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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Erdrückt in die Inknnft

gegnet, treten uns nicht menschlich näher, sie lassen uns kalt, weil sich Herr
Jules selbst nicht erwärmen kann. Aber vielleicht thun wir ihm Unrecht,
wenn wir etwas andres von ihm erwarten, da er doch offenbar unter dem
Einfluß einer starken Hypnose unter den Menschen des Jahres 2093 einher¬
wandelt. Herr Hertzka empfindet diesen Mißstand natürlich nicht so sehr wie
wir, weil es ihn als Bodenreformer mit einer gewissen Genugthuung erfüllt,
in deu Berichten des Freundes aus dem Jahre 2093 sein Ideal verwirklicht
und dabei die Menschheit glücklich zu sehen.

Und worin besteht und wie kam dieses Glück? Eingeläutet wurde es mit
der großen Revolution des Jahres 1918, die darin bestand, daß jedes Privat¬
eigentum an den Produktionsmitteln, vor allem an Grund und Boden, auf¬
gehoben wurde. Mit einem Schlage verschwand darauf das soziale Elend,
an dessen Linderung die Gegenwart sich abmüht, und an dessen dauernder
Hebung sie sast verzweifelt. Die Großstädte, diese Brutnester der Armut und
Verzweiflung, leeren sich; ihre Einwohner wandern aus, da es ihnen freisteht,
in schönen und erträglichem Gegenden ihr Dasein zu fristen. London, Paris,
Berlin werden Hirtendörfer von höchstens zweitausend Seelen, und mit solchen
Niederlassungen idyllisch lebender Hirten übersät sich fast die ganze nördliche
gemäßigte Zone. Nur in ihren südlichen Teilen, namentlich an den Mittel¬
meerküsten, hat sich die Industrie niedergelassen, auf hundert, ja auf tausend
Kilometer hin gleichen diese Gebiete einer einzigen Stadt, aber den Städten
der Zukunft fehlt natürlich all das häßliche Beiwerk, das uns den Aufenthalt
in den modernen Metropolen der Industrie verleiden kann. Die Landwirtschaft
ist fast ausschließlich auf die Tropen beschränkt, die Wüste Sahara ist längst
in ein Paradies verwandelt, und ungeheure Luftschiffe, die täglich vom Nordkap
Europas nach dem Süden, von Westen nach Osten und in umgekehrter Rich¬
tung die Erde mit rasender Schnelligkeit umkreisen, heben den Begriff der
Entfernung vollständig auf. Daß auch für den Einzelnen Flugapparate in
Gebrauch sind, mit denen er in der Stunde bis zu 180 Kilometer zurücklegen
kauu, versteht sich von selbst, denn Dampf und Elektrizität sind veraltete Kraft¬
erzeuger, und die Menschen des Jahres 2093 haben den Erdmagnetismus
selbst in ihren Dienst gezwungen. Staaten, Religionen, kurz alles, was früher
die Menschen trennte, giebt es nicht mehr, die Erde ist ein Himmel, und die
Menschen sind Engel geworden. Jules Raymont hat es gesehen, Herr Hertzka
glaubt es. Aber er glaubt noch mehr. Seltsamerweise genügt den Menschen
ihr Erdenhimmel nicht, und Jules Raymont wird Zeuge von großartigen
Expeditionen, die sie nach dem -- Monde unternehmen. Einige der Güodrome
so heißen die gewaltigen Luftschiffe -- sind bereits glücklich oben ange¬
kommen, aber siehe da -- sie scheinen nicht mehr davon loszukommen!

In diesem spannenden Augenblick, wo sich die Visionen Hertzkas bis zum
Mond verstiegen und damit den Gipfel der Lächerlichkeit erreicht haben,


Erdrückt in die Inknnft

gegnet, treten uns nicht menschlich näher, sie lassen uns kalt, weil sich Herr
Jules selbst nicht erwärmen kann. Aber vielleicht thun wir ihm Unrecht,
wenn wir etwas andres von ihm erwarten, da er doch offenbar unter dem
Einfluß einer starken Hypnose unter den Menschen des Jahres 2093 einher¬
wandelt. Herr Hertzka empfindet diesen Mißstand natürlich nicht so sehr wie
wir, weil es ihn als Bodenreformer mit einer gewissen Genugthuung erfüllt,
in deu Berichten des Freundes aus dem Jahre 2093 sein Ideal verwirklicht
und dabei die Menschheit glücklich zu sehen.

Und worin besteht und wie kam dieses Glück? Eingeläutet wurde es mit
der großen Revolution des Jahres 1918, die darin bestand, daß jedes Privat¬
eigentum an den Produktionsmitteln, vor allem an Grund und Boden, auf¬
gehoben wurde. Mit einem Schlage verschwand darauf das soziale Elend,
an dessen Linderung die Gegenwart sich abmüht, und an dessen dauernder
Hebung sie sast verzweifelt. Die Großstädte, diese Brutnester der Armut und
Verzweiflung, leeren sich; ihre Einwohner wandern aus, da es ihnen freisteht,
in schönen und erträglichem Gegenden ihr Dasein zu fristen. London, Paris,
Berlin werden Hirtendörfer von höchstens zweitausend Seelen, und mit solchen
Niederlassungen idyllisch lebender Hirten übersät sich fast die ganze nördliche
gemäßigte Zone. Nur in ihren südlichen Teilen, namentlich an den Mittel¬
meerküsten, hat sich die Industrie niedergelassen, auf hundert, ja auf tausend
Kilometer hin gleichen diese Gebiete einer einzigen Stadt, aber den Städten
der Zukunft fehlt natürlich all das häßliche Beiwerk, das uns den Aufenthalt
in den modernen Metropolen der Industrie verleiden kann. Die Landwirtschaft
ist fast ausschließlich auf die Tropen beschränkt, die Wüste Sahara ist längst
in ein Paradies verwandelt, und ungeheure Luftschiffe, die täglich vom Nordkap
Europas nach dem Süden, von Westen nach Osten und in umgekehrter Rich¬
tung die Erde mit rasender Schnelligkeit umkreisen, heben den Begriff der
Entfernung vollständig auf. Daß auch für den Einzelnen Flugapparate in
Gebrauch sind, mit denen er in der Stunde bis zu 180 Kilometer zurücklegen
kauu, versteht sich von selbst, denn Dampf und Elektrizität sind veraltete Kraft¬
erzeuger, und die Menschen des Jahres 2093 haben den Erdmagnetismus
selbst in ihren Dienst gezwungen. Staaten, Religionen, kurz alles, was früher
die Menschen trennte, giebt es nicht mehr, die Erde ist ein Himmel, und die
Menschen sind Engel geworden. Jules Raymont hat es gesehen, Herr Hertzka
glaubt es. Aber er glaubt noch mehr. Seltsamerweise genügt den Menschen
ihr Erdenhimmel nicht, und Jules Raymont wird Zeuge von großartigen
Expeditionen, die sie nach dem — Monde unternehmen. Einige der Güodrome
so heißen die gewaltigen Luftschiffe — sind bereits glücklich oben ange¬
kommen, aber siehe da — sie scheinen nicht mehr davon loszukommen!

In diesem spannenden Augenblick, wo sich die Visionen Hertzkas bis zum
Mond verstiegen und damit den Gipfel der Lächerlichkeit erreicht haben,


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[0629] Erdrückt in die Inknnft gegnet, treten uns nicht menschlich näher, sie lassen uns kalt, weil sich Herr Jules selbst nicht erwärmen kann. Aber vielleicht thun wir ihm Unrecht, wenn wir etwas andres von ihm erwarten, da er doch offenbar unter dem Einfluß einer starken Hypnose unter den Menschen des Jahres 2093 einher¬ wandelt. Herr Hertzka empfindet diesen Mißstand natürlich nicht so sehr wie wir, weil es ihn als Bodenreformer mit einer gewissen Genugthuung erfüllt, in deu Berichten des Freundes aus dem Jahre 2093 sein Ideal verwirklicht und dabei die Menschheit glücklich zu sehen. Und worin besteht und wie kam dieses Glück? Eingeläutet wurde es mit der großen Revolution des Jahres 1918, die darin bestand, daß jedes Privat¬ eigentum an den Produktionsmitteln, vor allem an Grund und Boden, auf¬ gehoben wurde. Mit einem Schlage verschwand darauf das soziale Elend, an dessen Linderung die Gegenwart sich abmüht, und an dessen dauernder Hebung sie sast verzweifelt. Die Großstädte, diese Brutnester der Armut und Verzweiflung, leeren sich; ihre Einwohner wandern aus, da es ihnen freisteht, in schönen und erträglichem Gegenden ihr Dasein zu fristen. London, Paris, Berlin werden Hirtendörfer von höchstens zweitausend Seelen, und mit solchen Niederlassungen idyllisch lebender Hirten übersät sich fast die ganze nördliche gemäßigte Zone. Nur in ihren südlichen Teilen, namentlich an den Mittel¬ meerküsten, hat sich die Industrie niedergelassen, auf hundert, ja auf tausend Kilometer hin gleichen diese Gebiete einer einzigen Stadt, aber den Städten der Zukunft fehlt natürlich all das häßliche Beiwerk, das uns den Aufenthalt in den modernen Metropolen der Industrie verleiden kann. Die Landwirtschaft ist fast ausschließlich auf die Tropen beschränkt, die Wüste Sahara ist längst in ein Paradies verwandelt, und ungeheure Luftschiffe, die täglich vom Nordkap Europas nach dem Süden, von Westen nach Osten und in umgekehrter Rich¬ tung die Erde mit rasender Schnelligkeit umkreisen, heben den Begriff der Entfernung vollständig auf. Daß auch für den Einzelnen Flugapparate in Gebrauch sind, mit denen er in der Stunde bis zu 180 Kilometer zurücklegen kauu, versteht sich von selbst, denn Dampf und Elektrizität sind veraltete Kraft¬ erzeuger, und die Menschen des Jahres 2093 haben den Erdmagnetismus selbst in ihren Dienst gezwungen. Staaten, Religionen, kurz alles, was früher die Menschen trennte, giebt es nicht mehr, die Erde ist ein Himmel, und die Menschen sind Engel geworden. Jules Raymont hat es gesehen, Herr Hertzka glaubt es. Aber er glaubt noch mehr. Seltsamerweise genügt den Menschen ihr Erdenhimmel nicht, und Jules Raymont wird Zeuge von großartigen Expeditionen, die sie nach dem — Monde unternehmen. Einige der Güodrome so heißen die gewaltigen Luftschiffe — sind bereits glücklich oben ange¬ kommen, aber siehe da — sie scheinen nicht mehr davon loszukommen! In diesem spannenden Augenblick, wo sich die Visionen Hertzkas bis zum Mond verstiegen und damit den Gipfel der Lächerlichkeit erreicht haben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/629>, abgerufen am 27.07.2024.