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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

gemäßen Anschauungen ausgetrieben und der Finn einen Lebenszweck gegeben
hätten. Aber es wurden ihnen keine Kinder geboren, ein thätiges Leben blieb
der jungen Frau versagt, sie fing an, Bücher zu kaufen und für fremder Leute
Kinder Strümpfe zu stricken und Hemdchen zu nähen. Und Heinrich? Assessor
Hering wurde Regierungsrat und "repräsentirte" ans eigne Hand weiter in
piu-Mu" iuüdölium. Er hatte mit der Wahl seiner Frau kein Glück gehabt
trotz ihres Vermögens. Sie zeigte sich eben dem Verständnis für staats-
mäuuisches Wesen unzugänglich und verbnute ihm seine Laufbahn. Denn das;
er ohne sie Minister werden würde, war ihm nicht zweifelhaft.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Der Breslauer Parteitag.

Van allen Parteitagen ist der sozinldemo-
kratische der erträglichste. Neues vermag er zwar auch nicht mehr zu bringen
-- so weit zahlt er der Greisenhaftigkeit unsrer Zeit den schuldigen Tribut --,
aber wahrend auf den Versammlungen der herrschenden Parteien die bekannten
Redensarten von Automaten hernntergeklappert werden, die dabei so wenig fühlen
wie ein Hammerstein beim Preise der christlich-germanischen Tugend, sieht und hört
man bei den Sozialdemokraten warme Menschen, die warm von menschlichen Dingen
reden. Wenn Frau Zetkin die Lage des Proletarierweibes schildert, wenn Gebr
aus Brcmerhaven in die Hölle hinabsteigt, wo die Kohlenzieher der Dampfer ar¬
beiten, und die um so furchtbarer wird, je komfortabler die Salons droben aus¬
gestattet werden, und je rascher die Seeriesen zum Ziele fliegen, da könnte ein
Tolstoi, ein Dostojewski Stoff zu einem Romane schöpfen, ein Bürger, ein Schiller,
ein Freiligrath sich zu einem Gedicht begeistern lassen. Und wie interessant, wie
neu in der Weltgeschichte ist doch eine große politische Partei, die aus lauter so
armen Teufeln besteht, daß 3000 Mark Einkommen als das höchste Maß dessen.
was ein Parteiführer zu beziehen berechtigt sei, erscheinen, daß der Glückliche, der
sie bezieht, beneidet und bekrittelt wird, und daß die Forderung, das darüber
hinausgehende müsse gestrichen werden, auf jedem Parteitage erhoben wird! Und
das in einer Zeit, wo die Gerichtsschreiber 3000 Mark Besoldung beziehen, die
Brauereidirektoreu 60- bis 100 000 Mark einnehmen, und der Herr, der das un-
besoldete Ehrenamt eines Vorsitzenden der Tiefbauberufsgeuosseuschaft bekleidet, sich
soeben die Entschädigung, die ihm für Zeitversäumnis gewährt wird, von 10 000
auf 1ö000 Mark hat erhöhen lassen!

Wer weiß, wie lange wir diesen einzigen leidlich interessanten unter den im
allgemeinen so öden Parteitagen noch genießen werden! Die Verhandlungen über
den Hnnptgegenftand, über das Agrarprogramm, beweisen, daß die Partei am An¬
fang/ihres Endes angelangt ist; sie haben unsre in Heft 33 dargelegte Auffassung
durchaus bestätigt. Die Partei kommt nicht mehr vorwärts, Joell sie das mögliche
Maß ihrer Ausdehnung erreicht hat. Sie ist die Partei der Industriearbeiter,
und soweit diese nicht von übermächtigen Unternehmern oder durch den religiösen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

gemäßen Anschauungen ausgetrieben und der Finn einen Lebenszweck gegeben
hätten. Aber es wurden ihnen keine Kinder geboren, ein thätiges Leben blieb
der jungen Frau versagt, sie fing an, Bücher zu kaufen und für fremder Leute
Kinder Strümpfe zu stricken und Hemdchen zu nähen. Und Heinrich? Assessor
Hering wurde Regierungsrat und „repräsentirte" ans eigne Hand weiter in
piu-Mu« iuüdölium. Er hatte mit der Wahl seiner Frau kein Glück gehabt
trotz ihres Vermögens. Sie zeigte sich eben dem Verständnis für staats-
mäuuisches Wesen unzugänglich und verbnute ihm seine Laufbahn. Denn das;
er ohne sie Minister werden würde, war ihm nicht zweifelhaft.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Der Breslauer Parteitag.

Van allen Parteitagen ist der sozinldemo-
kratische der erträglichste. Neues vermag er zwar auch nicht mehr zu bringen
— so weit zahlt er der Greisenhaftigkeit unsrer Zeit den schuldigen Tribut —,
aber wahrend auf den Versammlungen der herrschenden Parteien die bekannten
Redensarten von Automaten hernntergeklappert werden, die dabei so wenig fühlen
wie ein Hammerstein beim Preise der christlich-germanischen Tugend, sieht und hört
man bei den Sozialdemokraten warme Menschen, die warm von menschlichen Dingen
reden. Wenn Frau Zetkin die Lage des Proletarierweibes schildert, wenn Gebr
aus Brcmerhaven in die Hölle hinabsteigt, wo die Kohlenzieher der Dampfer ar¬
beiten, und die um so furchtbarer wird, je komfortabler die Salons droben aus¬
gestattet werden, und je rascher die Seeriesen zum Ziele fliegen, da könnte ein
Tolstoi, ein Dostojewski Stoff zu einem Romane schöpfen, ein Bürger, ein Schiller,
ein Freiligrath sich zu einem Gedicht begeistern lassen. Und wie interessant, wie
neu in der Weltgeschichte ist doch eine große politische Partei, die aus lauter so
armen Teufeln besteht, daß 3000 Mark Einkommen als das höchste Maß dessen.
was ein Parteiführer zu beziehen berechtigt sei, erscheinen, daß der Glückliche, der
sie bezieht, beneidet und bekrittelt wird, und daß die Forderung, das darüber
hinausgehende müsse gestrichen werden, auf jedem Parteitage erhoben wird! Und
das in einer Zeit, wo die Gerichtsschreiber 3000 Mark Besoldung beziehen, die
Brauereidirektoreu 60- bis 100 000 Mark einnehmen, und der Herr, der das un-
besoldete Ehrenamt eines Vorsitzenden der Tiefbauberufsgeuosseuschaft bekleidet, sich
soeben die Entschädigung, die ihm für Zeitversäumnis gewährt wird, von 10 000
auf 1ö000 Mark hat erhöhen lassen!

Wer weiß, wie lange wir diesen einzigen leidlich interessanten unter den im
allgemeinen so öden Parteitagen noch genießen werden! Die Verhandlungen über
den Hnnptgegenftand, über das Agrarprogramm, beweisen, daß die Partei am An¬
fang/ihres Endes angelangt ist; sie haben unsre in Heft 33 dargelegte Auffassung
durchaus bestätigt. Die Partei kommt nicht mehr vorwärts, Joell sie das mögliche
Maß ihrer Ausdehnung erreicht hat. Sie ist die Partei der Industriearbeiter,
und soweit diese nicht von übermächtigen Unternehmern oder durch den religiösen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/149>, abgerufen am 04.07.2024.