Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Redner der Paulskirche

Verfassungsgeschichte geschrieben hat und bis in seine spätern Lebensjahre unter
uus für einen Politiker galt, einen der "Regenten" der sechs großen Staaten
auf zwölf Jahre zum Ncichsoberhcmpt zu wählen vorschlägt, ohne auch nur
zu fragen, ob nicht der bescheidenste unter ihnen für die ihm zugemutete Ehre
sich bestens bedanken würde (Antrag Waitz und Genossen). Wie einzig und
vereinzelt unter seinen Kollegen steht Dcchlmann da, echt historisch und praktisch
als Politiker!

Das Merkwürdigste in dieser Art -- ein Kapitel aus Thomas Morus
oder auch aus Jean Jacques Rousseau -- sind die "Grundrechte," z. B.: "Die
öffentlichen Ämter sind für alle dazu Befähigten gleich zugänglich" oder "Allen
Unbemittelten soll auf allen öffentlichen Vilduugsaustalten freier Unterricht
gewährt werden," ein Paragraph, der wohl, praktisch betrachtet, gerade so viel
oder so wenig Wert hat wie der folgende: "Es steht einem jeden frei, seinen
Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will."
Noch mehr verheißt der Bericht eines andern Ausschusses: "Der deutschen
Jugend wird durch genügende öffentliche Unterrichtsanstalten das Recht auf
allgemeine Menschen- und Vürgerbildung (unentgeltlich) gewährleistet." Die
Berichterstatter sind ein Jurist und ein Schulmann. Unter den Rednern zu
den einzelnen Gegenständen der "Grundrechte" -- Abschaffung des Adels und
der Orden -- erscheinen dann wieder die Dichter und Gelehrten. Der alte
Arndt spricht gemütvoll von seinem eignen Bauernstande und erklärt sich gegen
die Vorrechte, aber für die Erhaltung des Adels. Jakob Grimm spricht in
derselben Richtung, und zwar in dankbarer Rücksicht auf die adlichen Epiker
und Minnesänger des dreizehnten Jahrhunderts. Er ist gegen neuen Adel,
denn hinter die Präposition gehöre ein Orts- oder Gutsname, nicht eine ur¬
sprünglich bürgerliche Familienbezeichnung. Also der berühmte Grammatiker!*)
Und über die Orden reicht er seine "Anträge" ein: Alles wird abgeschafft, es
giebt nur einen Orden für das Militär, in einer Klasse für alle Grade ver¬
liehen und durch das Kriegsgericht zuerkannt. Aber die Rede ist ganz hübsch,
nur war sie an ihrer Stelle gewiß sehr überflüssig und unpassend.

Am meisten Interesse haben vielleicht heute noch sür uns die Verhand¬
lungen über das Wahlgesetz (S. 46ö ff.). Gegenstand der Debatte ist die "Be¬
schränkung" der unselbständigen Arbeiter, also Dienstboten, Gesellen u. s. w.,
die der Entwurf vorgeschlagen hat. Löwe aus Calbe ist dagegen und spricht
zu Gunsten des Sozialismus, der sich, wenn man ihm politische Gleichberech¬
tigung gewähre, allmählich friedlich dem herrschenden Staat angliedern werde.
Beckerath und Bassermann sind für den Entwurf. Der eine warnt vor solcher
Täuschung; wer auf sozialem Gebiete unbefriedigt sei, finde dafür in poli¬
tischen Rechten keinen Ersatz, sondern nur neue Mittel zum Kampf; der andre



D D. N. amit hatte er doch ganz Recht.
Die Redner der Paulskirche

Verfassungsgeschichte geschrieben hat und bis in seine spätern Lebensjahre unter
uus für einen Politiker galt, einen der „Regenten" der sechs großen Staaten
auf zwölf Jahre zum Ncichsoberhcmpt zu wählen vorschlägt, ohne auch nur
zu fragen, ob nicht der bescheidenste unter ihnen für die ihm zugemutete Ehre
sich bestens bedanken würde (Antrag Waitz und Genossen). Wie einzig und
vereinzelt unter seinen Kollegen steht Dcchlmann da, echt historisch und praktisch
als Politiker!

Das Merkwürdigste in dieser Art — ein Kapitel aus Thomas Morus
oder auch aus Jean Jacques Rousseau — sind die „Grundrechte," z. B.: „Die
öffentlichen Ämter sind für alle dazu Befähigten gleich zugänglich" oder „Allen
Unbemittelten soll auf allen öffentlichen Vilduugsaustalten freier Unterricht
gewährt werden," ein Paragraph, der wohl, praktisch betrachtet, gerade so viel
oder so wenig Wert hat wie der folgende: „Es steht einem jeden frei, seinen
Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will."
Noch mehr verheißt der Bericht eines andern Ausschusses: „Der deutschen
Jugend wird durch genügende öffentliche Unterrichtsanstalten das Recht auf
allgemeine Menschen- und Vürgerbildung (unentgeltlich) gewährleistet." Die
Berichterstatter sind ein Jurist und ein Schulmann. Unter den Rednern zu
den einzelnen Gegenständen der „Grundrechte" — Abschaffung des Adels und
der Orden — erscheinen dann wieder die Dichter und Gelehrten. Der alte
Arndt spricht gemütvoll von seinem eignen Bauernstande und erklärt sich gegen
die Vorrechte, aber für die Erhaltung des Adels. Jakob Grimm spricht in
derselben Richtung, und zwar in dankbarer Rücksicht auf die adlichen Epiker
und Minnesänger des dreizehnten Jahrhunderts. Er ist gegen neuen Adel,
denn hinter die Präposition gehöre ein Orts- oder Gutsname, nicht eine ur¬
sprünglich bürgerliche Familienbezeichnung. Also der berühmte Grammatiker!*)
Und über die Orden reicht er seine „Anträge" ein: Alles wird abgeschafft, es
giebt nur einen Orden für das Militär, in einer Klasse für alle Grade ver¬
liehen und durch das Kriegsgericht zuerkannt. Aber die Rede ist ganz hübsch,
nur war sie an ihrer Stelle gewiß sehr überflüssig und unpassend.

Am meisten Interesse haben vielleicht heute noch sür uns die Verhand¬
lungen über das Wahlgesetz (S. 46ö ff.). Gegenstand der Debatte ist die „Be¬
schränkung" der unselbständigen Arbeiter, also Dienstboten, Gesellen u. s. w.,
die der Entwurf vorgeschlagen hat. Löwe aus Calbe ist dagegen und spricht
zu Gunsten des Sozialismus, der sich, wenn man ihm politische Gleichberech¬
tigung gewähre, allmählich friedlich dem herrschenden Staat angliedern werde.
Beckerath und Bassermann sind für den Entwurf. Der eine warnt vor solcher
Täuschung; wer auf sozialem Gebiete unbefriedigt sei, finde dafür in poli¬
tischen Rechten keinen Ersatz, sondern nur neue Mittel zum Kampf; der andre



D D. N. amit hatte er doch ganz Recht.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0140" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221116"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Redner der Paulskirche</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_431" prev="#ID_430"> Verfassungsgeschichte geschrieben hat und bis in seine spätern Lebensjahre unter<lb/>
uus für einen Politiker galt, einen der &#x201E;Regenten" der sechs großen Staaten<lb/>
auf zwölf Jahre zum Ncichsoberhcmpt zu wählen vorschlägt, ohne auch nur<lb/>
zu fragen, ob nicht der bescheidenste unter ihnen für die ihm zugemutete Ehre<lb/>
sich bestens bedanken würde (Antrag Waitz und Genossen). Wie einzig und<lb/>
vereinzelt unter seinen Kollegen steht Dcchlmann da, echt historisch und praktisch<lb/>
als Politiker!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_432"> Das Merkwürdigste in dieser Art &#x2014; ein Kapitel aus Thomas Morus<lb/>
oder auch aus Jean Jacques Rousseau &#x2014; sind die &#x201E;Grundrechte," z. B.: &#x201E;Die<lb/>
öffentlichen Ämter sind für alle dazu Befähigten gleich zugänglich" oder &#x201E;Allen<lb/>
Unbemittelten soll auf allen öffentlichen Vilduugsaustalten freier Unterricht<lb/>
gewährt werden," ein Paragraph, der wohl, praktisch betrachtet, gerade so viel<lb/>
oder so wenig Wert hat wie der folgende: &#x201E;Es steht einem jeden frei, seinen<lb/>
Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will."<lb/>
Noch mehr verheißt der Bericht eines andern Ausschusses: &#x201E;Der deutschen<lb/>
Jugend wird durch genügende öffentliche Unterrichtsanstalten das Recht auf<lb/>
allgemeine Menschen- und Vürgerbildung (unentgeltlich) gewährleistet." Die<lb/>
Berichterstatter sind ein Jurist und ein Schulmann. Unter den Rednern zu<lb/>
den einzelnen Gegenständen der &#x201E;Grundrechte" &#x2014; Abschaffung des Adels und<lb/>
der Orden &#x2014; erscheinen dann wieder die Dichter und Gelehrten. Der alte<lb/>
Arndt spricht gemütvoll von seinem eignen Bauernstande und erklärt sich gegen<lb/>
die Vorrechte, aber für die Erhaltung des Adels. Jakob Grimm spricht in<lb/>
derselben Richtung, und zwar in dankbarer Rücksicht auf die adlichen Epiker<lb/>
und Minnesänger des dreizehnten Jahrhunderts. Er ist gegen neuen Adel,<lb/>
denn hinter die Präposition gehöre ein Orts- oder Gutsname, nicht eine ur¬<lb/>
sprünglich bürgerliche Familienbezeichnung. Also der berühmte Grammatiker!*)<lb/>
Und über die Orden reicht er seine &#x201E;Anträge" ein: Alles wird abgeschafft, es<lb/>
giebt nur einen Orden für das Militär, in einer Klasse für alle Grade ver¬<lb/>
liehen und durch das Kriegsgericht zuerkannt. Aber die Rede ist ganz hübsch,<lb/>
nur war sie an ihrer Stelle gewiß sehr überflüssig und unpassend.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_433" next="#ID_434"> Am meisten Interesse haben vielleicht heute noch sür uns die Verhand¬<lb/>
lungen über das Wahlgesetz (S. 46ö ff.). Gegenstand der Debatte ist die &#x201E;Be¬<lb/>
schränkung" der unselbständigen Arbeiter, also Dienstboten, Gesellen u. s. w.,<lb/>
die der Entwurf vorgeschlagen hat. Löwe aus Calbe ist dagegen und spricht<lb/>
zu Gunsten des Sozialismus, der sich, wenn man ihm politische Gleichberech¬<lb/>
tigung gewähre, allmählich friedlich dem herrschenden Staat angliedern werde.<lb/>
Beckerath und Bassermann sind für den Entwurf. Der eine warnt vor solcher<lb/>
Täuschung; wer auf sozialem Gebiete unbefriedigt sei, finde dafür in poli¬<lb/>
tischen Rechten keinen Ersatz, sondern nur neue Mittel zum Kampf; der andre</p><lb/>
          <note xml:id="FID_13" place="foot"> D<note type="byline"> D. N.</note> amit hatte er doch ganz Recht.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0140] Die Redner der Paulskirche Verfassungsgeschichte geschrieben hat und bis in seine spätern Lebensjahre unter uus für einen Politiker galt, einen der „Regenten" der sechs großen Staaten auf zwölf Jahre zum Ncichsoberhcmpt zu wählen vorschlägt, ohne auch nur zu fragen, ob nicht der bescheidenste unter ihnen für die ihm zugemutete Ehre sich bestens bedanken würde (Antrag Waitz und Genossen). Wie einzig und vereinzelt unter seinen Kollegen steht Dcchlmann da, echt historisch und praktisch als Politiker! Das Merkwürdigste in dieser Art — ein Kapitel aus Thomas Morus oder auch aus Jean Jacques Rousseau — sind die „Grundrechte," z. B.: „Die öffentlichen Ämter sind für alle dazu Befähigten gleich zugänglich" oder „Allen Unbemittelten soll auf allen öffentlichen Vilduugsaustalten freier Unterricht gewährt werden," ein Paragraph, der wohl, praktisch betrachtet, gerade so viel oder so wenig Wert hat wie der folgende: „Es steht einem jeden frei, seinen Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will." Noch mehr verheißt der Bericht eines andern Ausschusses: „Der deutschen Jugend wird durch genügende öffentliche Unterrichtsanstalten das Recht auf allgemeine Menschen- und Vürgerbildung (unentgeltlich) gewährleistet." Die Berichterstatter sind ein Jurist und ein Schulmann. Unter den Rednern zu den einzelnen Gegenständen der „Grundrechte" — Abschaffung des Adels und der Orden — erscheinen dann wieder die Dichter und Gelehrten. Der alte Arndt spricht gemütvoll von seinem eignen Bauernstande und erklärt sich gegen die Vorrechte, aber für die Erhaltung des Adels. Jakob Grimm spricht in derselben Richtung, und zwar in dankbarer Rücksicht auf die adlichen Epiker und Minnesänger des dreizehnten Jahrhunderts. Er ist gegen neuen Adel, denn hinter die Präposition gehöre ein Orts- oder Gutsname, nicht eine ur¬ sprünglich bürgerliche Familienbezeichnung. Also der berühmte Grammatiker!*) Und über die Orden reicht er seine „Anträge" ein: Alles wird abgeschafft, es giebt nur einen Orden für das Militär, in einer Klasse für alle Grade ver¬ liehen und durch das Kriegsgericht zuerkannt. Aber die Rede ist ganz hübsch, nur war sie an ihrer Stelle gewiß sehr überflüssig und unpassend. Am meisten Interesse haben vielleicht heute noch sür uns die Verhand¬ lungen über das Wahlgesetz (S. 46ö ff.). Gegenstand der Debatte ist die „Be¬ schränkung" der unselbständigen Arbeiter, also Dienstboten, Gesellen u. s. w., die der Entwurf vorgeschlagen hat. Löwe aus Calbe ist dagegen und spricht zu Gunsten des Sozialismus, der sich, wenn man ihm politische Gleichberech¬ tigung gewähre, allmählich friedlich dem herrschenden Staat angliedern werde. Beckerath und Bassermann sind für den Entwurf. Der eine warnt vor solcher Täuschung; wer auf sozialem Gebiete unbefriedigt sei, finde dafür in poli¬ tischen Rechten keinen Ersatz, sondern nur neue Mittel zum Kampf; der andre D D. N. amit hatte er doch ganz Recht.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/140
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220975/140>, abgerufen am 29.06.2024.