gewordne anknüpfen kann.
Wen» man bedenkt, daß England zu der Entwicklung von der absoluten Mon¬
archie bis zum konstitutionellen System viele Jahrhunderte, Deutschland zu


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[0218] Line englische Bürgerkunde oder weniger als bekannt vorauszusetzen und, je nachdem, geiht- und humorvoll darüber zu plaudern, oder durch eindringlichen Ernst auf seine Leser zu wirken. Wir Deutschen Pflegen umgekehrt auch bei populären Darstellungen das Haupt¬ augenmerk auf den Stoff selbst zu richten. Unser Humor in politischen Dingen klingt leicht bösartig, unser Pathos gesucht. Zudem ist fast jede einzelne politische Frage von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, und gerade das englische Buch läßt uns wieder schmerzlich erkennen, wie sehr es den Deutschen noch an einem Grundstock gemeinsamer politischer Überzeugungen fehlt. Wir haben uns deshalb in unsrer Deutschen Bürgerkunde (Hoffmann und Groth, Leipzig, Fr. Will). Grunow, 1894) darauf beschränkt, eine so genane Dar¬ stellung aller Zweige des staatlichen Lebens zu geben, als im kleinen Rahmen möglich war. Wir haben uns bemüht, möglichst anschaulich zu werden, aber politische Räsonnements grundsätzlich unterlassen. In der That, ehe für eine mehr philosvphireude Behandlung der Grundzüge unsers Staatslebens die Zeit gekommen ist, muß die Kenntnis dieser Grundzüge selbst noch weit mehr verallgemeinert sein. Der englische Verfasser ist in der angenehmen Lage, seinen Landsleute» die Einzelheiten des Verfassungsrechts, der Verwnltungsorgauisation, des Ge¬ richtsverfahrens, der Finanzpolitik usw. nicht erst weitläufig auseinandersetzen zu müssen, wenn er auch genug davon mitteilt, um dem Ausländer einen guten Überblick zu geben. Eine tiefer eindringende wissenschaftliche Be¬ handlung ihres Staatsrechts haben übrigens die Engländer, gerade wie es ihnen mit ihrem größten nationalen Dichter gegangen ist, einem Deutschen, den epochemachenden Untersuchungen Greises zu verdanken. Maldens Lese¬ publikum steht, die englischen Frauen nicht ausgeschlossen, als Glied irgend eines Selbstverwaltungskörpers oder einer gemeinnützigen Gesellschaft, als Ge¬ schworner, als Tradesunionist, jedenfalls als Wähler und aufmerksamer Leser der Parlamentsberichte täglich im praktischen Staatsleben mitten darin. Das Buch ist nnr dort ausführlicher, wo es sich darum handelt, gewisse von der praktischen Arbeit bisher ferngehaltue Kreise mit den dnrch die neuere Gesetz¬ gebung ihnen übertragnen Aufgaben bekannt zu machen. So sind z. V. die erst 1894 neu geschaffnen untersten Organe der örtlichen Selbstverwaltung, die ländliche» Kirchspielräte (Distrikt- und Parish-Councils) ziemlich eingehend behandelt. Beiläufig: es ist bei uns noch wenig bekannt, daß mit alleiniger Ausnahme der Ehefrauen auch den Frauen für die Kirchspielräte das volle aktive und passive Wahlrecht eingeräumt ist. Mulden ist anch darin beneidens¬ wert, daß er bei seiner Darstellung auf partikulare Besonderheiten keine Rück¬ sicht zu nehmen braucht (aus die irischen Verhältnisse läßt er sich allerdings nicht ein), und daß er überall an das geschichtlich Gewordne anknüpfen kann. Wen» man bedenkt, daß England zu der Entwicklung von der absoluten Mon¬ archie bis zum konstitutionellen System viele Jahrhunderte, Deutschland zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/218>, abgerufen am 29.06.2024.