Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Lord Vrougham, der ein Alter von neunzig Jahren erreicht hat und erst 1868
gestorben ist. Er war vornehm und reich, in hohen, einflußreichen Staats¬
stellungen, mit leitenden und regierenden Personen befreundet, in allen Ländern
Europas bewandert und stand mit ihren maßgebenden Kreisen in Zusammen¬
hang. In seiner weltmännischen Art und mancher seiner eiteln und doch nicht
völlig albernen und inhaltslosen Wunderlichkeiten erinnert er etwas an unsern
Fürsten Pückler-Muskau. Aber sein Gesichtskreis ist weiter und sein Stand¬
punkt viel höher, entsprechend den Verhältnissen der beiden Länder im Anfang
unsers Jahrhunderts. Broughams Triebfeder war Ehrgeiz. Er wollte möglichst
viel wissen und kennen, aber er wollte das auch zeigen und dadurch etwas be¬
deuten. Auf dieses Ideal arbeitet er sein Leben lang hin mit eiserner Energie.
Daneben pflegt er, weil das ebenfalls zu seinen Hilfsmitteln gehört, die Eigen¬
schaften des feinen und vornehmen Mannes, dem hier in vielen Stücken Lord
Chesterfield Vorbild war. Er hat sehr viel geschrieben, ganz verschiedenartige
Dinge, auch seine Memoiren, die bald nach seinem Tode erschienen. Gelesen
wird er nur noch wenig. Seine Bildung, auch die praktische, war umfang¬
reich, aber nicht gründlich, nicht tief und ernsthaft. Das merkt man seinen
Büchern an, und in zeitgenössischen Dingen beanstanden Kenner der einzelnen
Vorgänge seine Zuverlässigkeit. Zu den Erfordernissen des vollendet gebildeten
Mannes gehörte nach seinem Lebensideal ein Sitz im Unterhause. Hier fand
er bald als Redner ungewöhnliche Beachtung. Das große Geschlecht des ver¬
gangnen Jahrhunderts war mit dem jüngern Pitt und Fox zu Grabe gegangen.
Unter den jetzigen wurde Lord Brougham bald einer der ersten Redner. Schlie߬
lich einigte sich das allgemeine Urteil dahin, daß er an Gewandtheit und Viel¬
seitigkeit in zusammenhängender Rede sowohl wie in der Debatte allen andern
überlegen sei.

Wie es seine breite Bilduugsgrundlage und seine ganze theoretische Rich¬
tung erwarten lassen, hatte er von früher Jugend an alte Redner studirt und
besonders dem ersten von allen, Demosthenes, sein Leben lang großes Interesse
bewahrt. Er suchte ihn zu verstehen und erklärte sich ihn aus eignen Er¬
fahrungen an dem modernen praktischen Leben, und andrerseits legte er sich
auch die Frage vor: wozu kann man Demosthenes jetzt noch brauchen? Was
den ersten Punkt anlangt, so hat ein verdienter deutscher Schulmann und
Demostheneserklärer, Rehdcmtz, den englischen Staatsmann als maßgebende
Autorität zuerst zu Ehre" gebracht. Der Maun des praktischen Erfolges sollte
den Gesichtskreis der deutscheu Worterklärnng erweitern, der vornehme Ver¬
treter einer hohen Lebensstellung den Standpunkt der Auffassung angemessen
erhöhen. Auffallend ist nun -- und das wäre die andre Seite --, daß der
Mann, der den griechischen Rednern das emsigste Studium zuwendete, der das
Wesen des Demosthenes erkannte und seine Bedeutung in das Sachliche legte,
in das für jede Beredsamkeit unbedingt notwendige Unterordnen aller Punkte


Lord Vrougham, der ein Alter von neunzig Jahren erreicht hat und erst 1868
gestorben ist. Er war vornehm und reich, in hohen, einflußreichen Staats¬
stellungen, mit leitenden und regierenden Personen befreundet, in allen Ländern
Europas bewandert und stand mit ihren maßgebenden Kreisen in Zusammen¬
hang. In seiner weltmännischen Art und mancher seiner eiteln und doch nicht
völlig albernen und inhaltslosen Wunderlichkeiten erinnert er etwas an unsern
Fürsten Pückler-Muskau. Aber sein Gesichtskreis ist weiter und sein Stand¬
punkt viel höher, entsprechend den Verhältnissen der beiden Länder im Anfang
unsers Jahrhunderts. Broughams Triebfeder war Ehrgeiz. Er wollte möglichst
viel wissen und kennen, aber er wollte das auch zeigen und dadurch etwas be¬
deuten. Auf dieses Ideal arbeitet er sein Leben lang hin mit eiserner Energie.
Daneben pflegt er, weil das ebenfalls zu seinen Hilfsmitteln gehört, die Eigen¬
schaften des feinen und vornehmen Mannes, dem hier in vielen Stücken Lord
Chesterfield Vorbild war. Er hat sehr viel geschrieben, ganz verschiedenartige
Dinge, auch seine Memoiren, die bald nach seinem Tode erschienen. Gelesen
wird er nur noch wenig. Seine Bildung, auch die praktische, war umfang¬
reich, aber nicht gründlich, nicht tief und ernsthaft. Das merkt man seinen
Büchern an, und in zeitgenössischen Dingen beanstanden Kenner der einzelnen
Vorgänge seine Zuverlässigkeit. Zu den Erfordernissen des vollendet gebildeten
Mannes gehörte nach seinem Lebensideal ein Sitz im Unterhause. Hier fand
er bald als Redner ungewöhnliche Beachtung. Das große Geschlecht des ver¬
gangnen Jahrhunderts war mit dem jüngern Pitt und Fox zu Grabe gegangen.
Unter den jetzigen wurde Lord Brougham bald einer der ersten Redner. Schlie߬
lich einigte sich das allgemeine Urteil dahin, daß er an Gewandtheit und Viel¬
seitigkeit in zusammenhängender Rede sowohl wie in der Debatte allen andern
überlegen sei.

Wie es seine breite Bilduugsgrundlage und seine ganze theoretische Rich¬
tung erwarten lassen, hatte er von früher Jugend an alte Redner studirt und
besonders dem ersten von allen, Demosthenes, sein Leben lang großes Interesse
bewahrt. Er suchte ihn zu verstehen und erklärte sich ihn aus eignen Er¬
fahrungen an dem modernen praktischen Leben, und andrerseits legte er sich
auch die Frage vor: wozu kann man Demosthenes jetzt noch brauchen? Was
den ersten Punkt anlangt, so hat ein verdienter deutscher Schulmann und
Demostheneserklärer, Rehdcmtz, den englischen Staatsmann als maßgebende
Autorität zuerst zu Ehre« gebracht. Der Maun des praktischen Erfolges sollte
den Gesichtskreis der deutscheu Worterklärnng erweitern, der vornehme Ver¬
treter einer hohen Lebensstellung den Standpunkt der Auffassung angemessen
erhöhen. Auffallend ist nun — und das wäre die andre Seite —, daß der
Mann, der den griechischen Rednern das emsigste Studium zuwendete, der das
Wesen des Demosthenes erkannte und seine Bedeutung in das Sachliche legte,
in das für jede Beredsamkeit unbedingt notwendige Unterordnen aller Punkte


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0635" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220961"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2364" prev="#ID_2363"> Lord Vrougham, der ein Alter von neunzig Jahren erreicht hat und erst 1868<lb/>
gestorben ist. Er war vornehm und reich, in hohen, einflußreichen Staats¬<lb/>
stellungen, mit leitenden und regierenden Personen befreundet, in allen Ländern<lb/>
Europas bewandert und stand mit ihren maßgebenden Kreisen in Zusammen¬<lb/>
hang. In seiner weltmännischen Art und mancher seiner eiteln und doch nicht<lb/>
völlig albernen und inhaltslosen Wunderlichkeiten erinnert er etwas an unsern<lb/>
Fürsten Pückler-Muskau. Aber sein Gesichtskreis ist weiter und sein Stand¬<lb/>
punkt viel höher, entsprechend den Verhältnissen der beiden Länder im Anfang<lb/>
unsers Jahrhunderts. Broughams Triebfeder war Ehrgeiz. Er wollte möglichst<lb/>
viel wissen und kennen, aber er wollte das auch zeigen und dadurch etwas be¬<lb/>
deuten. Auf dieses Ideal arbeitet er sein Leben lang hin mit eiserner Energie.<lb/>
Daneben pflegt er, weil das ebenfalls zu seinen Hilfsmitteln gehört, die Eigen¬<lb/>
schaften des feinen und vornehmen Mannes, dem hier in vielen Stücken Lord<lb/>
Chesterfield Vorbild war. Er hat sehr viel geschrieben, ganz verschiedenartige<lb/>
Dinge, auch seine Memoiren, die bald nach seinem Tode erschienen. Gelesen<lb/>
wird er nur noch wenig. Seine Bildung, auch die praktische, war umfang¬<lb/>
reich, aber nicht gründlich, nicht tief und ernsthaft. Das merkt man seinen<lb/>
Büchern an, und in zeitgenössischen Dingen beanstanden Kenner der einzelnen<lb/>
Vorgänge seine Zuverlässigkeit. Zu den Erfordernissen des vollendet gebildeten<lb/>
Mannes gehörte nach seinem Lebensideal ein Sitz im Unterhause. Hier fand<lb/>
er bald als Redner ungewöhnliche Beachtung. Das große Geschlecht des ver¬<lb/>
gangnen Jahrhunderts war mit dem jüngern Pitt und Fox zu Grabe gegangen.<lb/>
Unter den jetzigen wurde Lord Brougham bald einer der ersten Redner. Schlie߬<lb/>
lich einigte sich das allgemeine Urteil dahin, daß er an Gewandtheit und Viel¬<lb/>
seitigkeit in zusammenhängender Rede sowohl wie in der Debatte allen andern<lb/>
überlegen sei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2365" next="#ID_2366"> Wie es seine breite Bilduugsgrundlage und seine ganze theoretische Rich¬<lb/>
tung erwarten lassen, hatte er von früher Jugend an alte Redner studirt und<lb/>
besonders dem ersten von allen, Demosthenes, sein Leben lang großes Interesse<lb/>
bewahrt. Er suchte ihn zu verstehen und erklärte sich ihn aus eignen Er¬<lb/>
fahrungen an dem modernen praktischen Leben, und andrerseits legte er sich<lb/>
auch die Frage vor: wozu kann man Demosthenes jetzt noch brauchen? Was<lb/>
den ersten Punkt anlangt, so hat ein verdienter deutscher Schulmann und<lb/>
Demostheneserklärer, Rehdcmtz, den englischen Staatsmann als maßgebende<lb/>
Autorität zuerst zu Ehre« gebracht. Der Maun des praktischen Erfolges sollte<lb/>
den Gesichtskreis der deutscheu Worterklärnng erweitern, der vornehme Ver¬<lb/>
treter einer hohen Lebensstellung den Standpunkt der Auffassung angemessen<lb/>
erhöhen. Auffallend ist nun &#x2014; und das wäre die andre Seite &#x2014;, daß der<lb/>
Mann, der den griechischen Rednern das emsigste Studium zuwendete, der das<lb/>
Wesen des Demosthenes erkannte und seine Bedeutung in das Sachliche legte,<lb/>
in das für jede Beredsamkeit unbedingt notwendige Unterordnen aller Punkte</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0635] Lord Vrougham, der ein Alter von neunzig Jahren erreicht hat und erst 1868 gestorben ist. Er war vornehm und reich, in hohen, einflußreichen Staats¬ stellungen, mit leitenden und regierenden Personen befreundet, in allen Ländern Europas bewandert und stand mit ihren maßgebenden Kreisen in Zusammen¬ hang. In seiner weltmännischen Art und mancher seiner eiteln und doch nicht völlig albernen und inhaltslosen Wunderlichkeiten erinnert er etwas an unsern Fürsten Pückler-Muskau. Aber sein Gesichtskreis ist weiter und sein Stand¬ punkt viel höher, entsprechend den Verhältnissen der beiden Länder im Anfang unsers Jahrhunderts. Broughams Triebfeder war Ehrgeiz. Er wollte möglichst viel wissen und kennen, aber er wollte das auch zeigen und dadurch etwas be¬ deuten. Auf dieses Ideal arbeitet er sein Leben lang hin mit eiserner Energie. Daneben pflegt er, weil das ebenfalls zu seinen Hilfsmitteln gehört, die Eigen¬ schaften des feinen und vornehmen Mannes, dem hier in vielen Stücken Lord Chesterfield Vorbild war. Er hat sehr viel geschrieben, ganz verschiedenartige Dinge, auch seine Memoiren, die bald nach seinem Tode erschienen. Gelesen wird er nur noch wenig. Seine Bildung, auch die praktische, war umfang¬ reich, aber nicht gründlich, nicht tief und ernsthaft. Das merkt man seinen Büchern an, und in zeitgenössischen Dingen beanstanden Kenner der einzelnen Vorgänge seine Zuverlässigkeit. Zu den Erfordernissen des vollendet gebildeten Mannes gehörte nach seinem Lebensideal ein Sitz im Unterhause. Hier fand er bald als Redner ungewöhnliche Beachtung. Das große Geschlecht des ver¬ gangnen Jahrhunderts war mit dem jüngern Pitt und Fox zu Grabe gegangen. Unter den jetzigen wurde Lord Brougham bald einer der ersten Redner. Schlie߬ lich einigte sich das allgemeine Urteil dahin, daß er an Gewandtheit und Viel¬ seitigkeit in zusammenhängender Rede sowohl wie in der Debatte allen andern überlegen sei. Wie es seine breite Bilduugsgrundlage und seine ganze theoretische Rich¬ tung erwarten lassen, hatte er von früher Jugend an alte Redner studirt und besonders dem ersten von allen, Demosthenes, sein Leben lang großes Interesse bewahrt. Er suchte ihn zu verstehen und erklärte sich ihn aus eignen Er¬ fahrungen an dem modernen praktischen Leben, und andrerseits legte er sich auch die Frage vor: wozu kann man Demosthenes jetzt noch brauchen? Was den ersten Punkt anlangt, so hat ein verdienter deutscher Schulmann und Demostheneserklärer, Rehdcmtz, den englischen Staatsmann als maßgebende Autorität zuerst zu Ehre« gebracht. Der Maun des praktischen Erfolges sollte den Gesichtskreis der deutscheu Worterklärnng erweitern, der vornehme Ver¬ treter einer hohen Lebensstellung den Standpunkt der Auffassung angemessen erhöhen. Auffallend ist nun — und das wäre die andre Seite —, daß der Mann, der den griechischen Rednern das emsigste Studium zuwendete, der das Wesen des Demosthenes erkannte und seine Bedeutung in das Sachliche legte, in das für jede Beredsamkeit unbedingt notwendige Unterordnen aller Punkte

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/635
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/635>, abgerufen am 27.07.2024.