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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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und dichtete zu Ehren des Hauses Este, dessen sagenhafte Ahnen er in die
Erzählung seines Gedichts verflochten hat.

War dies um das Nationalepos der Italiener? Ariost war durch Be¬
gabung und Erziehung mehr noch als seine beiden Vorgänger geeignet, die
vornehme Welt nach ihren Anschauungen und ihrem Geschmack mit Geschichten
im Kostüm der Ritter zu unterhalten, und obwohl er kein geborner Tvskaner
war, so fand doch seine Dichtung bald über ganz Italien und darüber hinaus
Verbreitung. Aber mehr als eine solche Unterhaltung für die feine Welt, vor
allem ein ernstes Gedicht im Sinne Dantes, ist es nicht. Mit den Waffen
wurde geklirrt, aber auf Liebe kam es hinaus. Die Form der Liebes¬
canzone und des Sonetts war aufgegeben. Der Inhalt blieb den sittlichen
und politischen Lebensfragen ebenso fern wie die Modelyrik, die seit Petrarca
nicht verstummt war. Der Schwerpunkt lag auch bei Ariost in der künstle¬
rischen Form, also , auf dem Gebiete der ästhetischen Theorie, und diese selbst
ging uur einen Teil der Gesellschaft um, dessen Art zu empfinden an die Stelle
des nationalen Geistes trat. Nun giebt ja Ariosts Natur dem Gedicht einen
individuellen Gehalt, um des willen die Italiener nnr diesen Dichter außer
Dante den Göttlichen genannt haben, und alle, die für Natur und Kraft Em¬
pfindung haben, ihn namentlich dem Tasso vorziehen. Sein Ausdruck ist nicht
mustergiltig, vollends nicht gleichmäßig elegant. Er meidet sogar das Niedrige
nicht völlig, aber er ist anschaulich, er trifft die Sache. Der große Galilei
wußte den "Rasenden Roland" fast auswendig. Er verglich ihn mit einer
Galerie von Gemälden, Statuen und Pretiosen, während man bei Tasso, wie
an der Intarsia, die Umrisse der Einlagen, also das studirte, zu sehr be¬
merke. In seiner Jugend hatte er eine bittere Kritik gegen das "Befreite Je¬
rusalem" veröffentlicht. Später Pflegte er zu sagen: "Tasso mag schöner sein,
mir gefällt Ariost mehr, denn der spricht Sachen, der andre Worte." Also
Gestaltungskraft hatte Ariost, und wenn sie sich auf große Gegenstände richtete,
so konnte sie auch großes schaffen. So die Höhle mit den allegorischen Wesen,
aus der Michael auf Gottes Geheiß das Schweigen holt (vierzehnter Gesang),
oder das irdische Paradies und das Thal im Monde, wo alles liegt, was die
Menschen auf Erden verloren und vergessen haben, auch Rolands Verstand
(vierunddreißigster Gesang). Solche Dinge sind es, die Milton an ihm be¬
wunderte und von ihm lernte! Als Jüngling hatte dieser den alten Galilei,
den Verehrer Ariosts, in seiner Villa bei Florenz aufgesucht und ebenso Tassos
einstigen Beschützer und spätern Biographen, den vornehmen Manso. Beide
italienische Epiker haben auf Milton großen Einfluß geübt, aber wie ver¬
schieden im Charakter ist das Ergebnis gegenüber den Mustern! Bei Milton
der strenge Ernst, und bei Ariost das Gegenteil davon! Ariost hat auch Sa¬
tiren geschrieben, und er wäre wohl der bedeutendste Satiriker Italiens, wenn
der schon genannte Berni nicht wäre, jener gefährliche, bösartige, aber geist-


Grenzboten III 1895 77

und dichtete zu Ehren des Hauses Este, dessen sagenhafte Ahnen er in die
Erzählung seines Gedichts verflochten hat.

War dies um das Nationalepos der Italiener? Ariost war durch Be¬
gabung und Erziehung mehr noch als seine beiden Vorgänger geeignet, die
vornehme Welt nach ihren Anschauungen und ihrem Geschmack mit Geschichten
im Kostüm der Ritter zu unterhalten, und obwohl er kein geborner Tvskaner
war, so fand doch seine Dichtung bald über ganz Italien und darüber hinaus
Verbreitung. Aber mehr als eine solche Unterhaltung für die feine Welt, vor
allem ein ernstes Gedicht im Sinne Dantes, ist es nicht. Mit den Waffen
wurde geklirrt, aber auf Liebe kam es hinaus. Die Form der Liebes¬
canzone und des Sonetts war aufgegeben. Der Inhalt blieb den sittlichen
und politischen Lebensfragen ebenso fern wie die Modelyrik, die seit Petrarca
nicht verstummt war. Der Schwerpunkt lag auch bei Ariost in der künstle¬
rischen Form, also , auf dem Gebiete der ästhetischen Theorie, und diese selbst
ging uur einen Teil der Gesellschaft um, dessen Art zu empfinden an die Stelle
des nationalen Geistes trat. Nun giebt ja Ariosts Natur dem Gedicht einen
individuellen Gehalt, um des willen die Italiener nnr diesen Dichter außer
Dante den Göttlichen genannt haben, und alle, die für Natur und Kraft Em¬
pfindung haben, ihn namentlich dem Tasso vorziehen. Sein Ausdruck ist nicht
mustergiltig, vollends nicht gleichmäßig elegant. Er meidet sogar das Niedrige
nicht völlig, aber er ist anschaulich, er trifft die Sache. Der große Galilei
wußte den „Rasenden Roland" fast auswendig. Er verglich ihn mit einer
Galerie von Gemälden, Statuen und Pretiosen, während man bei Tasso, wie
an der Intarsia, die Umrisse der Einlagen, also das studirte, zu sehr be¬
merke. In seiner Jugend hatte er eine bittere Kritik gegen das „Befreite Je¬
rusalem" veröffentlicht. Später Pflegte er zu sagen: „Tasso mag schöner sein,
mir gefällt Ariost mehr, denn der spricht Sachen, der andre Worte." Also
Gestaltungskraft hatte Ariost, und wenn sie sich auf große Gegenstände richtete,
so konnte sie auch großes schaffen. So die Höhle mit den allegorischen Wesen,
aus der Michael auf Gottes Geheiß das Schweigen holt (vierzehnter Gesang),
oder das irdische Paradies und das Thal im Monde, wo alles liegt, was die
Menschen auf Erden verloren und vergessen haben, auch Rolands Verstand
(vierunddreißigster Gesang). Solche Dinge sind es, die Milton an ihm be¬
wunderte und von ihm lernte! Als Jüngling hatte dieser den alten Galilei,
den Verehrer Ariosts, in seiner Villa bei Florenz aufgesucht und ebenso Tassos
einstigen Beschützer und spätern Biographen, den vornehmen Manso. Beide
italienische Epiker haben auf Milton großen Einfluß geübt, aber wie ver¬
schieden im Charakter ist das Ergebnis gegenüber den Mustern! Bei Milton
der strenge Ernst, und bei Ariost das Gegenteil davon! Ariost hat auch Sa¬
tiren geschrieben, und er wäre wohl der bedeutendste Satiriker Italiens, wenn
der schon genannte Berni nicht wäre, jener gefährliche, bösartige, aber geist-


Grenzboten III 1895 77
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[0617] und dichtete zu Ehren des Hauses Este, dessen sagenhafte Ahnen er in die Erzählung seines Gedichts verflochten hat. War dies um das Nationalepos der Italiener? Ariost war durch Be¬ gabung und Erziehung mehr noch als seine beiden Vorgänger geeignet, die vornehme Welt nach ihren Anschauungen und ihrem Geschmack mit Geschichten im Kostüm der Ritter zu unterhalten, und obwohl er kein geborner Tvskaner war, so fand doch seine Dichtung bald über ganz Italien und darüber hinaus Verbreitung. Aber mehr als eine solche Unterhaltung für die feine Welt, vor allem ein ernstes Gedicht im Sinne Dantes, ist es nicht. Mit den Waffen wurde geklirrt, aber auf Liebe kam es hinaus. Die Form der Liebes¬ canzone und des Sonetts war aufgegeben. Der Inhalt blieb den sittlichen und politischen Lebensfragen ebenso fern wie die Modelyrik, die seit Petrarca nicht verstummt war. Der Schwerpunkt lag auch bei Ariost in der künstle¬ rischen Form, also , auf dem Gebiete der ästhetischen Theorie, und diese selbst ging uur einen Teil der Gesellschaft um, dessen Art zu empfinden an die Stelle des nationalen Geistes trat. Nun giebt ja Ariosts Natur dem Gedicht einen individuellen Gehalt, um des willen die Italiener nnr diesen Dichter außer Dante den Göttlichen genannt haben, und alle, die für Natur und Kraft Em¬ pfindung haben, ihn namentlich dem Tasso vorziehen. Sein Ausdruck ist nicht mustergiltig, vollends nicht gleichmäßig elegant. Er meidet sogar das Niedrige nicht völlig, aber er ist anschaulich, er trifft die Sache. Der große Galilei wußte den „Rasenden Roland" fast auswendig. Er verglich ihn mit einer Galerie von Gemälden, Statuen und Pretiosen, während man bei Tasso, wie an der Intarsia, die Umrisse der Einlagen, also das studirte, zu sehr be¬ merke. In seiner Jugend hatte er eine bittere Kritik gegen das „Befreite Je¬ rusalem" veröffentlicht. Später Pflegte er zu sagen: „Tasso mag schöner sein, mir gefällt Ariost mehr, denn der spricht Sachen, der andre Worte." Also Gestaltungskraft hatte Ariost, und wenn sie sich auf große Gegenstände richtete, so konnte sie auch großes schaffen. So die Höhle mit den allegorischen Wesen, aus der Michael auf Gottes Geheiß das Schweigen holt (vierzehnter Gesang), oder das irdische Paradies und das Thal im Monde, wo alles liegt, was die Menschen auf Erden verloren und vergessen haben, auch Rolands Verstand (vierunddreißigster Gesang). Solche Dinge sind es, die Milton an ihm be¬ wunderte und von ihm lernte! Als Jüngling hatte dieser den alten Galilei, den Verehrer Ariosts, in seiner Villa bei Florenz aufgesucht und ebenso Tassos einstigen Beschützer und spätern Biographen, den vornehmen Manso. Beide italienische Epiker haben auf Milton großen Einfluß geübt, aber wie ver¬ schieden im Charakter ist das Ergebnis gegenüber den Mustern! Bei Milton der strenge Ernst, und bei Ariost das Gegenteil davon! Ariost hat auch Sa¬ tiren geschrieben, und er wäre wohl der bedeutendste Satiriker Italiens, wenn der schon genannte Berni nicht wäre, jener gefährliche, bösartige, aber geist- Grenzboten III 1895 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/617>, abgerufen am 28.07.2024.