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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Lntriickt in die Zukunft

Es geht nicht mit rechten Dingen zu, das Blech kommt von meinem Herrn.

Was soll das heißen?

Eben war ich in dem Zimmer, und der Schreibtisch war leer --

Leer?

Das heißt: es stand das Schreibzeug darauf, und die Mappe lag hier, und
die zwei Bücher da -- aber das Blech nicht -- das kommt von meinem Herrn!

War außer Ihnen niemand in der Wohnung?

Kein Mensch.

Und sind Sie sicher, daß die Kapsel nicht hier lag?

So sicher -- ich könnte meine Seligkeit daran setzen.

Inzwischen hat Herr Hertzka die Kapsel in die Hand genommen. Wie
er sie öffnet, kommt eine Weiße Rolle zum Vorschein, ein Manuskript, das
unverkennbar von der Hand Naymonts herstammt. Dieses Manuskript ent¬
hält die Wahrnehmungen, die der aus seiner Wohnung entwichne Arzt, der
durch irgend eine geheime Macht in die Zukunft entrückt wurde, im Jahre ---
2093 auf der Erde gemacht hat. Herrn Hertzka gelingt es, die Sprache des
Manuskripts, die aus den Elementen der verschiedensten Sprachen zusammen¬
gesetzt ist, zu verstehen, und weil er glaubt, daß es die Absicht des Freundes
gewesen sei, die Schrift zu veröffentlichen, kommt er diesem Wunsche nach,
und so wurde die Menschheit um eine Utopie reicher.

Hertzka hat, wie schon nach dieser Probe jeder zugeben wird, in der Er¬
findung der äußern Handlung sein Vorbild nicht erreicht. Indem er den peinlich
mißglückenden Versuch macht, zu erklären, wie eine in der Zukunft verfaßte
Schrift schon heute zu unsrer Kenntnis gelangen kann, und indem er seine
eigne Person in die Handlung hineinwebt, stumpft er die Neugierde des Lesers
ab, statt sie zu erregen. Was Jules Rahmont, dessen Verschwinden jedem
Leser unmöglich erscheint, aus der Welt des Jahres 2093 erzählt, bleibt uns
jeden Augenblick als willkürliche Behauptung des Schriftstellers Hertzka bewußt
und läßt uns um so gleichgiltiger, als dieser vorgeben muß, an jene alberne
Verschwinduugsgeschichte zu glauben.

Mit geteilter Empfindung, mit Mißtrauen einerseits und mit abgestumpften
Interesse andrerseits beginnt der Leser, das Manuskript zu lesen. Bald ge¬
wahrt er, daß leider auch Herr Jules Raymont, für den ihm Hertzka nur eine
geringe Teilnahme eingeflößt hat, nicht die Gabe hat, sich interessant zu machen.
Vielleicht hat er aber nur für seinen Freund Hertzka geschrieben, und dieser
ist wenig diskret verfahren, als er den Inhalt der Kapsel -- das Blech, wie
Pierre es nannte -- veröffentlichte. In diesem Falle würde sich unser Vor¬
wurf allerdings in erster Linie an die Adresse des Herrn Hertzka wenden, aber
auch Jules Raymont verdient den Tadel, ein langweiliger Berichterstatter zu
sein. Nirgends hat er seine Seitenlängen Erörterungen durch ein persönliches
Intermezzo gewürzt, nirgends das öde Gran seiner theoretischen Ausführungen
durch das frische Grün des Lebens aufgeheitert. Die Menschen, denen er be-


Lntriickt in die Zukunft

Es geht nicht mit rechten Dingen zu, das Blech kommt von meinem Herrn.

Was soll das heißen?

Eben war ich in dem Zimmer, und der Schreibtisch war leer —

Leer?

Das heißt: es stand das Schreibzeug darauf, und die Mappe lag hier, und
die zwei Bücher da — aber das Blech nicht — das kommt von meinem Herrn!

War außer Ihnen niemand in der Wohnung?

Kein Mensch.

Und sind Sie sicher, daß die Kapsel nicht hier lag?

So sicher — ich könnte meine Seligkeit daran setzen.

Inzwischen hat Herr Hertzka die Kapsel in die Hand genommen. Wie
er sie öffnet, kommt eine Weiße Rolle zum Vorschein, ein Manuskript, das
unverkennbar von der Hand Naymonts herstammt. Dieses Manuskript ent¬
hält die Wahrnehmungen, die der aus seiner Wohnung entwichne Arzt, der
durch irgend eine geheime Macht in die Zukunft entrückt wurde, im Jahre —-
2093 auf der Erde gemacht hat. Herrn Hertzka gelingt es, die Sprache des
Manuskripts, die aus den Elementen der verschiedensten Sprachen zusammen¬
gesetzt ist, zu verstehen, und weil er glaubt, daß es die Absicht des Freundes
gewesen sei, die Schrift zu veröffentlichen, kommt er diesem Wunsche nach,
und so wurde die Menschheit um eine Utopie reicher.

Hertzka hat, wie schon nach dieser Probe jeder zugeben wird, in der Er¬
findung der äußern Handlung sein Vorbild nicht erreicht. Indem er den peinlich
mißglückenden Versuch macht, zu erklären, wie eine in der Zukunft verfaßte
Schrift schon heute zu unsrer Kenntnis gelangen kann, und indem er seine
eigne Person in die Handlung hineinwebt, stumpft er die Neugierde des Lesers
ab, statt sie zu erregen. Was Jules Rahmont, dessen Verschwinden jedem
Leser unmöglich erscheint, aus der Welt des Jahres 2093 erzählt, bleibt uns
jeden Augenblick als willkürliche Behauptung des Schriftstellers Hertzka bewußt
und läßt uns um so gleichgiltiger, als dieser vorgeben muß, an jene alberne
Verschwinduugsgeschichte zu glauben.

Mit geteilter Empfindung, mit Mißtrauen einerseits und mit abgestumpften
Interesse andrerseits beginnt der Leser, das Manuskript zu lesen. Bald ge¬
wahrt er, daß leider auch Herr Jules Raymont, für den ihm Hertzka nur eine
geringe Teilnahme eingeflößt hat, nicht die Gabe hat, sich interessant zu machen.
Vielleicht hat er aber nur für seinen Freund Hertzka geschrieben, und dieser
ist wenig diskret verfahren, als er den Inhalt der Kapsel — das Blech, wie
Pierre es nannte — veröffentlichte. In diesem Falle würde sich unser Vor¬
wurf allerdings in erster Linie an die Adresse des Herrn Hertzka wenden, aber
auch Jules Raymont verdient den Tadel, ein langweiliger Berichterstatter zu
sein. Nirgends hat er seine Seitenlängen Erörterungen durch ein persönliches
Intermezzo gewürzt, nirgends das öde Gran seiner theoretischen Ausführungen
durch das frische Grün des Lebens aufgeheitert. Die Menschen, denen er be-


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[0628] Lntriickt in die Zukunft Es geht nicht mit rechten Dingen zu, das Blech kommt von meinem Herrn. Was soll das heißen? Eben war ich in dem Zimmer, und der Schreibtisch war leer — Leer? Das heißt: es stand das Schreibzeug darauf, und die Mappe lag hier, und die zwei Bücher da — aber das Blech nicht — das kommt von meinem Herrn! War außer Ihnen niemand in der Wohnung? Kein Mensch. Und sind Sie sicher, daß die Kapsel nicht hier lag? So sicher — ich könnte meine Seligkeit daran setzen. Inzwischen hat Herr Hertzka die Kapsel in die Hand genommen. Wie er sie öffnet, kommt eine Weiße Rolle zum Vorschein, ein Manuskript, das unverkennbar von der Hand Naymonts herstammt. Dieses Manuskript ent¬ hält die Wahrnehmungen, die der aus seiner Wohnung entwichne Arzt, der durch irgend eine geheime Macht in die Zukunft entrückt wurde, im Jahre —- 2093 auf der Erde gemacht hat. Herrn Hertzka gelingt es, die Sprache des Manuskripts, die aus den Elementen der verschiedensten Sprachen zusammen¬ gesetzt ist, zu verstehen, und weil er glaubt, daß es die Absicht des Freundes gewesen sei, die Schrift zu veröffentlichen, kommt er diesem Wunsche nach, und so wurde die Menschheit um eine Utopie reicher. Hertzka hat, wie schon nach dieser Probe jeder zugeben wird, in der Er¬ findung der äußern Handlung sein Vorbild nicht erreicht. Indem er den peinlich mißglückenden Versuch macht, zu erklären, wie eine in der Zukunft verfaßte Schrift schon heute zu unsrer Kenntnis gelangen kann, und indem er seine eigne Person in die Handlung hineinwebt, stumpft er die Neugierde des Lesers ab, statt sie zu erregen. Was Jules Rahmont, dessen Verschwinden jedem Leser unmöglich erscheint, aus der Welt des Jahres 2093 erzählt, bleibt uns jeden Augenblick als willkürliche Behauptung des Schriftstellers Hertzka bewußt und läßt uns um so gleichgiltiger, als dieser vorgeben muß, an jene alberne Verschwinduugsgeschichte zu glauben. Mit geteilter Empfindung, mit Mißtrauen einerseits und mit abgestumpften Interesse andrerseits beginnt der Leser, das Manuskript zu lesen. Bald ge¬ wahrt er, daß leider auch Herr Jules Raymont, für den ihm Hertzka nur eine geringe Teilnahme eingeflößt hat, nicht die Gabe hat, sich interessant zu machen. Vielleicht hat er aber nur für seinen Freund Hertzka geschrieben, und dieser ist wenig diskret verfahren, als er den Inhalt der Kapsel — das Blech, wie Pierre es nannte — veröffentlichte. In diesem Falle würde sich unser Vor¬ wurf allerdings in erster Linie an die Adresse des Herrn Hertzka wenden, aber auch Jules Raymont verdient den Tadel, ein langweiliger Berichterstatter zu sein. Nirgends hat er seine Seitenlängen Erörterungen durch ein persönliches Intermezzo gewürzt, nirgends das öde Gran seiner theoretischen Ausführungen durch das frische Grün des Lebens aufgeheitert. Die Menschen, denen er be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/628>, abgerufen am 28.07.2024.