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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Heimat und volkstum

Ehe wir nun im einzelnen untersuchen, was des Heimatlichen und Volks¬
tümlichen verloren gegangen ist, was noch zu retten sein dürfte, und was viel¬
leicht noch wieder- oder neu hinznzugewinnen wäre, soll der Begriff "Heimat"
noch etwas näher bestimmt werden. Unter Heimat verstehe ich das "Land,"
worin jemand mit seinen Stammesgenossen lebt; wo aber Land und Stamm
für die einheitliche Anschauung zu weit und groß sind, verstehe ich darunter
die Landschaft, die geographisch und ethnographisch ein Ganzes bildet, ihren
natürlichen Mittelpunkt und, womöglich, anch eine besondre, einheitliche Ge¬
schichte hat. Wie ihr politisches Verhältnis heute ist, wie die Grenze geht,
kommt wohl etwas, aber nicht hauptsächlich in Betracht. Darnach wäre
vielleicht Heimat, engere Heimat und endlich engste Heimat, der Geburts¬
ort mit Umgebung, zu unterscheiden, denen sich als allerengster dieser Be¬
griffe noch das Heim, das Vaterhaus, anschlösse. Um einige Beispiele durch¬
zuführen: Meine Heimat ist Schleswig-Holstein, dem ich für Zwecke der Heimat¬
kunde die Hansestädte Hamburg und Lübeck wie das oldenburgische Fürstentum
Lübeck ruhig einverleibe, meine engere Heimat ist der alte Gau oder die Graf¬
schaft Dithmarschen, nicht etwa einer der beiden preußischen Kreise, in die das
Ländchen heute zerfällt, meine engste Heimat Ort und Kirchspiel Wesselburen.
Wenn Augsburg jemandes Geburtsort ist, so ist das bairische Schwaben seine
engere Heimat, Schwaben aber, nicht das Königreich Baiern, seine Heimat.
Die Heimat des Deutschen bildet also immer das alte Stammesland oder doch
die natürlichen großen Abteilungen, in die es zerfällt; also bei Schwaben etwa
das Land der Rheinschwaben, der schweizerischen Alemannen und der vorzugs¬
weise so genannten (württembergischen und bairischen) Schwaben; die engere
Heimat bildet der alte Gau oder die Landschaft oder ein andres natürliches
Gebilde, unter Umständen anch eine sehr große Stadt, sodaß hier engere und
engste Heimat zusammenfällt. Ganz scharf kann man nicht immer scheiden,
aber doch so viel als nötig ist; man braucht uur einmal eine deutsche Sprach-
nnd Dialektkarte in die Hand zu nehmen.

Hier wäre denn nun gleich eine bedauernswerte Thatsache zu verzeichnen:
das deutsche Stammesbewußtseiu ist heute vielfach erloschen, und die Schule
vermag nicht einmal das zu erreichen, daß jeder Deutsche lernt, wes Stammes
er ist. Wohl knüpft die politische Einteilung, wenigstens der beiden größten
Staaten, an die Stämme an, obgleich die Provinz Sachsen z.V. in diesem
Sinne immer noch ein unglückliches Gebilde ist und anch anderswo wenig zu
einander passende Gebiete zusammengefaßt worden, manche, wie die Lausitz,
völlig zerrissen sind; ja stellenweise tragen selbst Kreise alte geschichtliche Namen,
die den alten Gauen einigermaßen entsprechen, so in Schleswig-Holstein;
dennoch ist eine klare, natürliche Einteilung Deutschlands fast in niemandes
Bewußtsein und kaum auf dem Papier zu haben. Die alte, so notwendige
Unterscheidung zwischen Obersachsen und Niedersachsen - da denn den heutigen


Heimat und volkstum

Ehe wir nun im einzelnen untersuchen, was des Heimatlichen und Volks¬
tümlichen verloren gegangen ist, was noch zu retten sein dürfte, und was viel¬
leicht noch wieder- oder neu hinznzugewinnen wäre, soll der Begriff „Heimat"
noch etwas näher bestimmt werden. Unter Heimat verstehe ich das „Land,"
worin jemand mit seinen Stammesgenossen lebt; wo aber Land und Stamm
für die einheitliche Anschauung zu weit und groß sind, verstehe ich darunter
die Landschaft, die geographisch und ethnographisch ein Ganzes bildet, ihren
natürlichen Mittelpunkt und, womöglich, anch eine besondre, einheitliche Ge¬
schichte hat. Wie ihr politisches Verhältnis heute ist, wie die Grenze geht,
kommt wohl etwas, aber nicht hauptsächlich in Betracht. Darnach wäre
vielleicht Heimat, engere Heimat und endlich engste Heimat, der Geburts¬
ort mit Umgebung, zu unterscheiden, denen sich als allerengster dieser Be¬
griffe noch das Heim, das Vaterhaus, anschlösse. Um einige Beispiele durch¬
zuführen: Meine Heimat ist Schleswig-Holstein, dem ich für Zwecke der Heimat¬
kunde die Hansestädte Hamburg und Lübeck wie das oldenburgische Fürstentum
Lübeck ruhig einverleibe, meine engere Heimat ist der alte Gau oder die Graf¬
schaft Dithmarschen, nicht etwa einer der beiden preußischen Kreise, in die das
Ländchen heute zerfällt, meine engste Heimat Ort und Kirchspiel Wesselburen.
Wenn Augsburg jemandes Geburtsort ist, so ist das bairische Schwaben seine
engere Heimat, Schwaben aber, nicht das Königreich Baiern, seine Heimat.
Die Heimat des Deutschen bildet also immer das alte Stammesland oder doch
die natürlichen großen Abteilungen, in die es zerfällt; also bei Schwaben etwa
das Land der Rheinschwaben, der schweizerischen Alemannen und der vorzugs¬
weise so genannten (württembergischen und bairischen) Schwaben; die engere
Heimat bildet der alte Gau oder die Landschaft oder ein andres natürliches
Gebilde, unter Umständen anch eine sehr große Stadt, sodaß hier engere und
engste Heimat zusammenfällt. Ganz scharf kann man nicht immer scheiden,
aber doch so viel als nötig ist; man braucht uur einmal eine deutsche Sprach-
nnd Dialektkarte in die Hand zu nehmen.

Hier wäre denn nun gleich eine bedauernswerte Thatsache zu verzeichnen:
das deutsche Stammesbewußtseiu ist heute vielfach erloschen, und die Schule
vermag nicht einmal das zu erreichen, daß jeder Deutsche lernt, wes Stammes
er ist. Wohl knüpft die politische Einteilung, wenigstens der beiden größten
Staaten, an die Stämme an, obgleich die Provinz Sachsen z.V. in diesem
Sinne immer noch ein unglückliches Gebilde ist und anch anderswo wenig zu
einander passende Gebiete zusammengefaßt worden, manche, wie die Lausitz,
völlig zerrissen sind; ja stellenweise tragen selbst Kreise alte geschichtliche Namen,
die den alten Gauen einigermaßen entsprechen, so in Schleswig-Holstein;
dennoch ist eine klare, natürliche Einteilung Deutschlands fast in niemandes
Bewußtsein und kaum auf dem Papier zu haben. Die alte, so notwendige
Unterscheidung zwischen Obersachsen und Niedersachsen - da denn den heutigen


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[0184] Heimat und volkstum Ehe wir nun im einzelnen untersuchen, was des Heimatlichen und Volks¬ tümlichen verloren gegangen ist, was noch zu retten sein dürfte, und was viel¬ leicht noch wieder- oder neu hinznzugewinnen wäre, soll der Begriff „Heimat" noch etwas näher bestimmt werden. Unter Heimat verstehe ich das „Land," worin jemand mit seinen Stammesgenossen lebt; wo aber Land und Stamm für die einheitliche Anschauung zu weit und groß sind, verstehe ich darunter die Landschaft, die geographisch und ethnographisch ein Ganzes bildet, ihren natürlichen Mittelpunkt und, womöglich, anch eine besondre, einheitliche Ge¬ schichte hat. Wie ihr politisches Verhältnis heute ist, wie die Grenze geht, kommt wohl etwas, aber nicht hauptsächlich in Betracht. Darnach wäre vielleicht Heimat, engere Heimat und endlich engste Heimat, der Geburts¬ ort mit Umgebung, zu unterscheiden, denen sich als allerengster dieser Be¬ griffe noch das Heim, das Vaterhaus, anschlösse. Um einige Beispiele durch¬ zuführen: Meine Heimat ist Schleswig-Holstein, dem ich für Zwecke der Heimat¬ kunde die Hansestädte Hamburg und Lübeck wie das oldenburgische Fürstentum Lübeck ruhig einverleibe, meine engere Heimat ist der alte Gau oder die Graf¬ schaft Dithmarschen, nicht etwa einer der beiden preußischen Kreise, in die das Ländchen heute zerfällt, meine engste Heimat Ort und Kirchspiel Wesselburen. Wenn Augsburg jemandes Geburtsort ist, so ist das bairische Schwaben seine engere Heimat, Schwaben aber, nicht das Königreich Baiern, seine Heimat. Die Heimat des Deutschen bildet also immer das alte Stammesland oder doch die natürlichen großen Abteilungen, in die es zerfällt; also bei Schwaben etwa das Land der Rheinschwaben, der schweizerischen Alemannen und der vorzugs¬ weise so genannten (württembergischen und bairischen) Schwaben; die engere Heimat bildet der alte Gau oder die Landschaft oder ein andres natürliches Gebilde, unter Umständen anch eine sehr große Stadt, sodaß hier engere und engste Heimat zusammenfällt. Ganz scharf kann man nicht immer scheiden, aber doch so viel als nötig ist; man braucht uur einmal eine deutsche Sprach- nnd Dialektkarte in die Hand zu nehmen. Hier wäre denn nun gleich eine bedauernswerte Thatsache zu verzeichnen: das deutsche Stammesbewußtseiu ist heute vielfach erloschen, und die Schule vermag nicht einmal das zu erreichen, daß jeder Deutsche lernt, wes Stammes er ist. Wohl knüpft die politische Einteilung, wenigstens der beiden größten Staaten, an die Stämme an, obgleich die Provinz Sachsen z.V. in diesem Sinne immer noch ein unglückliches Gebilde ist und anch anderswo wenig zu einander passende Gebiete zusammengefaßt worden, manche, wie die Lausitz, völlig zerrissen sind; ja stellenweise tragen selbst Kreise alte geschichtliche Namen, die den alten Gauen einigermaßen entsprechen, so in Schleswig-Holstein; dennoch ist eine klare, natürliche Einteilung Deutschlands fast in niemandes Bewußtsein und kaum auf dem Papier zu haben. Die alte, so notwendige Unterscheidung zwischen Obersachsen und Niedersachsen - da denn den heutigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/184>, abgerufen am 04.07.2024.