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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Stimmungen durch den Reichstag sei unmöglich. Wir glauben nicht an diese
Unmöglichkeit. Die Erfahrung, die wir mit ähnlichen großen Gesetzentwürfe",
wie dem Strafgesetzbuche, den Prozeßgesetze", gemacht haben, widerspricht dem.
Wenn auch nicht in dem versammelten Reichstage die Durchberatung im ein¬
zelnen zweckmäßig ist, in einer vom Reichstage zu eruenuenden und wenn
nötig über die Sitzungsdaner hinaus zu bestellenden Kommission kann sie
jedenfalls in gleicher Weise vorgenommen werden, wie in der Redaktions¬
kommission des zweiten Entwurfs oder im Bundesratsausschusse und im
Bundesrate selbst. Ebenso wie dort fortwährend Abänderungen des ersten
Entwurfs vorgenommen worden sind, so ist auch die Abänderung vorgeschlagner
Bestimmungen durch den Reichstag möglich, ohne daß damit schon das ganze
Gesetzeswerk in Frage gestellt werden müßte. Es giebt unzählige änßerst
wichtige Fragen, die sehr verschieden beantwortet werden können, und deren
Beantwortung in dem einen oder andern Sinne keineswegs auch andre Teile
des Gesetzes in Mitleidenschaft zu ziehen braucht. Und geschieht es, so ist es
eben die Aufgabe der Gesetzgebungstechnik, die sämtlichen Bestimmungen mit¬
einander wieder in Einklang zu bringen. Die Rechtsordnung ist aber keine
Rechenaufgabe, deren Lösung konstruktivnsmüßig und auf rein logischem Wege
nur von Rechtsgelehrten gefunden werden könnte. Sie ist der Jubegriff von
Normen, die das praktische Leben regeln wollen, deren Wirkung auf das Leben
daher ins Auge gefaßt werden muß. Diese Erkenntnis ist aber nicht allein
den Juristen vorbehalten. So hat z. B. die Regelung der Verjährung, des
Zurückhaltungsrechts, der Ehescheidungsgründe, der Erbfolge lediglich nach
Zweckmäßigkeitsrücksichten zu geschehen. Die leitenden Grundsätze hierfür in
Gemeinschaft mit der Regierung zu bestimme" ist recht eigentlich die Aufgabe
des Reichstags, und es wäre zu bedauern, wenn er das in der Meinung, daß
es sich nur um technisch-juristische Fragen handle, unerwvgen ließe.

Die verschiedenartige Regelung der Ehescheidungsgründe im ersten und
ini zweiten Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs bietet hierfür ein Beispiel.
Dort war die unheilbare Geisteskrankheit des einen Ehegatten nicht zum Schei-
dungsgrund erhoben worden, hier ist sie als Scheidungsgrund anerkannt. Ob
das eine oder das andre für das Volkswohl zweckmäßig und nützlich sei, das
ist doch keine juristische Frage. Wer wird aber die hohe Bedeutung verkennen,
die ihre Beantwortung für das Volksleben hat? Darf sich deshalb der Reichstag
ihrer Beantwortung entziehen, und wäre es richtig, die von den Regierungen
vvrgeschlagne Regelung des ersten Entwurfs ebenso prüfnngslos hinzunehmen,
wie die entgegengesetzte im zweiten Entwurf?

Wollte sich aber auch der Reichstag bescheiden und ans Abänderungs¬
vorschläge verzichten, in dem Streben, das baldige Zustandekommen des
Gesetzes, wonach sich das gesamte Volk sehnt, nicht zu gefährde", so würde
er erst recht zur gewissenhaften Prüfung und eingehende" Erwägniig vor


Stimmungen durch den Reichstag sei unmöglich. Wir glauben nicht an diese
Unmöglichkeit. Die Erfahrung, die wir mit ähnlichen großen Gesetzentwürfe»,
wie dem Strafgesetzbuche, den Prozeßgesetze», gemacht haben, widerspricht dem.
Wenn auch nicht in dem versammelten Reichstage die Durchberatung im ein¬
zelnen zweckmäßig ist, in einer vom Reichstage zu eruenuenden und wenn
nötig über die Sitzungsdaner hinaus zu bestellenden Kommission kann sie
jedenfalls in gleicher Weise vorgenommen werden, wie in der Redaktions¬
kommission des zweiten Entwurfs oder im Bundesratsausschusse und im
Bundesrate selbst. Ebenso wie dort fortwährend Abänderungen des ersten
Entwurfs vorgenommen worden sind, so ist auch die Abänderung vorgeschlagner
Bestimmungen durch den Reichstag möglich, ohne daß damit schon das ganze
Gesetzeswerk in Frage gestellt werden müßte. Es giebt unzählige änßerst
wichtige Fragen, die sehr verschieden beantwortet werden können, und deren
Beantwortung in dem einen oder andern Sinne keineswegs auch andre Teile
des Gesetzes in Mitleidenschaft zu ziehen braucht. Und geschieht es, so ist es
eben die Aufgabe der Gesetzgebungstechnik, die sämtlichen Bestimmungen mit¬
einander wieder in Einklang zu bringen. Die Rechtsordnung ist aber keine
Rechenaufgabe, deren Lösung konstruktivnsmüßig und auf rein logischem Wege
nur von Rechtsgelehrten gefunden werden könnte. Sie ist der Jubegriff von
Normen, die das praktische Leben regeln wollen, deren Wirkung auf das Leben
daher ins Auge gefaßt werden muß. Diese Erkenntnis ist aber nicht allein
den Juristen vorbehalten. So hat z. B. die Regelung der Verjährung, des
Zurückhaltungsrechts, der Ehescheidungsgründe, der Erbfolge lediglich nach
Zweckmäßigkeitsrücksichten zu geschehen. Die leitenden Grundsätze hierfür in
Gemeinschaft mit der Regierung zu bestimme» ist recht eigentlich die Aufgabe
des Reichstags, und es wäre zu bedauern, wenn er das in der Meinung, daß
es sich nur um technisch-juristische Fragen handle, unerwvgen ließe.

Die verschiedenartige Regelung der Ehescheidungsgründe im ersten und
ini zweiten Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs bietet hierfür ein Beispiel.
Dort war die unheilbare Geisteskrankheit des einen Ehegatten nicht zum Schei-
dungsgrund erhoben worden, hier ist sie als Scheidungsgrund anerkannt. Ob
das eine oder das andre für das Volkswohl zweckmäßig und nützlich sei, das
ist doch keine juristische Frage. Wer wird aber die hohe Bedeutung verkennen,
die ihre Beantwortung für das Volksleben hat? Darf sich deshalb der Reichstag
ihrer Beantwortung entziehen, und wäre es richtig, die von den Regierungen
vvrgeschlagne Regelung des ersten Entwurfs ebenso prüfnngslos hinzunehmen,
wie die entgegengesetzte im zweiten Entwurf?

Wollte sich aber auch der Reichstag bescheiden und ans Abänderungs¬
vorschläge verzichten, in dem Streben, das baldige Zustandekommen des
Gesetzes, wonach sich das gesamte Volk sehnt, nicht zu gefährde», so würde
er erst recht zur gewissenhaften Prüfung und eingehende» Erwägniig vor


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/210>, abgerufen am 30.06.2024.