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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Pädagogische Universitätsseminare

bedürfen wir auf allen wissenschaftlichen Gebieten. Deutschland verdankt seine
weltbeherrschende Stellung in der Wissenschaft ganz wesentlich dem Umstände,
daß man sich gehütet hat, in das freie Spiel wissenschaftlicher Gedanken, wie
es auf der Universität gepflegt wird, mit täppischer Hand einzugreifen --
wenigstens seit unserm Jahrhundert. Erst wenn mir auch für das pädagogische
Gebiet solche Tummelplätze schaffen, dürfen wir hoffen, daß wieder ursprüng¬
liche Gedanken bei uns an die Oberflüche kommen, woran es uns jetzt so sehr
fehlt. Zwar nehmen wir auch auf dem Gebiete der Erziehung wenigstens
äußerlich noch eine rühmliche Stellung unter den Nationen ein; wenn wir
aber nicht darauf bedacht siud, diesen Ruhm stets zu mehren, so werden wir
bald vom Kapital zehren, wenn es nicht schon jetzt geschieht. Vergessen wir
aber nicht, wenn solche Tummelplätze geschaffen werden sollen, daß es von
jeher unser Stolz gewesen ist, den idealistischen Charakter aller Erziehung hoch¬
zuhalten -- man denke nur an Pestalozzi und Herbart. Es wird also auch
in einem solchen Seminar der rein erziehende Charakter aller Einrichtungen,
vor allem des Unterrichts, reinlich zum Ausdruck kommen müssen; auch den
Lehrern ist klarzumachen, daß sie zunächst Erzieher siud und erst dann Lehrer.
Und neben dem Unterricht müssen die andern Veranstaltungen, die ebenfalls
wichtige Hilfsmittel der Erziehung sind, stark hervortreten, vor allem ein
erziehender Arbeitsunterricht in Garten und Werkstatt, die Schulausflüge und
-reisen, die Spiele, die Feste, die Weihung des Schullebens durch Andachten
und Svnntngserbauuug u, s. w. Eine so organisirte Übungsschule wird min¬
destens dasselbe leisten können, was eine gute Volksschule leistet, ja in Bezug
auf die Hauptsache, nämlich die Entwicklung des Charakters ihrer Zöglinge,
mehr, da sie ja in den neben dem Unterricht herlaufenden Veranstaltungen ein
ausgezeichnetes Mittel hat, ihre Zöglinge anch handelnd in Bewegung zu
setzen, und da sie es sich als Musterschule jedenfalls nicht entgehen lassen
wird, sie noch außerdem sorgfältig seelsorgerisch zu beaufsichtigen und zu lenken.

Dieser Erziehungsaufgabe steht nun die Gesamtheit der Seminarmitglieder
als das verantwortliche Lehrerkollegium gegenüber, unter das die Erziehungs¬
arbeit nebst den für die Verwaltung der Seminargenossenschaft nötigen Ämtern
nach der Begabung und Neigung des Einzelnen verteilt wird. Diese Arbeit
aber geht vor sich in dem vollen Lichte der allgemeinen Beurteilung durch die
Seminargemeinde und so, daß der Einzelne bei allem, was er thut oder unter¬
läßt, der Gesamtheit seiner Kommilitonen verantwortlich ist; eine solche Se-
minargenossenschaft ist wie eine kleine Republik innerhalb der großen akade¬
mischen. Auf diese Weise werden die zukünftigen Erzieher selbst für ihre eigne
Charakterentwicklung von der Erziehungsarbeit den größten Gewinn davon¬
tragen. Sie lernen im Seminar, wenn sie sich seinen Anregungen willig hin¬
geben, Selbstzucht, Selbstentäußerung, Gewöhnung an geregeltes Arbeiten, Ge¬
wissenhaftigkeit und Treue im Amte, Stolz auf ihren Beruf, Duldung ver-


Pädagogische Universitätsseminare

bedürfen wir auf allen wissenschaftlichen Gebieten. Deutschland verdankt seine
weltbeherrschende Stellung in der Wissenschaft ganz wesentlich dem Umstände,
daß man sich gehütet hat, in das freie Spiel wissenschaftlicher Gedanken, wie
es auf der Universität gepflegt wird, mit täppischer Hand einzugreifen —
wenigstens seit unserm Jahrhundert. Erst wenn mir auch für das pädagogische
Gebiet solche Tummelplätze schaffen, dürfen wir hoffen, daß wieder ursprüng¬
liche Gedanken bei uns an die Oberflüche kommen, woran es uns jetzt so sehr
fehlt. Zwar nehmen wir auch auf dem Gebiete der Erziehung wenigstens
äußerlich noch eine rühmliche Stellung unter den Nationen ein; wenn wir
aber nicht darauf bedacht siud, diesen Ruhm stets zu mehren, so werden wir
bald vom Kapital zehren, wenn es nicht schon jetzt geschieht. Vergessen wir
aber nicht, wenn solche Tummelplätze geschaffen werden sollen, daß es von
jeher unser Stolz gewesen ist, den idealistischen Charakter aller Erziehung hoch¬
zuhalten — man denke nur an Pestalozzi und Herbart. Es wird also auch
in einem solchen Seminar der rein erziehende Charakter aller Einrichtungen,
vor allem des Unterrichts, reinlich zum Ausdruck kommen müssen; auch den
Lehrern ist klarzumachen, daß sie zunächst Erzieher siud und erst dann Lehrer.
Und neben dem Unterricht müssen die andern Veranstaltungen, die ebenfalls
wichtige Hilfsmittel der Erziehung sind, stark hervortreten, vor allem ein
erziehender Arbeitsunterricht in Garten und Werkstatt, die Schulausflüge und
-reisen, die Spiele, die Feste, die Weihung des Schullebens durch Andachten
und Svnntngserbauuug u, s. w. Eine so organisirte Übungsschule wird min¬
destens dasselbe leisten können, was eine gute Volksschule leistet, ja in Bezug
auf die Hauptsache, nämlich die Entwicklung des Charakters ihrer Zöglinge,
mehr, da sie ja in den neben dem Unterricht herlaufenden Veranstaltungen ein
ausgezeichnetes Mittel hat, ihre Zöglinge anch handelnd in Bewegung zu
setzen, und da sie es sich als Musterschule jedenfalls nicht entgehen lassen
wird, sie noch außerdem sorgfältig seelsorgerisch zu beaufsichtigen und zu lenken.

Dieser Erziehungsaufgabe steht nun die Gesamtheit der Seminarmitglieder
als das verantwortliche Lehrerkollegium gegenüber, unter das die Erziehungs¬
arbeit nebst den für die Verwaltung der Seminargenossenschaft nötigen Ämtern
nach der Begabung und Neigung des Einzelnen verteilt wird. Diese Arbeit
aber geht vor sich in dem vollen Lichte der allgemeinen Beurteilung durch die
Seminargemeinde und so, daß der Einzelne bei allem, was er thut oder unter¬
läßt, der Gesamtheit seiner Kommilitonen verantwortlich ist; eine solche Se-
minargenossenschaft ist wie eine kleine Republik innerhalb der großen akade¬
mischen. Auf diese Weise werden die zukünftigen Erzieher selbst für ihre eigne
Charakterentwicklung von der Erziehungsarbeit den größten Gewinn davon¬
tragen. Sie lernen im Seminar, wenn sie sich seinen Anregungen willig hin¬
geben, Selbstzucht, Selbstentäußerung, Gewöhnung an geregeltes Arbeiten, Ge¬
wissenhaftigkeit und Treue im Amte, Stolz auf ihren Beruf, Duldung ver-


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[0611] Pädagogische Universitätsseminare bedürfen wir auf allen wissenschaftlichen Gebieten. Deutschland verdankt seine weltbeherrschende Stellung in der Wissenschaft ganz wesentlich dem Umstände, daß man sich gehütet hat, in das freie Spiel wissenschaftlicher Gedanken, wie es auf der Universität gepflegt wird, mit täppischer Hand einzugreifen — wenigstens seit unserm Jahrhundert. Erst wenn mir auch für das pädagogische Gebiet solche Tummelplätze schaffen, dürfen wir hoffen, daß wieder ursprüng¬ liche Gedanken bei uns an die Oberflüche kommen, woran es uns jetzt so sehr fehlt. Zwar nehmen wir auch auf dem Gebiete der Erziehung wenigstens äußerlich noch eine rühmliche Stellung unter den Nationen ein; wenn wir aber nicht darauf bedacht siud, diesen Ruhm stets zu mehren, so werden wir bald vom Kapital zehren, wenn es nicht schon jetzt geschieht. Vergessen wir aber nicht, wenn solche Tummelplätze geschaffen werden sollen, daß es von jeher unser Stolz gewesen ist, den idealistischen Charakter aller Erziehung hoch¬ zuhalten — man denke nur an Pestalozzi und Herbart. Es wird also auch in einem solchen Seminar der rein erziehende Charakter aller Einrichtungen, vor allem des Unterrichts, reinlich zum Ausdruck kommen müssen; auch den Lehrern ist klarzumachen, daß sie zunächst Erzieher siud und erst dann Lehrer. Und neben dem Unterricht müssen die andern Veranstaltungen, die ebenfalls wichtige Hilfsmittel der Erziehung sind, stark hervortreten, vor allem ein erziehender Arbeitsunterricht in Garten und Werkstatt, die Schulausflüge und -reisen, die Spiele, die Feste, die Weihung des Schullebens durch Andachten und Svnntngserbauuug u, s. w. Eine so organisirte Übungsschule wird min¬ destens dasselbe leisten können, was eine gute Volksschule leistet, ja in Bezug auf die Hauptsache, nämlich die Entwicklung des Charakters ihrer Zöglinge, mehr, da sie ja in den neben dem Unterricht herlaufenden Veranstaltungen ein ausgezeichnetes Mittel hat, ihre Zöglinge anch handelnd in Bewegung zu setzen, und da sie es sich als Musterschule jedenfalls nicht entgehen lassen wird, sie noch außerdem sorgfältig seelsorgerisch zu beaufsichtigen und zu lenken. Dieser Erziehungsaufgabe steht nun die Gesamtheit der Seminarmitglieder als das verantwortliche Lehrerkollegium gegenüber, unter das die Erziehungs¬ arbeit nebst den für die Verwaltung der Seminargenossenschaft nötigen Ämtern nach der Begabung und Neigung des Einzelnen verteilt wird. Diese Arbeit aber geht vor sich in dem vollen Lichte der allgemeinen Beurteilung durch die Seminargemeinde und so, daß der Einzelne bei allem, was er thut oder unter¬ läßt, der Gesamtheit seiner Kommilitonen verantwortlich ist; eine solche Se- minargenossenschaft ist wie eine kleine Republik innerhalb der großen akade¬ mischen. Auf diese Weise werden die zukünftigen Erzieher selbst für ihre eigne Charakterentwicklung von der Erziehungsarbeit den größten Gewinn davon¬ tragen. Sie lernen im Seminar, wenn sie sich seinen Anregungen willig hin¬ geben, Selbstzucht, Selbstentäußerung, Gewöhnung an geregeltes Arbeiten, Ge¬ wissenhaftigkeit und Treue im Amte, Stolz auf ihren Beruf, Duldung ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/611>, abgerufen am 28.07.2024.