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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Der deutsche Student am Lüde des neunzehnten Jahrhunderts

studentischen Kreisen findet, und der die falsche Meinung zu Grunde liegt,
daß Armut eine Schande sei. Man will nicht arm scheinen, daher nimmt man
den Schein des Neichseins um, und diesem falschen Schein bringt man das
Glück und das Behagen der Seinigen zum Opfer." Im Zusammenhange
damit unterzieht Ziegler die Art, wie heute an den meisten Universitäten das
Stipendienwesen gehandhabt wird, einer Prüfung, die das wenig erfreuliche
Ergebnis liefert, daß die gegenwärtige Art der Stipendienverteilung in vielen
Fällen zu einem unfeinen Empfinden in Geldsachen verleitet. Während es
doch eine Ehrenfvrderung aller anständigen Menschen sei, sich nichts schenken
zu lassen, sondern durch eine Leistung zu verdienen, was man von einem
andern annimmt, nehme es die Mehrheit der Stipendienempfänger damit durch¬
aus nicht genau. Das Gefühl, eine Gegenleistung zu übernehmen, werde bei
dem heutigen Verfahren völlig abgestumpft, überdies wirke die Geringfügigkeit
der meisten Stipendien geradezu demoralisirend, weil ein Zuschuß von vierzig
bis fünfzig Mark für die meisten Wohl nur eine Versuchung zum Verjubeln
enthalte. Um dem vorzubeugen, empfiehlt Ziegler zwei Änderungen. Zunächst
solle man die kleinen Stipendien gänzlich beseitigen und weniger als 150 bis
200 Mark im Semester überhaupt nicht vergeben; sodann aber sei die Ge¬
währung eines Stipendiums in jedem Falle davon abhängig zu macheu, daß
der Bewerber als Probe seines Fleißes eine Arbeit über ein freigewähltes
Thema vorlege. Durch diese beiden Maßregeln werde man einerseits alle
Unwürdigen und auch die, die eines Stipendiums nicht bedürfen, von der
Bewerbung abschrecken, andrerseits für die Würdigen und Bedürftigen die
Möglichkeit einer wirklichen Unterstützung gewinnen.

Noch schlimmer als durch diese drei Klippen aber glaubt Ziegler die aka¬
demische Ehre durch das Laster der Prostitution gefährdet, das allerdings
durch den sogenannten Kenschheitsparagraphen mancher Verbindungen als un¬
vereinbar mit der Ehre eines "honorigen" Studenten gebrandmarkt wird.
Wenn auch nur annähernd zuträfe, was Ziegler annimmt, daß nämlich in
dem Schlamm und Schmutz, der an diesem Punkte unsers Volkslebens lagert,
Jahr für Jahr etwa dreitausend Studenten herumpatschen, so stünde es schlimm,
und wir würden ein gutes Teil der Hoffnungen, die wir auf die Zukunft
unsers Volkes setzen, endgiltig begraben müssen. Doch scheint hier der Teufel
der Statistik dem Verfasser einen kleinen Streich gespielt zu haben. Er sagt:
"Aus dem Material einer 600 bis 700 Mitglieder umfassenden studentischen
Krankenkasse in Berlin ist ermittelt worden, daß in zwei Semestern 25 Prozent,
d. h. ein Viertel der dieser Kasse angehörigen Studenten geschlechtskrank waren!
Wäre nun auch der Schluß von der besonders versuchungsreichen Großstadt
und von einem vielleicht eben deshalb aufgesuchten Krankenkasfenverein auf
alle deutschen Studenten ein zu rascher -- er ist zur Schande der deutschen
Studentenschaft öffentlich gezogen worden --, so wäre es schon genug, wen"


Der deutsche Student am Lüde des neunzehnten Jahrhunderts

studentischen Kreisen findet, und der die falsche Meinung zu Grunde liegt,
daß Armut eine Schande sei. Man will nicht arm scheinen, daher nimmt man
den Schein des Neichseins um, und diesem falschen Schein bringt man das
Glück und das Behagen der Seinigen zum Opfer." Im Zusammenhange
damit unterzieht Ziegler die Art, wie heute an den meisten Universitäten das
Stipendienwesen gehandhabt wird, einer Prüfung, die das wenig erfreuliche
Ergebnis liefert, daß die gegenwärtige Art der Stipendienverteilung in vielen
Fällen zu einem unfeinen Empfinden in Geldsachen verleitet. Während es
doch eine Ehrenfvrderung aller anständigen Menschen sei, sich nichts schenken
zu lassen, sondern durch eine Leistung zu verdienen, was man von einem
andern annimmt, nehme es die Mehrheit der Stipendienempfänger damit durch¬
aus nicht genau. Das Gefühl, eine Gegenleistung zu übernehmen, werde bei
dem heutigen Verfahren völlig abgestumpft, überdies wirke die Geringfügigkeit
der meisten Stipendien geradezu demoralisirend, weil ein Zuschuß von vierzig
bis fünfzig Mark für die meisten Wohl nur eine Versuchung zum Verjubeln
enthalte. Um dem vorzubeugen, empfiehlt Ziegler zwei Änderungen. Zunächst
solle man die kleinen Stipendien gänzlich beseitigen und weniger als 150 bis
200 Mark im Semester überhaupt nicht vergeben; sodann aber sei die Ge¬
währung eines Stipendiums in jedem Falle davon abhängig zu macheu, daß
der Bewerber als Probe seines Fleißes eine Arbeit über ein freigewähltes
Thema vorlege. Durch diese beiden Maßregeln werde man einerseits alle
Unwürdigen und auch die, die eines Stipendiums nicht bedürfen, von der
Bewerbung abschrecken, andrerseits für die Würdigen und Bedürftigen die
Möglichkeit einer wirklichen Unterstützung gewinnen.

Noch schlimmer als durch diese drei Klippen aber glaubt Ziegler die aka¬
demische Ehre durch das Laster der Prostitution gefährdet, das allerdings
durch den sogenannten Kenschheitsparagraphen mancher Verbindungen als un¬
vereinbar mit der Ehre eines „honorigen" Studenten gebrandmarkt wird.
Wenn auch nur annähernd zuträfe, was Ziegler annimmt, daß nämlich in
dem Schlamm und Schmutz, der an diesem Punkte unsers Volkslebens lagert,
Jahr für Jahr etwa dreitausend Studenten herumpatschen, so stünde es schlimm,
und wir würden ein gutes Teil der Hoffnungen, die wir auf die Zukunft
unsers Volkes setzen, endgiltig begraben müssen. Doch scheint hier der Teufel
der Statistik dem Verfasser einen kleinen Streich gespielt zu haben. Er sagt:
„Aus dem Material einer 600 bis 700 Mitglieder umfassenden studentischen
Krankenkasse in Berlin ist ermittelt worden, daß in zwei Semestern 25 Prozent,
d. h. ein Viertel der dieser Kasse angehörigen Studenten geschlechtskrank waren!
Wäre nun auch der Schluß von der besonders versuchungsreichen Großstadt
und von einem vielleicht eben deshalb aufgesuchten Krankenkasfenverein auf
alle deutschen Studenten ein zu rascher — er ist zur Schande der deutschen
Studentenschaft öffentlich gezogen worden —, so wäre es schon genug, wen»


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/78>, abgerufen am 30.06.2024.