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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Die Lage des Handwerks

gewerbe in Württemberg erfahren wir, das; es in Deutschland etwa tausend
Schuhfabriken giebt, von denen beinahe neunzig in Württemberg stehen. Es
ist ohne weiteres klar, daß diese tausend Fabriken, die im Jahre vielleicht
fünfzig Millionen Paar Schuhe anfertigen, nur durch den Export bestehen
können, da es in keiner Stadt und in keinem Dorfe an den für den einheimischen
Bedarf hinreichenden Schustern fehlt. Es müßte, wenn nicht zu viel Menschcn-
elcnd drauhiuge, ein ergötzliches Schauspiel genannt werden, wie sich die Schuster
aller Länder um die Füße ihrer Mitmenschen balgen. Die Württemberger
Schuster haben ehedem Osterreich, Frankreich, die Schweiz und Italien beschuht.
Zuerst wurde ihnen von Prager Fabrikanten das österreichische Absatzgebiet
entrissen (die Wiener Fabrikanten verlegen sich, wenn wir nicht irren, seit
einigen Jahrzehnten vorzugsweise auf die Veschuhung der Orientalen). Dann
fingen amerikanische und Metzer Fabrikanten an, ihnen Frankreich, die Schweiz
und Italien streitig zu machen. Zuletzt, wie nicht anders zu erwarten war,
haben sich auch diese Länder der Schuhfabrikatiou zugewandt, und jetzt hat
eine Mailänder Schuhfabrik fast in alle" bedeutendem deutscheu Städten Filialen
angelegt, die nicht allein elegantes und billiges Schuhwerk verkaufen, sondern
auch daS Ausbessern und Befohlen besorgen! Ist es nicht ein reines Narren-
spiel, daß die Deutschen schlechterdings die Italiener und die Italiener die
Deutschen desabuser wollen? Und was für interessante Streitigkeiten zwischen
den Industriellen eines und desselben Landes entwickeln sich daraus! Während
der Zentralverband deutscher Industriellen die Erhöhung der Zölle ans gewisse
Ledersorten verlangt, protestiren die Tuttlinger Schuhfabriken dagegen, weil
sie, wie sie sagen, davon mit Vernichtung bedroht würden, und bitten, nun
solle lieber die Schweiz und Frankreich zur Herabsetzung ihrer Schuhzölle ver¬
anlassen. "Für den Tuttliuger, bemerkt Nübling, giebt es nur eine Erwägung:
er muß dem Amerikaner Leder abkaufen und dieses zu Schweizer- und Fran-
zoseuschuheu verarbeiten, sonst macht der Amerikaner selbst Schuhe daraus und
wirft den Tuttlinger aus der Schweiz und aus Frankreich hinaus." Diese
Betrachtung der Entwicklung des Schustergewerbes genügt allein schon, den
Kern der Handwerker- und der Arbeiterfrage deutlich erkennen zu lasse". Man
kann ihn in dein Satze aussprechen, daß das Elend der Mehrzahl der gewerb¬
lichen Arbeiter unabwendbar ist, sobald ihre Zahl der Zahl der in den Ur¬
produktionen beschäftigten gleichkommt oder sie gar übersteigt. Zwar macht
die stete Vermehrung der Bedürfnisse immer neue Gewerbszweige lebensfähig
und notwendig, aber gleichzeitig sorgt die Vervollkommnung der Technik dafür,
daß dieselbe Warenmenge von einer immer kleinern Anzahl von Arbeitern
erzeugt werden kann.")



Die Sache läßt sich auch dnrch folgende Betrachtung klarmache". Das wirkliche Ein-
kommen besteht in den Snchgüteru, die jeder mit seiner Geldeinnahme kauft oder ohne Kauf
genießt. Alle Kaufgeschäfte haben mir den Zweck, Güter einzutauschen. Die großartigste und
Äreuzboteu IV 1895 W
Die Lage des Handwerks

gewerbe in Württemberg erfahren wir, das; es in Deutschland etwa tausend
Schuhfabriken giebt, von denen beinahe neunzig in Württemberg stehen. Es
ist ohne weiteres klar, daß diese tausend Fabriken, die im Jahre vielleicht
fünfzig Millionen Paar Schuhe anfertigen, nur durch den Export bestehen
können, da es in keiner Stadt und in keinem Dorfe an den für den einheimischen
Bedarf hinreichenden Schustern fehlt. Es müßte, wenn nicht zu viel Menschcn-
elcnd drauhiuge, ein ergötzliches Schauspiel genannt werden, wie sich die Schuster
aller Länder um die Füße ihrer Mitmenschen balgen. Die Württemberger
Schuster haben ehedem Osterreich, Frankreich, die Schweiz und Italien beschuht.
Zuerst wurde ihnen von Prager Fabrikanten das österreichische Absatzgebiet
entrissen (die Wiener Fabrikanten verlegen sich, wenn wir nicht irren, seit
einigen Jahrzehnten vorzugsweise auf die Veschuhung der Orientalen). Dann
fingen amerikanische und Metzer Fabrikanten an, ihnen Frankreich, die Schweiz
und Italien streitig zu machen. Zuletzt, wie nicht anders zu erwarten war,
haben sich auch diese Länder der Schuhfabrikatiou zugewandt, und jetzt hat
eine Mailänder Schuhfabrik fast in alle» bedeutendem deutscheu Städten Filialen
angelegt, die nicht allein elegantes und billiges Schuhwerk verkaufen, sondern
auch daS Ausbessern und Befohlen besorgen! Ist es nicht ein reines Narren-
spiel, daß die Deutschen schlechterdings die Italiener und die Italiener die
Deutschen desabuser wollen? Und was für interessante Streitigkeiten zwischen
den Industriellen eines und desselben Landes entwickeln sich daraus! Während
der Zentralverband deutscher Industriellen die Erhöhung der Zölle ans gewisse
Ledersorten verlangt, protestiren die Tuttlinger Schuhfabriken dagegen, weil
sie, wie sie sagen, davon mit Vernichtung bedroht würden, und bitten, nun
solle lieber die Schweiz und Frankreich zur Herabsetzung ihrer Schuhzölle ver¬
anlassen. „Für den Tuttliuger, bemerkt Nübling, giebt es nur eine Erwägung:
er muß dem Amerikaner Leder abkaufen und dieses zu Schweizer- und Fran-
zoseuschuheu verarbeiten, sonst macht der Amerikaner selbst Schuhe daraus und
wirft den Tuttlinger aus der Schweiz und aus Frankreich hinaus." Diese
Betrachtung der Entwicklung des Schustergewerbes genügt allein schon, den
Kern der Handwerker- und der Arbeiterfrage deutlich erkennen zu lasse». Man
kann ihn in dein Satze aussprechen, daß das Elend der Mehrzahl der gewerb¬
lichen Arbeiter unabwendbar ist, sobald ihre Zahl der Zahl der in den Ur¬
produktionen beschäftigten gleichkommt oder sie gar übersteigt. Zwar macht
die stete Vermehrung der Bedürfnisse immer neue Gewerbszweige lebensfähig
und notwendig, aber gleichzeitig sorgt die Vervollkommnung der Technik dafür,
daß dieselbe Warenmenge von einer immer kleinern Anzahl von Arbeitern
erzeugt werden kann.")



Die Sache läßt sich auch dnrch folgende Betrachtung klarmache». Das wirkliche Ein-
kommen besteht in den Snchgüteru, die jeder mit seiner Geldeinnahme kauft oder ohne Kauf
genießt. Alle Kaufgeschäfte haben mir den Zweck, Güter einzutauschen. Die großartigste und
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[0177] Die Lage des Handwerks gewerbe in Württemberg erfahren wir, das; es in Deutschland etwa tausend Schuhfabriken giebt, von denen beinahe neunzig in Württemberg stehen. Es ist ohne weiteres klar, daß diese tausend Fabriken, die im Jahre vielleicht fünfzig Millionen Paar Schuhe anfertigen, nur durch den Export bestehen können, da es in keiner Stadt und in keinem Dorfe an den für den einheimischen Bedarf hinreichenden Schustern fehlt. Es müßte, wenn nicht zu viel Menschcn- elcnd drauhiuge, ein ergötzliches Schauspiel genannt werden, wie sich die Schuster aller Länder um die Füße ihrer Mitmenschen balgen. Die Württemberger Schuster haben ehedem Osterreich, Frankreich, die Schweiz und Italien beschuht. Zuerst wurde ihnen von Prager Fabrikanten das österreichische Absatzgebiet entrissen (die Wiener Fabrikanten verlegen sich, wenn wir nicht irren, seit einigen Jahrzehnten vorzugsweise auf die Veschuhung der Orientalen). Dann fingen amerikanische und Metzer Fabrikanten an, ihnen Frankreich, die Schweiz und Italien streitig zu machen. Zuletzt, wie nicht anders zu erwarten war, haben sich auch diese Länder der Schuhfabrikatiou zugewandt, und jetzt hat eine Mailänder Schuhfabrik fast in alle» bedeutendem deutscheu Städten Filialen angelegt, die nicht allein elegantes und billiges Schuhwerk verkaufen, sondern auch daS Ausbessern und Befohlen besorgen! Ist es nicht ein reines Narren- spiel, daß die Deutschen schlechterdings die Italiener und die Italiener die Deutschen desabuser wollen? Und was für interessante Streitigkeiten zwischen den Industriellen eines und desselben Landes entwickeln sich daraus! Während der Zentralverband deutscher Industriellen die Erhöhung der Zölle ans gewisse Ledersorten verlangt, protestiren die Tuttlinger Schuhfabriken dagegen, weil sie, wie sie sagen, davon mit Vernichtung bedroht würden, und bitten, nun solle lieber die Schweiz und Frankreich zur Herabsetzung ihrer Schuhzölle ver¬ anlassen. „Für den Tuttliuger, bemerkt Nübling, giebt es nur eine Erwägung: er muß dem Amerikaner Leder abkaufen und dieses zu Schweizer- und Fran- zoseuschuheu verarbeiten, sonst macht der Amerikaner selbst Schuhe daraus und wirft den Tuttlinger aus der Schweiz und aus Frankreich hinaus." Diese Betrachtung der Entwicklung des Schustergewerbes genügt allein schon, den Kern der Handwerker- und der Arbeiterfrage deutlich erkennen zu lasse». Man kann ihn in dein Satze aussprechen, daß das Elend der Mehrzahl der gewerb¬ lichen Arbeiter unabwendbar ist, sobald ihre Zahl der Zahl der in den Ur¬ produktionen beschäftigten gleichkommt oder sie gar übersteigt. Zwar macht die stete Vermehrung der Bedürfnisse immer neue Gewerbszweige lebensfähig und notwendig, aber gleichzeitig sorgt die Vervollkommnung der Technik dafür, daß dieselbe Warenmenge von einer immer kleinern Anzahl von Arbeitern erzeugt werden kann.") Die Sache läßt sich auch dnrch folgende Betrachtung klarmache». Das wirkliche Ein- kommen besteht in den Snchgüteru, die jeder mit seiner Geldeinnahme kauft oder ohne Kauf genießt. Alle Kaufgeschäfte haben mir den Zweck, Güter einzutauschen. Die großartigste und Äreuzboteu IV 1895 W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/177>, abgerufen am 04.07.2024.