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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

Das sechzehnte Jahrhundert ist noch nicht abgelaufen, da hat bereits
Italien den ganzen menschenmöglichen Kreis der Litteratur vollendet. Was
es leisten konnte, und was ihm versagt war, ist in gleicher Weise lehrreich für
den Charakter des Volkes. Und das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert
zeigt, daß nichts mehr nachgeholt werden konnte, was noch irgend der Mühe
wert war. Kleine litterarische Merkwürdigkeiten und gelegentliche Genüsse für
Kenner, wie sie mancher neue Versuch irgend einer der vielen Mischgattungen
auftischt, können dabei nicht in Betracht kommen.

Dann erschien das Junge Italien. Daß sein wirklicher Ertrag, wie wir
gesehen haben, so außerordentlich gering war, kann doch den eigentlich nicht
mehr Wunder nehmen, der die Zeit von Dante bis auf Tasso aufmerksam
verfolgt hat. Es ist mir immer merkwürdig gewesen, daß Manzoni seine zwei
Tragödien und seinen Roman noch bei Lebzeiten Goethes veröffentlichte, und
daß dann seine Laufbahn als Schriftsteller und als Mann des öffentlichen
Lebens abgeschlossen war, obwohl er fast noch fünfzig weitere Jahre und die
ganze Entwicklung des heutigen Italiens erlebte. Von seinen Freunden und
Gesinnungsgenossen hatte er sich nicht getrennt, denn er blieb jedem zugänglich,
und alle hatten das größte Vertrauen zu ihm. Die Sache des Vaterlands
hatte er auch nicht aufgegeben, denn 1873 wurde ihm ein öffentliches Be¬
gräbnis ausgerichtet von solcher Pracht, wie es einem Privatmann in Italien
noch nie zu teil geworden war. Verdis Requiem war eine seiner Ehren. Er
hat schwere Familienschicksale zu tragen gehabt, aber auch das erklärt nicht
sein Schweigen. Er war weder geistig noch körperlich gestört, er war nicht
verbittert, sondern er blieb ruhigen Gemüts und bei klarem, hohem Verstände.
An Veranlassungen zu Kundgebungen hätte es ihm auch wahrlich nicht gefehlt.
Trotzdem blieb er stumm. Ihm fehlte das Theatralische, das zu einem rich¬
tigen Italiener zu gehören scheint. Er war nach allgemeinem Urteil das beste
von den Mitgliedern des Jungen Italiens, und er ist wohl der einzige unter
ihnen, der weiter leben wird. Daß ein solcher Mann seinen Zeitgenossen nichts
mehr zu sagen hatte, ist gewiß bezeichnend für ihr desto geräuschvolleres Treiben
und enthält für die Litteratur und die Geschichte Italiens doch wohl im
Grunde eine recht traurige Wahrheit.*)


Adolf Philippi



*) Zufällig werde ich ganz zuletzt auf eine Äußerung geführt, die vor über hundert
Jahren A. W. v. Schlegel that, dieser unglaublich vielseitige Mann, den dann das folgende
Geschlecht der Beschränkten, über Exakten wohlfeil schulmeistern konnte. Zu Dantes Zeit "konnte
die Nation noch alles werden; mau mochte es eher zufälligen Umständen Schuld geben, als
ihr selbst, daß die Aufläufe überströmender Lebenskraft am Ende nur Erschlaffung zurück¬
ließen. Jetzt ist sie gewesen, was sie werden konnte. Ihre Laufbahn scheint geendigt zu fein,
und die Thaten, Erfindungen und Werke voriger Jahrhunderte erwecken ihren Wetteifer nicht
mehr. Sie dienen zu nichts, als ihren Schlummer behaglicher zu machen." (Werke 3, S. MI-
Zuerst 1791.)
Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

Das sechzehnte Jahrhundert ist noch nicht abgelaufen, da hat bereits
Italien den ganzen menschenmöglichen Kreis der Litteratur vollendet. Was
es leisten konnte, und was ihm versagt war, ist in gleicher Weise lehrreich für
den Charakter des Volkes. Und das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert
zeigt, daß nichts mehr nachgeholt werden konnte, was noch irgend der Mühe
wert war. Kleine litterarische Merkwürdigkeiten und gelegentliche Genüsse für
Kenner, wie sie mancher neue Versuch irgend einer der vielen Mischgattungen
auftischt, können dabei nicht in Betracht kommen.

Dann erschien das Junge Italien. Daß sein wirklicher Ertrag, wie wir
gesehen haben, so außerordentlich gering war, kann doch den eigentlich nicht
mehr Wunder nehmen, der die Zeit von Dante bis auf Tasso aufmerksam
verfolgt hat. Es ist mir immer merkwürdig gewesen, daß Manzoni seine zwei
Tragödien und seinen Roman noch bei Lebzeiten Goethes veröffentlichte, und
daß dann seine Laufbahn als Schriftsteller und als Mann des öffentlichen
Lebens abgeschlossen war, obwohl er fast noch fünfzig weitere Jahre und die
ganze Entwicklung des heutigen Italiens erlebte. Von seinen Freunden und
Gesinnungsgenossen hatte er sich nicht getrennt, denn er blieb jedem zugänglich,
und alle hatten das größte Vertrauen zu ihm. Die Sache des Vaterlands
hatte er auch nicht aufgegeben, denn 1873 wurde ihm ein öffentliches Be¬
gräbnis ausgerichtet von solcher Pracht, wie es einem Privatmann in Italien
noch nie zu teil geworden war. Verdis Requiem war eine seiner Ehren. Er
hat schwere Familienschicksale zu tragen gehabt, aber auch das erklärt nicht
sein Schweigen. Er war weder geistig noch körperlich gestört, er war nicht
verbittert, sondern er blieb ruhigen Gemüts und bei klarem, hohem Verstände.
An Veranlassungen zu Kundgebungen hätte es ihm auch wahrlich nicht gefehlt.
Trotzdem blieb er stumm. Ihm fehlte das Theatralische, das zu einem rich¬
tigen Italiener zu gehören scheint. Er war nach allgemeinem Urteil das beste
von den Mitgliedern des Jungen Italiens, und er ist wohl der einzige unter
ihnen, der weiter leben wird. Daß ein solcher Mann seinen Zeitgenossen nichts
mehr zu sagen hatte, ist gewiß bezeichnend für ihr desto geräuschvolleres Treiben
und enthält für die Litteratur und die Geschichte Italiens doch wohl im
Grunde eine recht traurige Wahrheit.*)


Adolf Philippi



*) Zufällig werde ich ganz zuletzt auf eine Äußerung geführt, die vor über hundert
Jahren A. W. v. Schlegel that, dieser unglaublich vielseitige Mann, den dann das folgende
Geschlecht der Beschränkten, über Exakten wohlfeil schulmeistern konnte. Zu Dantes Zeit „konnte
die Nation noch alles werden; mau mochte es eher zufälligen Umständen Schuld geben, als
ihr selbst, daß die Aufläufe überströmender Lebenskraft am Ende nur Erschlaffung zurück¬
ließen. Jetzt ist sie gewesen, was sie werden konnte. Ihre Laufbahn scheint geendigt zu fein,
und die Thaten, Erfindungen und Werke voriger Jahrhunderte erwecken ihren Wetteifer nicht
mehr. Sie dienen zu nichts, als ihren Schlummer behaglicher zu machen." (Werke 3, S. MI-
Zuerst 1791.)
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[0622] Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte Das sechzehnte Jahrhundert ist noch nicht abgelaufen, da hat bereits Italien den ganzen menschenmöglichen Kreis der Litteratur vollendet. Was es leisten konnte, und was ihm versagt war, ist in gleicher Weise lehrreich für den Charakter des Volkes. Und das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert zeigt, daß nichts mehr nachgeholt werden konnte, was noch irgend der Mühe wert war. Kleine litterarische Merkwürdigkeiten und gelegentliche Genüsse für Kenner, wie sie mancher neue Versuch irgend einer der vielen Mischgattungen auftischt, können dabei nicht in Betracht kommen. Dann erschien das Junge Italien. Daß sein wirklicher Ertrag, wie wir gesehen haben, so außerordentlich gering war, kann doch den eigentlich nicht mehr Wunder nehmen, der die Zeit von Dante bis auf Tasso aufmerksam verfolgt hat. Es ist mir immer merkwürdig gewesen, daß Manzoni seine zwei Tragödien und seinen Roman noch bei Lebzeiten Goethes veröffentlichte, und daß dann seine Laufbahn als Schriftsteller und als Mann des öffentlichen Lebens abgeschlossen war, obwohl er fast noch fünfzig weitere Jahre und die ganze Entwicklung des heutigen Italiens erlebte. Von seinen Freunden und Gesinnungsgenossen hatte er sich nicht getrennt, denn er blieb jedem zugänglich, und alle hatten das größte Vertrauen zu ihm. Die Sache des Vaterlands hatte er auch nicht aufgegeben, denn 1873 wurde ihm ein öffentliches Be¬ gräbnis ausgerichtet von solcher Pracht, wie es einem Privatmann in Italien noch nie zu teil geworden war. Verdis Requiem war eine seiner Ehren. Er hat schwere Familienschicksale zu tragen gehabt, aber auch das erklärt nicht sein Schweigen. Er war weder geistig noch körperlich gestört, er war nicht verbittert, sondern er blieb ruhigen Gemüts und bei klarem, hohem Verstände. An Veranlassungen zu Kundgebungen hätte es ihm auch wahrlich nicht gefehlt. Trotzdem blieb er stumm. Ihm fehlte das Theatralische, das zu einem rich¬ tigen Italiener zu gehören scheint. Er war nach allgemeinem Urteil das beste von den Mitgliedern des Jungen Italiens, und er ist wohl der einzige unter ihnen, der weiter leben wird. Daß ein solcher Mann seinen Zeitgenossen nichts mehr zu sagen hatte, ist gewiß bezeichnend für ihr desto geräuschvolleres Treiben und enthält für die Litteratur und die Geschichte Italiens doch wohl im Grunde eine recht traurige Wahrheit.*) Adolf Philippi *) Zufällig werde ich ganz zuletzt auf eine Äußerung geführt, die vor über hundert Jahren A. W. v. Schlegel that, dieser unglaublich vielseitige Mann, den dann das folgende Geschlecht der Beschränkten, über Exakten wohlfeil schulmeistern konnte. Zu Dantes Zeit „konnte die Nation noch alles werden; mau mochte es eher zufälligen Umständen Schuld geben, als ihr selbst, daß die Aufläufe überströmender Lebenskraft am Ende nur Erschlaffung zurück¬ ließen. Jetzt ist sie gewesen, was sie werden konnte. Ihre Laufbahn scheint geendigt zu fein, und die Thaten, Erfindungen und Werke voriger Jahrhunderte erwecken ihren Wetteifer nicht mehr. Sie dienen zu nichts, als ihren Schlummer behaglicher zu machen." (Werke 3, S. MI- Zuerst 1791.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/622>, abgerufen am 27.07.2024.