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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

Wie die italienischen, aber bessere. Den "Götz" aber und den ersten Teil des
"Faust" dichtete der rückwärts auf das Vaterland gerichtete Sinn, an den wir
uns bei Gelegenheit der ältern Romantiker erinnerten. Alles in allem ge¬
nommen, wird also doch dieser politische Gesichtspunkt auch durch die Art, wie
das deutsche Drama entstand, nicht aufgehoben. Und wir lernen daraus, warum
in Italien kein Drama möglich war. Die Höfe waren keine Stätten dafür.
Ohne ein Volk und eine gemeinsame große Geschichte giebt es kein Drama.

Die Entstehung des italienischen Nationalgedichts ist auf sehr theoretische
Weise vor sich gegangen, mit reiflicher Überlegung und mit Rücksicht auf die
bevorzugten Gesellschaftsklassen. Schon bald nach der Mitte des fünfzehnten
Jahrhunderts hatte im Kreise jenes Lorenzo Magnifieo, den die Florentiner
als ihr Oberhaupt den Vater der Wissenschaften nannten, Luigi Pulci den
Riesen Morgante besungen, eine Gestalt der Rolandssage, die nebst allen ihren
andern Figuren dem damaligen Publikum im Grunde ebenso gleichgiltig war
wie unserm deutschen Mittelalter die Personen seines höfischen Heldengedichts.
Den Ersatz für diesen Mangel an wirklichem Interesse mußte die Ausschmückung
geben. Sie besteht bei Pulci, abgesehen von der abenteuerlichen Erzählung,
in reichlichen Zuthaten von Witz, Ironie und ähnlichen florentinischen Fein¬
heiten, die so hervortreten, daß manche das Ganze für eine Burleske nehme"
zu müssen meinten. Aber es sollte ein Heldengedicht sein. Der zeitgeschicht¬
liche Zusatz ist der Ersatz für das Vermißte, und er machte das Gedicht über
Toskana hinaus beliebt. Um dieselbe Zeit dichtetete Bojardo, ein lombardischer
Graf von hoher geistiger Bildung im Dienste des Herzogs von Ferrara, den
"Verliebten Roland." Das Gedicht ist nicht nur umfangreicher (ganz vollendet
ist es nicht), sondern auch reicher und lebendiger als der Morgante. Es deutet
in der Art, wie es schildert, auf Ariost hin und hat diesem auch später auf
seinem ersten Wege Schwierigkeiten bereitet. Lauge nach Bojardos Tode über¬
trug der witzige Berni das ungefüge und in seinem oberitalienischen Dialekt
nicht allgemein genießbare Werk ins Florentinische. Diese Bearbeitung hat das
Original allmählich bis ans unsre Tage vollständig verdrängt. Aber sie wurde
erst nach Bernis und Ariosts Tode veröffentlicht. Als die erste Auflage von
Ariosts "Rasenden Roland" erschien (1516), wurde der wirkliche, echte Bojardo
noch gelesen, und erst die zweite, die kurz vor des Dichters Tode (1533)
herauskam und den maßebenden Text des Gedichts enthält, hat ihn überwunden.
Es waren noch nicht ganz fünfzig Jahre verflossen, seit Bojardos Roland ans
Licht getreten war. Ariost stand an Vornehmheit und an feiner sowohl wie
an wissenschaftlicher Bildung Bojardo gleich, aber er war nicht so reich wie
fein Vorgänger und mußte sich sein Leben lang in eine Abhängigkeit von
andern finden, die seine Stimmung trübte, aber seine Beobachtungsgabe und
seinen Witz schärfte. Er trat in die Dienste desselben Hoff und lebte zunächst
bei dem Kardinal Jppolito, dann bei dessen Bruder, dem Herzog von Ferrara,


Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte

Wie die italienischen, aber bessere. Den „Götz" aber und den ersten Teil des
„Faust" dichtete der rückwärts auf das Vaterland gerichtete Sinn, an den wir
uns bei Gelegenheit der ältern Romantiker erinnerten. Alles in allem ge¬
nommen, wird also doch dieser politische Gesichtspunkt auch durch die Art, wie
das deutsche Drama entstand, nicht aufgehoben. Und wir lernen daraus, warum
in Italien kein Drama möglich war. Die Höfe waren keine Stätten dafür.
Ohne ein Volk und eine gemeinsame große Geschichte giebt es kein Drama.

Die Entstehung des italienischen Nationalgedichts ist auf sehr theoretische
Weise vor sich gegangen, mit reiflicher Überlegung und mit Rücksicht auf die
bevorzugten Gesellschaftsklassen. Schon bald nach der Mitte des fünfzehnten
Jahrhunderts hatte im Kreise jenes Lorenzo Magnifieo, den die Florentiner
als ihr Oberhaupt den Vater der Wissenschaften nannten, Luigi Pulci den
Riesen Morgante besungen, eine Gestalt der Rolandssage, die nebst allen ihren
andern Figuren dem damaligen Publikum im Grunde ebenso gleichgiltig war
wie unserm deutschen Mittelalter die Personen seines höfischen Heldengedichts.
Den Ersatz für diesen Mangel an wirklichem Interesse mußte die Ausschmückung
geben. Sie besteht bei Pulci, abgesehen von der abenteuerlichen Erzählung,
in reichlichen Zuthaten von Witz, Ironie und ähnlichen florentinischen Fein¬
heiten, die so hervortreten, daß manche das Ganze für eine Burleske nehme«
zu müssen meinten. Aber es sollte ein Heldengedicht sein. Der zeitgeschicht¬
liche Zusatz ist der Ersatz für das Vermißte, und er machte das Gedicht über
Toskana hinaus beliebt. Um dieselbe Zeit dichtetete Bojardo, ein lombardischer
Graf von hoher geistiger Bildung im Dienste des Herzogs von Ferrara, den
„Verliebten Roland." Das Gedicht ist nicht nur umfangreicher (ganz vollendet
ist es nicht), sondern auch reicher und lebendiger als der Morgante. Es deutet
in der Art, wie es schildert, auf Ariost hin und hat diesem auch später auf
seinem ersten Wege Schwierigkeiten bereitet. Lauge nach Bojardos Tode über¬
trug der witzige Berni das ungefüge und in seinem oberitalienischen Dialekt
nicht allgemein genießbare Werk ins Florentinische. Diese Bearbeitung hat das
Original allmählich bis ans unsre Tage vollständig verdrängt. Aber sie wurde
erst nach Bernis und Ariosts Tode veröffentlicht. Als die erste Auflage von
Ariosts „Rasenden Roland" erschien (1516), wurde der wirkliche, echte Bojardo
noch gelesen, und erst die zweite, die kurz vor des Dichters Tode (1533)
herauskam und den maßebenden Text des Gedichts enthält, hat ihn überwunden.
Es waren noch nicht ganz fünfzig Jahre verflossen, seit Bojardos Roland ans
Licht getreten war. Ariost stand an Vornehmheit und an feiner sowohl wie
an wissenschaftlicher Bildung Bojardo gleich, aber er war nicht so reich wie
fein Vorgänger und mußte sich sein Leben lang in eine Abhängigkeit von
andern finden, die seine Stimmung trübte, aber seine Beobachtungsgabe und
seinen Witz schärfte. Er trat in die Dienste desselben Hoff und lebte zunächst
bei dem Kardinal Jppolito, dann bei dessen Bruder, dem Herzog von Ferrara,


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[0616] Politische Anmerkungen zur italienischen Litteraturgeschichte Wie die italienischen, aber bessere. Den „Götz" aber und den ersten Teil des „Faust" dichtete der rückwärts auf das Vaterland gerichtete Sinn, an den wir uns bei Gelegenheit der ältern Romantiker erinnerten. Alles in allem ge¬ nommen, wird also doch dieser politische Gesichtspunkt auch durch die Art, wie das deutsche Drama entstand, nicht aufgehoben. Und wir lernen daraus, warum in Italien kein Drama möglich war. Die Höfe waren keine Stätten dafür. Ohne ein Volk und eine gemeinsame große Geschichte giebt es kein Drama. Die Entstehung des italienischen Nationalgedichts ist auf sehr theoretische Weise vor sich gegangen, mit reiflicher Überlegung und mit Rücksicht auf die bevorzugten Gesellschaftsklassen. Schon bald nach der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts hatte im Kreise jenes Lorenzo Magnifieo, den die Florentiner als ihr Oberhaupt den Vater der Wissenschaften nannten, Luigi Pulci den Riesen Morgante besungen, eine Gestalt der Rolandssage, die nebst allen ihren andern Figuren dem damaligen Publikum im Grunde ebenso gleichgiltig war wie unserm deutschen Mittelalter die Personen seines höfischen Heldengedichts. Den Ersatz für diesen Mangel an wirklichem Interesse mußte die Ausschmückung geben. Sie besteht bei Pulci, abgesehen von der abenteuerlichen Erzählung, in reichlichen Zuthaten von Witz, Ironie und ähnlichen florentinischen Fein¬ heiten, die so hervortreten, daß manche das Ganze für eine Burleske nehme« zu müssen meinten. Aber es sollte ein Heldengedicht sein. Der zeitgeschicht¬ liche Zusatz ist der Ersatz für das Vermißte, und er machte das Gedicht über Toskana hinaus beliebt. Um dieselbe Zeit dichtetete Bojardo, ein lombardischer Graf von hoher geistiger Bildung im Dienste des Herzogs von Ferrara, den „Verliebten Roland." Das Gedicht ist nicht nur umfangreicher (ganz vollendet ist es nicht), sondern auch reicher und lebendiger als der Morgante. Es deutet in der Art, wie es schildert, auf Ariost hin und hat diesem auch später auf seinem ersten Wege Schwierigkeiten bereitet. Lauge nach Bojardos Tode über¬ trug der witzige Berni das ungefüge und in seinem oberitalienischen Dialekt nicht allgemein genießbare Werk ins Florentinische. Diese Bearbeitung hat das Original allmählich bis ans unsre Tage vollständig verdrängt. Aber sie wurde erst nach Bernis und Ariosts Tode veröffentlicht. Als die erste Auflage von Ariosts „Rasenden Roland" erschien (1516), wurde der wirkliche, echte Bojardo noch gelesen, und erst die zweite, die kurz vor des Dichters Tode (1533) herauskam und den maßebenden Text des Gedichts enthält, hat ihn überwunden. Es waren noch nicht ganz fünfzig Jahre verflossen, seit Bojardos Roland ans Licht getreten war. Ariost stand an Vornehmheit und an feiner sowohl wie an wissenschaftlicher Bildung Bojardo gleich, aber er war nicht so reich wie fein Vorgänger und mußte sich sein Leben lang in eine Abhängigkeit von andern finden, die seine Stimmung trübte, aber seine Beobachtungsgabe und seinen Witz schärfte. Er trat in die Dienste desselben Hoff und lebte zunächst bei dem Kardinal Jppolito, dann bei dessen Bruder, dem Herzog von Ferrara,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/616>, abgerufen am 28.07.2024.