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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Heimat und Volkstum

"Sachsen" nicht zugemutet werden kann, von ihrem Namen zu lassen -- ist
heute im Volke kaum noch bekannt, wenn auch zehnmal in der Schule gelehrt
wird, daß die Sachsen, mit denen Karl der Große kämpfte, nicht die Bor¬
fahre" der Leute waren, die heute in Leipzig und Dresden wohnen. Unklar
ist mich der Begriff Thüringe", da sich die Nordthüringer Wohl Sachse" und
die zu den sogenannten thüringischen Staaten gehörige" Franken und Vogt-
länder wieder Thüringer nennen. Selbst der bairische Franke, der bairische
Schwabe "eunt sich schon Valer, der württembergische Franke dagegen gemütlich
Schwabe, der hessische Franke natürlich Hesse oder Darmstädter, und der
Radner weiß meist nicht, was er ist. Wäre es den" so ungeheuer schwer, eine
gute, übersichtliche Karte der dentschen Stammeswohnsitze und der natürlichen
Länder "ut Landschafte" Deutschlands zu entwerfe", etwa auf der Grundlage
der vorhandnen Sprachkarten, aber mit möglichster Berücksichtigung der geo¬
graphische" Gliederung und des geschichtlichen Werdens "ut Zusammenhangs,
und diese in die Volksschulen und unters Volk zu bringen? Man brauchte
auf ihr wahrhaftig nicht die Z66 Territorien des alten Reichs wieder auf-
leben zu lassen, aber die alten Stammes- und Landschaftsnnmen müßten, wenn
sie auch längst aus der offiziellen "Nomenklatur" verschwunden sind, alle dasei",
und dadurch das deutsche Volk wieder gewöhnt werden, sich als el" natürlich
gegliedertes Ganze zu empfinden. Obgleich die unheilvolle politische Zer¬
klüftung und die damit zusammenhängenden eigentümliche" religiöse" Schicksale
mancher Landstriche de" alten Zusammenhang der Stämme hin und wieder
zerrissen habe", hat er doch im ganzen die Jahrhunderte überdauert und besteht
bis auf den heutigen Tag. Wir können es aber hente ruhig wage", das deutsche
Volk wieder an seine alte Znsanuuensetzung zu erinnern; denn unser Parti-
kularismus knüpft bekanntlich nnr an die Staaten und Stäätchen an und ist
als reinpvlitischer Natur eher ein Feind der natürlichen Gliederung, wie er
denn auch zur Zeit seiner höchsten Blüte schleunigst die geschichtslvse fran¬
zösische Departementseinteilung einführte. So kann man die Wiederherstellung
der natürlichen Gliederung für das Volksbewußtsein sogar als eine That im
Dienste des Einheits- und Reichsgedankens ansehen. Der Unterricht aber,
weine ich, würde sogar einfacher werden, wenn die natürliche Grundlage des
Bolkstums überall festgehalten würde; jedenfalls würde er fruchtbarer werde",
denn Geographie, Ethnographie und Geschichte gewonnen den engsten Zu¬
sammenhang, und Sprache, Sitte, Brauch, ja überhaupt der Volkscharakter
>se ja heute noch immer vom Stamm bestimmt, mögen auch die Wanderungen
alter und neuer Zeit überallhin fremde Glieder versprengt haben.

Das wäre eine für das Volk zu lösende Aufgabe. Für die Gebildeten
und für die Wissenschaft wäre noch manches andre zu leisten. Die Volks¬
kunde, die in Deutschland wesentlich Stammesknnde ist, ist nun reichlich fünfzig
Jahre alt, und sicher liegt ein gewaltiges Material vor, aber mit seiner Ver-


Wrenzbvien IV 1395 23
Heimat und Volkstum

„Sachsen" nicht zugemutet werden kann, von ihrem Namen zu lassen — ist
heute im Volke kaum noch bekannt, wenn auch zehnmal in der Schule gelehrt
wird, daß die Sachsen, mit denen Karl der Große kämpfte, nicht die Bor¬
fahre» der Leute waren, die heute in Leipzig und Dresden wohnen. Unklar
ist mich der Begriff Thüringe», da sich die Nordthüringer Wohl Sachse» und
die zu den sogenannten thüringischen Staaten gehörige» Franken und Vogt-
länder wieder Thüringer nennen. Selbst der bairische Franke, der bairische
Schwabe »eunt sich schon Valer, der württembergische Franke dagegen gemütlich
Schwabe, der hessische Franke natürlich Hesse oder Darmstädter, und der
Radner weiß meist nicht, was er ist. Wäre es den« so ungeheuer schwer, eine
gute, übersichtliche Karte der dentschen Stammeswohnsitze und der natürlichen
Länder »ut Landschafte» Deutschlands zu entwerfe», etwa auf der Grundlage
der vorhandnen Sprachkarten, aber mit möglichster Berücksichtigung der geo¬
graphische» Gliederung und des geschichtlichen Werdens »ut Zusammenhangs,
und diese in die Volksschulen und unters Volk zu bringen? Man brauchte
auf ihr wahrhaftig nicht die Z66 Territorien des alten Reichs wieder auf-
leben zu lassen, aber die alten Stammes- und Landschaftsnnmen müßten, wenn
sie auch längst aus der offiziellen „Nomenklatur" verschwunden sind, alle dasei»,
und dadurch das deutsche Volk wieder gewöhnt werden, sich als el» natürlich
gegliedertes Ganze zu empfinden. Obgleich die unheilvolle politische Zer¬
klüftung und die damit zusammenhängenden eigentümliche» religiöse» Schicksale
mancher Landstriche de» alten Zusammenhang der Stämme hin und wieder
zerrissen habe», hat er doch im ganzen die Jahrhunderte überdauert und besteht
bis auf den heutigen Tag. Wir können es aber hente ruhig wage», das deutsche
Volk wieder an seine alte Znsanuuensetzung zu erinnern; denn unser Parti-
kularismus knüpft bekanntlich nnr an die Staaten und Stäätchen an und ist
als reinpvlitischer Natur eher ein Feind der natürlichen Gliederung, wie er
denn auch zur Zeit seiner höchsten Blüte schleunigst die geschichtslvse fran¬
zösische Departementseinteilung einführte. So kann man die Wiederherstellung
der natürlichen Gliederung für das Volksbewußtsein sogar als eine That im
Dienste des Einheits- und Reichsgedankens ansehen. Der Unterricht aber,
weine ich, würde sogar einfacher werden, wenn die natürliche Grundlage des
Bolkstums überall festgehalten würde; jedenfalls würde er fruchtbarer werde»,
denn Geographie, Ethnographie und Geschichte gewonnen den engsten Zu¬
sammenhang, und Sprache, Sitte, Brauch, ja überhaupt der Volkscharakter
>se ja heute noch immer vom Stamm bestimmt, mögen auch die Wanderungen
alter und neuer Zeit überallhin fremde Glieder versprengt haben.

Das wäre eine für das Volk zu lösende Aufgabe. Für die Gebildeten
und für die Wissenschaft wäre noch manches andre zu leisten. Die Volks¬
kunde, die in Deutschland wesentlich Stammesknnde ist, ist nun reichlich fünfzig
Jahre alt, und sicher liegt ein gewaltiges Material vor, aber mit seiner Ver-


Wrenzbvien IV 1395 23
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[0185] Heimat und Volkstum „Sachsen" nicht zugemutet werden kann, von ihrem Namen zu lassen — ist heute im Volke kaum noch bekannt, wenn auch zehnmal in der Schule gelehrt wird, daß die Sachsen, mit denen Karl der Große kämpfte, nicht die Bor¬ fahre» der Leute waren, die heute in Leipzig und Dresden wohnen. Unklar ist mich der Begriff Thüringe», da sich die Nordthüringer Wohl Sachse» und die zu den sogenannten thüringischen Staaten gehörige» Franken und Vogt- länder wieder Thüringer nennen. Selbst der bairische Franke, der bairische Schwabe »eunt sich schon Valer, der württembergische Franke dagegen gemütlich Schwabe, der hessische Franke natürlich Hesse oder Darmstädter, und der Radner weiß meist nicht, was er ist. Wäre es den« so ungeheuer schwer, eine gute, übersichtliche Karte der dentschen Stammeswohnsitze und der natürlichen Länder »ut Landschafte» Deutschlands zu entwerfe», etwa auf der Grundlage der vorhandnen Sprachkarten, aber mit möglichster Berücksichtigung der geo¬ graphische» Gliederung und des geschichtlichen Werdens »ut Zusammenhangs, und diese in die Volksschulen und unters Volk zu bringen? Man brauchte auf ihr wahrhaftig nicht die Z66 Territorien des alten Reichs wieder auf- leben zu lassen, aber die alten Stammes- und Landschaftsnnmen müßten, wenn sie auch längst aus der offiziellen „Nomenklatur" verschwunden sind, alle dasei», und dadurch das deutsche Volk wieder gewöhnt werden, sich als el» natürlich gegliedertes Ganze zu empfinden. Obgleich die unheilvolle politische Zer¬ klüftung und die damit zusammenhängenden eigentümliche» religiöse» Schicksale mancher Landstriche de» alten Zusammenhang der Stämme hin und wieder zerrissen habe», hat er doch im ganzen die Jahrhunderte überdauert und besteht bis auf den heutigen Tag. Wir können es aber hente ruhig wage», das deutsche Volk wieder an seine alte Znsanuuensetzung zu erinnern; denn unser Parti- kularismus knüpft bekanntlich nnr an die Staaten und Stäätchen an und ist als reinpvlitischer Natur eher ein Feind der natürlichen Gliederung, wie er denn auch zur Zeit seiner höchsten Blüte schleunigst die geschichtslvse fran¬ zösische Departementseinteilung einführte. So kann man die Wiederherstellung der natürlichen Gliederung für das Volksbewußtsein sogar als eine That im Dienste des Einheits- und Reichsgedankens ansehen. Der Unterricht aber, weine ich, würde sogar einfacher werden, wenn die natürliche Grundlage des Bolkstums überall festgehalten würde; jedenfalls würde er fruchtbarer werde», denn Geographie, Ethnographie und Geschichte gewonnen den engsten Zu¬ sammenhang, und Sprache, Sitte, Brauch, ja überhaupt der Volkscharakter >se ja heute noch immer vom Stamm bestimmt, mögen auch die Wanderungen alter und neuer Zeit überallhin fremde Glieder versprengt haben. Das wäre eine für das Volk zu lösende Aufgabe. Für die Gebildeten und für die Wissenschaft wäre noch manches andre zu leisten. Die Volks¬ kunde, die in Deutschland wesentlich Stammesknnde ist, ist nun reichlich fünfzig Jahre alt, und sicher liegt ein gewaltiges Material vor, aber mit seiner Ver- Wrenzbvien IV 1395 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/185>, abgerufen am 04.07.2024.