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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Heimat und volkstum

großvater nur "och schwache Kunde haben, und deren Geburtshaus vielleicht
längst dem Voden gleichgemacht ist. Der ganze Heimntboden muß durch um¬
fassende Liebe unser Besitz, die Heimatgenossen aller Zeiten müssen für unser
Empfinden unsre Vorfahren, ihre Thaten die unsrer Väter werden, und wenn
wir dann noch die Erbschaft des Blutes, die Stammesgenvsseuschaft, die Sitte,
in der wir aufgewachsen sind, die Sprache, die wir reden, kurz unser be¬
sondres Volkstum nach Gebühr hochhalten, so werden wir uns auch irgendwo
zu Hause fühlen und zu Hause sein, welche Erfahrungen wir auch in der
Heimat selbst gemacht habe", wohin uns auch das Schicksal verschlagen hat.
Unsre Väter hatten eine Heimat und liebten sie fast unbewußt, wir verliere"
sie gar zu leicht und müssen sie daher rechtzeitig bewußt lieben lernen; denn
unser Herz braucht sie, es will und muß etwas haben in dieser unruhige",
zerfahrnen Zeit, woran es hangen kaun. Aber nicht nur wir allem, die wir
uns für gebildet halten, und denen alle Bildung doch nicht die wahre Heimat
giebt, sondern die sie oft nur uuzufriedner macht, brauchen die Heimat, dem
ganzen Volk muß sie erhalten oder zurückgegeben werden, als wirkliches Gut
und für die Empfindung, auf daß nicht der alte Fluch: Unflat und flüchtig
sollst dn sein auf Erden! an unserm Geschlecht erfüllt werde, daß Glück und
Zufriedenheit, die oft vollständig aus unserm Lande verschwunden scheinen,
wieder bei uns Heimstätten bauen können. Wer keine Heimat hat, hat in der
Regel auch kein Vaterland.

Die Ursachen, die duzn geführt haben, daß heute ein großer Teil des
deutsche" Volks heimatlos oder doch nirgends recht zu Hause, ohne tieferes
Heimatgefühl ist, sind leicht zu erkennen. Die Freizügigkeit, die man wohl
verantwortlich macht, ist es im Grunde nicht; denn die Gewährung des Rechts,
jederzeit und überallhin fortziehe" zu dürfen, bewirkt noch keineswegs, daß man
es wirklich thut. Im allgemeinen wird jeder gern in der Heimat bleiben,
wenn er dort sein Auskommen hat, der Wärter- und Veränderungstrieb ist
von vornherein immer nur bei einer beschränkten Anzahl vorhanden, und wenn
er plötzlich in einem ganzen Volke besonders stark wird, so müssen da soziale
Ansnahmeverhältnisse zu Gründe liegen. So sind denn auch die heutigen
Wanderungen, der Zug in die großen Städte und der auch nicht seltne von
Großstadt zu Großstadt, zuletzt auf das Aufkommen der Industrie und die
damit verbundne Proletarisirung der Massen zurückzuführen, mag man außer¬
dem auch eine ganze Reihe Ursachen zweiten Ranges angeben, die die Schuld
mehr deu Wandernden selbst zuschieben. Man kann sich vielleicht auch heute
noch Heimatgefühl beim Besitzlosen denken, obwohl es sich doch nur beim Be¬
sitzenden so recht ausbildet; aber der moderne Proletarier, dessen Leben zwischen
der Fabrikarbeit in der Woche und hastigem Genuß am Sonntag verfließt,
hat einfach keine Gelegenheit, es in sich zu nähren, auch kümmert sich ja
niemand weder um ihn uoch um seine Kinder, denen dasselbe Los bestimmt


Heimat und volkstum

großvater nur »och schwache Kunde haben, und deren Geburtshaus vielleicht
längst dem Voden gleichgemacht ist. Der ganze Heimntboden muß durch um¬
fassende Liebe unser Besitz, die Heimatgenossen aller Zeiten müssen für unser
Empfinden unsre Vorfahren, ihre Thaten die unsrer Väter werden, und wenn
wir dann noch die Erbschaft des Blutes, die Stammesgenvsseuschaft, die Sitte,
in der wir aufgewachsen sind, die Sprache, die wir reden, kurz unser be¬
sondres Volkstum nach Gebühr hochhalten, so werden wir uns auch irgendwo
zu Hause fühlen und zu Hause sein, welche Erfahrungen wir auch in der
Heimat selbst gemacht habe», wohin uns auch das Schicksal verschlagen hat.
Unsre Väter hatten eine Heimat und liebten sie fast unbewußt, wir verliere«
sie gar zu leicht und müssen sie daher rechtzeitig bewußt lieben lernen; denn
unser Herz braucht sie, es will und muß etwas haben in dieser unruhige»,
zerfahrnen Zeit, woran es hangen kaun. Aber nicht nur wir allem, die wir
uns für gebildet halten, und denen alle Bildung doch nicht die wahre Heimat
giebt, sondern die sie oft nur uuzufriedner macht, brauchen die Heimat, dem
ganzen Volk muß sie erhalten oder zurückgegeben werden, als wirkliches Gut
und für die Empfindung, auf daß nicht der alte Fluch: Unflat und flüchtig
sollst dn sein auf Erden! an unserm Geschlecht erfüllt werde, daß Glück und
Zufriedenheit, die oft vollständig aus unserm Lande verschwunden scheinen,
wieder bei uns Heimstätten bauen können. Wer keine Heimat hat, hat in der
Regel auch kein Vaterland.

Die Ursachen, die duzn geführt haben, daß heute ein großer Teil des
deutsche» Volks heimatlos oder doch nirgends recht zu Hause, ohne tieferes
Heimatgefühl ist, sind leicht zu erkennen. Die Freizügigkeit, die man wohl
verantwortlich macht, ist es im Grunde nicht; denn die Gewährung des Rechts,
jederzeit und überallhin fortziehe» zu dürfen, bewirkt noch keineswegs, daß man
es wirklich thut. Im allgemeinen wird jeder gern in der Heimat bleiben,
wenn er dort sein Auskommen hat, der Wärter- und Veränderungstrieb ist
von vornherein immer nur bei einer beschränkten Anzahl vorhanden, und wenn
er plötzlich in einem ganzen Volke besonders stark wird, so müssen da soziale
Ansnahmeverhältnisse zu Gründe liegen. So sind denn auch die heutigen
Wanderungen, der Zug in die großen Städte und der auch nicht seltne von
Großstadt zu Großstadt, zuletzt auf das Aufkommen der Industrie und die
damit verbundne Proletarisirung der Massen zurückzuführen, mag man außer¬
dem auch eine ganze Reihe Ursachen zweiten Ranges angeben, die die Schuld
mehr deu Wandernden selbst zuschieben. Man kann sich vielleicht auch heute
noch Heimatgefühl beim Besitzlosen denken, obwohl es sich doch nur beim Be¬
sitzenden so recht ausbildet; aber der moderne Proletarier, dessen Leben zwischen
der Fabrikarbeit in der Woche und hastigem Genuß am Sonntag verfließt,
hat einfach keine Gelegenheit, es in sich zu nähren, auch kümmert sich ja
niemand weder um ihn uoch um seine Kinder, denen dasselbe Los bestimmt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/182>, abgerufen am 01.07.2024.