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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die Lage des Handwerks

natsrecht der Zünfte eben nicht bewährt habe und nnertrüglich geworden sei.
Wie diese ihre Aufgabe gelöst haben, das lehren u.a. die Mitteilungen, die
Dr. Cohen aus der Geschichte des Augsburger Kistlergewerbes macht. Es war
den dortigen Kistlern (Schreinern) im sechzehnten Jahrhundert nicht gestattet,
mehr als zwei Gesellen zu halten. Wenn nun, was häusig vorkam, ein Meister
um die Erlaubnis bat, mehr Gesellen einzustellen, so wurde er gewöhn¬
lich mit der Begründung abgewiesen, daß es genug kleine Meister gebe,
die viel Kinder und keine Arbeit hätten und die Bestellungen ebenso gut aus¬
führen könnten wie die Gesellen der größern Meister. Die Zunftordnung
konnte also nicht verhindern, daß viele kleine Meister Not litten, sie konnte
höchstens dafür sorgen, daß es den wohlhabenden und strebsamern sehr schwer
wurde, aus dem allgemeinen Elend emporzusteigen. Und das ist eine der Vor¬
fragen, die sich die Handwerksmeister bei ihren Organisationsplänen vorzulegen
haben. Daran, daß das Überangebot von Händen und Köpfen die Menschen¬
arbeit wohlfeil macht, kann keine Organisation etwas ändern; sie müssen sich
also fragen: Was wollen wir eigentlich? Wollen wir es erzwingen, daß alle
jungen Handwerker zum Meisterrecht gelangen, aber sich zeitlebens als Klein¬
meister in Dürftigkeit abquälen müssen, oder wollen wir einer kleinen Anzahl
von Meistern das Privilegium verleihen, durch Ausbeutung von Lehrlingen
und Gesellen wohlhabend zu werden? Sehr genau und richtig hat Nübling
selbst (III, 253) das alte Meisterrecht definirt als das Recht, "mit der Arbeit
eines andern Zwischenhandel zu treiben." Der Meister ist für den Gesellen
und für den sogenannten Lehrling dasselbe, was der Verleger und der Ma¬
gazininhaber für den Hausindustrielleu sind. Die Frage läuft also darauf
hinaus, ob das unvermeidliche Elend so oder anders verteilt werden soll. Für
die zweite Verteilungsort würde der Umstand sprechen, daß bei der ersten, wo
alle Handwerksgenossen gleich kümmerlich fortvegetiren, kein technischer Fort¬
schritt möglich ist, und die zweite Verteilungsart vollzieht sich ja, wie der
Augenschein lehrt, auch ohne Organisation und Privilegien von selbst.

Selbstverständlich leugnen wir nicht, daß durch Organisationen im ein¬
zelnen viel gebessert werden könnte, und wünschen von Herzen, daß das ge¬
schehe. Nübling empfiehlt für das Schnstergewerbe eine Zwangstörperschaft,
die alle Schuhmacher und Schuhfabrikanten des Reichs, die Schuhe auf dem
innern Markte absetzen wollen, vereinigen und die Pflicht erhalten soll, alle
Ramschware auszulaufen, und das Recht, solchen Schuhmachern und Fabrikanten,
die zu viel oder zu geringwertige Schuhe erzeugen, die weitere Produktion zu
verbieten. Ferner sollen die Schuhmacher Produktivgenossenschaften bilden, und
zwar glaubt Nübling, daß zur Begründung von Ledereinkaufsgeuossenschaften
die Mittel der kleinen Meister hinreichen würden, wenn sich nnr ihre Kunden
zur Barzahlung verstehen wollten, daß dagegen die Beschaffung von Maschinen
"ur mit Staatshilfe möglich sein werde. Gegen Zwangsgenosseuschaften werden


Die Lage des Handwerks

natsrecht der Zünfte eben nicht bewährt habe und nnertrüglich geworden sei.
Wie diese ihre Aufgabe gelöst haben, das lehren u.a. die Mitteilungen, die
Dr. Cohen aus der Geschichte des Augsburger Kistlergewerbes macht. Es war
den dortigen Kistlern (Schreinern) im sechzehnten Jahrhundert nicht gestattet,
mehr als zwei Gesellen zu halten. Wenn nun, was häusig vorkam, ein Meister
um die Erlaubnis bat, mehr Gesellen einzustellen, so wurde er gewöhn¬
lich mit der Begründung abgewiesen, daß es genug kleine Meister gebe,
die viel Kinder und keine Arbeit hätten und die Bestellungen ebenso gut aus¬
führen könnten wie die Gesellen der größern Meister. Die Zunftordnung
konnte also nicht verhindern, daß viele kleine Meister Not litten, sie konnte
höchstens dafür sorgen, daß es den wohlhabenden und strebsamern sehr schwer
wurde, aus dem allgemeinen Elend emporzusteigen. Und das ist eine der Vor¬
fragen, die sich die Handwerksmeister bei ihren Organisationsplänen vorzulegen
haben. Daran, daß das Überangebot von Händen und Köpfen die Menschen¬
arbeit wohlfeil macht, kann keine Organisation etwas ändern; sie müssen sich
also fragen: Was wollen wir eigentlich? Wollen wir es erzwingen, daß alle
jungen Handwerker zum Meisterrecht gelangen, aber sich zeitlebens als Klein¬
meister in Dürftigkeit abquälen müssen, oder wollen wir einer kleinen Anzahl
von Meistern das Privilegium verleihen, durch Ausbeutung von Lehrlingen
und Gesellen wohlhabend zu werden? Sehr genau und richtig hat Nübling
selbst (III, 253) das alte Meisterrecht definirt als das Recht, „mit der Arbeit
eines andern Zwischenhandel zu treiben." Der Meister ist für den Gesellen
und für den sogenannten Lehrling dasselbe, was der Verleger und der Ma¬
gazininhaber für den Hausindustrielleu sind. Die Frage läuft also darauf
hinaus, ob das unvermeidliche Elend so oder anders verteilt werden soll. Für
die zweite Verteilungsort würde der Umstand sprechen, daß bei der ersten, wo
alle Handwerksgenossen gleich kümmerlich fortvegetiren, kein technischer Fort¬
schritt möglich ist, und die zweite Verteilungsart vollzieht sich ja, wie der
Augenschein lehrt, auch ohne Organisation und Privilegien von selbst.

Selbstverständlich leugnen wir nicht, daß durch Organisationen im ein¬
zelnen viel gebessert werden könnte, und wünschen von Herzen, daß das ge¬
schehe. Nübling empfiehlt für das Schnstergewerbe eine Zwangstörperschaft,
die alle Schuhmacher und Schuhfabrikanten des Reichs, die Schuhe auf dem
innern Markte absetzen wollen, vereinigen und die Pflicht erhalten soll, alle
Ramschware auszulaufen, und das Recht, solchen Schuhmachern und Fabrikanten,
die zu viel oder zu geringwertige Schuhe erzeugen, die weitere Produktion zu
verbieten. Ferner sollen die Schuhmacher Produktivgenossenschaften bilden, und
zwar glaubt Nübling, daß zur Begründung von Ledereinkaufsgeuossenschaften
die Mittel der kleinen Meister hinreichen würden, wenn sich nnr ihre Kunden
zur Barzahlung verstehen wollten, daß dagegen die Beschaffung von Maschinen
»ur mit Staatshilfe möglich sein werde. Gegen Zwangsgenosseuschaften werden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/179>, abgerufen am 29.06.2024.