Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Pädagogische Universitätsseminare

die ja durchgängig aus Kompromissen hervorgegangen ist, ihre innere Berech¬
tigung vor dem Forum der Wissenschaft ebenso nachzuweisen wie jede andre.
Jedenfalls dürfte auf den Leiter des Seminars keinerlei Zwang zur Annahme
irgend eines Lehrplans ausgeübt werden; ja es könnte im Schulgesetz des
Landes da, wo von der Freiheit der Wissenschaft als einem Vorrechte der
Universität die Rede ist, die Befreiung der akademischen Übuugsschule von dem
Volksschulgesetz ausdrücklich ausgesprochen werden. Das folgt aus dem Wesen
der Universität; es entspricht aber auch den Bedürfnissen der zukünftigen Er¬
zieher. Gerade die Universität ist dazu da, daß der Student hier lernen soll,
was auch in der Erziehungswissenschaft wissenschaftliche Konsequenz heißt, und
was sich einer Theorie abgewinnen, wie weit sich ein Ideal verwirklichen läßt.
Gerade im Anfange seiner Thätigkeit soll der Erzieher das Vertrauen gewinnen,
daß sich ein Ideal verwirklichen läßt: das wird ihm für das ganze spätere Leben
nachhaltigen Schwung geben. Und auch der akademische Lehrer, der die jungen
Leute in die Pädagogik einzuführen hat, muß in der Lage sein, den Lehrplan
nach seinen Bedürfnissen abzuändern. Er ist vielleicht auf Grund theoretischer
Erwägungen zu irgend welchen von seinen bisherigen Anschauungen abweichenden
Folgerungen gelangt und fühlt nun das Bedürfnis, diese Abänderungen auch
einmal in der Praxis durchzuprobiren; das muß ihm im Interesse der Wissen¬
schaft gestattet sein. Die Übungsschule muß also, wie es Pestcilozzi und Kant
schon vor einem Jahrhundert gefordert haben, eine Experimentirschule sein.
Selbstverständlich müssen bei diesem Experimentiren die nötigen Vorsichtsma߬
regeln angewandt werden, sowohl in Bezug auf die Auswahl dessen, was zum
Experiment zugelassen wird -- das muß sich wissenschaftlich legitimiren
können --, als auch in Bezug auf Vor- und Nachprüfung des Experiments;
die Bedingungen müssen, wie bei jedem echten Experiment, so lange abge¬
ändert werden, bis man zu einem Ergebnis kommt, das dem Bedürfnis ent¬
spricht, aus dem das Experiment hervorgegangen war. Obwohl also der Lehr¬
plan eine gewisse Beweglichkeit besitzen muß, braucht man doch nicht zu fürchten,
daß die Kinder unter diesen Experimenten Schaden leiden werden; denn bei
Abänderung des Lehrplans wird es sich doch immer um Wohlerwognes handeln.
Ebenso wenig braucht den Kindern aus der Unterrichtung durch Anfänger
ein Schaden zu erwachsen; denn die moderne Unterrichtsmethode ist ausgebildet
genug, um zunächst eine sorgfältige und eingehende Vorbereitung auf jede
Stunde zu ermöglichen und dann das, was das Ungeschick des Anfängers
etwa trotzdem noch versieht, auszubessern, wenn nur sonst die Beaufsichtigung
bei den Lehrversuchen gewissenhaft gehandhabt wird; und das soll ja gerade
eine Hauptaufgabe solcher Seminare sein. Es ist ein ganz ähnliches Ver¬
hältnis wie bei den Lehrkliniken des medizinischen Studiums. Man wird also
solche Seminare getrost gewähren lassen dürfen, und das noch aus einem andern
Grunde: Stätten, wo sich die Theorien ganz frei und unbeengt tummeln können,


Pädagogische Universitätsseminare

die ja durchgängig aus Kompromissen hervorgegangen ist, ihre innere Berech¬
tigung vor dem Forum der Wissenschaft ebenso nachzuweisen wie jede andre.
Jedenfalls dürfte auf den Leiter des Seminars keinerlei Zwang zur Annahme
irgend eines Lehrplans ausgeübt werden; ja es könnte im Schulgesetz des
Landes da, wo von der Freiheit der Wissenschaft als einem Vorrechte der
Universität die Rede ist, die Befreiung der akademischen Übuugsschule von dem
Volksschulgesetz ausdrücklich ausgesprochen werden. Das folgt aus dem Wesen
der Universität; es entspricht aber auch den Bedürfnissen der zukünftigen Er¬
zieher. Gerade die Universität ist dazu da, daß der Student hier lernen soll,
was auch in der Erziehungswissenschaft wissenschaftliche Konsequenz heißt, und
was sich einer Theorie abgewinnen, wie weit sich ein Ideal verwirklichen läßt.
Gerade im Anfange seiner Thätigkeit soll der Erzieher das Vertrauen gewinnen,
daß sich ein Ideal verwirklichen läßt: das wird ihm für das ganze spätere Leben
nachhaltigen Schwung geben. Und auch der akademische Lehrer, der die jungen
Leute in die Pädagogik einzuführen hat, muß in der Lage sein, den Lehrplan
nach seinen Bedürfnissen abzuändern. Er ist vielleicht auf Grund theoretischer
Erwägungen zu irgend welchen von seinen bisherigen Anschauungen abweichenden
Folgerungen gelangt und fühlt nun das Bedürfnis, diese Abänderungen auch
einmal in der Praxis durchzuprobiren; das muß ihm im Interesse der Wissen¬
schaft gestattet sein. Die Übungsschule muß also, wie es Pestcilozzi und Kant
schon vor einem Jahrhundert gefordert haben, eine Experimentirschule sein.
Selbstverständlich müssen bei diesem Experimentiren die nötigen Vorsichtsma߬
regeln angewandt werden, sowohl in Bezug auf die Auswahl dessen, was zum
Experiment zugelassen wird — das muß sich wissenschaftlich legitimiren
können —, als auch in Bezug auf Vor- und Nachprüfung des Experiments;
die Bedingungen müssen, wie bei jedem echten Experiment, so lange abge¬
ändert werden, bis man zu einem Ergebnis kommt, das dem Bedürfnis ent¬
spricht, aus dem das Experiment hervorgegangen war. Obwohl also der Lehr¬
plan eine gewisse Beweglichkeit besitzen muß, braucht man doch nicht zu fürchten,
daß die Kinder unter diesen Experimenten Schaden leiden werden; denn bei
Abänderung des Lehrplans wird es sich doch immer um Wohlerwognes handeln.
Ebenso wenig braucht den Kindern aus der Unterrichtung durch Anfänger
ein Schaden zu erwachsen; denn die moderne Unterrichtsmethode ist ausgebildet
genug, um zunächst eine sorgfältige und eingehende Vorbereitung auf jede
Stunde zu ermöglichen und dann das, was das Ungeschick des Anfängers
etwa trotzdem noch versieht, auszubessern, wenn nur sonst die Beaufsichtigung
bei den Lehrversuchen gewissenhaft gehandhabt wird; und das soll ja gerade
eine Hauptaufgabe solcher Seminare sein. Es ist ein ganz ähnliches Ver¬
hältnis wie bei den Lehrkliniken des medizinischen Studiums. Man wird also
solche Seminare getrost gewähren lassen dürfen, und das noch aus einem andern
Grunde: Stätten, wo sich die Theorien ganz frei und unbeengt tummeln können,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0610" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220936"/>
          <fw type="header" place="top"> Pädagogische Universitätsseminare</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2273" prev="#ID_2272" next="#ID_2274"> die ja durchgängig aus Kompromissen hervorgegangen ist, ihre innere Berech¬<lb/>
tigung vor dem Forum der Wissenschaft ebenso nachzuweisen wie jede andre.<lb/>
Jedenfalls dürfte auf den Leiter des Seminars keinerlei Zwang zur Annahme<lb/>
irgend eines Lehrplans ausgeübt werden; ja es könnte im Schulgesetz des<lb/>
Landes da, wo von der Freiheit der Wissenschaft als einem Vorrechte der<lb/>
Universität die Rede ist, die Befreiung der akademischen Übuugsschule von dem<lb/>
Volksschulgesetz ausdrücklich ausgesprochen werden. Das folgt aus dem Wesen<lb/>
der Universität; es entspricht aber auch den Bedürfnissen der zukünftigen Er¬<lb/>
zieher. Gerade die Universität ist dazu da, daß der Student hier lernen soll,<lb/>
was auch in der Erziehungswissenschaft wissenschaftliche Konsequenz heißt, und<lb/>
was sich einer Theorie abgewinnen, wie weit sich ein Ideal verwirklichen läßt.<lb/>
Gerade im Anfange seiner Thätigkeit soll der Erzieher das Vertrauen gewinnen,<lb/>
daß sich ein Ideal verwirklichen läßt: das wird ihm für das ganze spätere Leben<lb/>
nachhaltigen Schwung geben. Und auch der akademische Lehrer, der die jungen<lb/>
Leute in die Pädagogik einzuführen hat, muß in der Lage sein, den Lehrplan<lb/>
nach seinen Bedürfnissen abzuändern. Er ist vielleicht auf Grund theoretischer<lb/>
Erwägungen zu irgend welchen von seinen bisherigen Anschauungen abweichenden<lb/>
Folgerungen gelangt und fühlt nun das Bedürfnis, diese Abänderungen auch<lb/>
einmal in der Praxis durchzuprobiren; das muß ihm im Interesse der Wissen¬<lb/>
schaft gestattet sein. Die Übungsschule muß also, wie es Pestcilozzi und Kant<lb/>
schon vor einem Jahrhundert gefordert haben, eine Experimentirschule sein.<lb/>
Selbstverständlich müssen bei diesem Experimentiren die nötigen Vorsichtsma߬<lb/>
regeln angewandt werden, sowohl in Bezug auf die Auswahl dessen, was zum<lb/>
Experiment zugelassen wird &#x2014; das muß sich wissenschaftlich legitimiren<lb/>
können &#x2014;, als auch in Bezug auf Vor- und Nachprüfung des Experiments;<lb/>
die Bedingungen müssen, wie bei jedem echten Experiment, so lange abge¬<lb/>
ändert werden, bis man zu einem Ergebnis kommt, das dem Bedürfnis ent¬<lb/>
spricht, aus dem das Experiment hervorgegangen war. Obwohl also der Lehr¬<lb/>
plan eine gewisse Beweglichkeit besitzen muß, braucht man doch nicht zu fürchten,<lb/>
daß die Kinder unter diesen Experimenten Schaden leiden werden; denn bei<lb/>
Abänderung des Lehrplans wird es sich doch immer um Wohlerwognes handeln.<lb/>
Ebenso wenig braucht den Kindern aus der Unterrichtung durch Anfänger<lb/>
ein Schaden zu erwachsen; denn die moderne Unterrichtsmethode ist ausgebildet<lb/>
genug, um zunächst eine sorgfältige und eingehende Vorbereitung auf jede<lb/>
Stunde zu ermöglichen und dann das, was das Ungeschick des Anfängers<lb/>
etwa trotzdem noch versieht, auszubessern, wenn nur sonst die Beaufsichtigung<lb/>
bei den Lehrversuchen gewissenhaft gehandhabt wird; und das soll ja gerade<lb/>
eine Hauptaufgabe solcher Seminare sein. Es ist ein ganz ähnliches Ver¬<lb/>
hältnis wie bei den Lehrkliniken des medizinischen Studiums. Man wird also<lb/>
solche Seminare getrost gewähren lassen dürfen, und das noch aus einem andern<lb/>
Grunde: Stätten, wo sich die Theorien ganz frei und unbeengt tummeln können,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0610] Pädagogische Universitätsseminare die ja durchgängig aus Kompromissen hervorgegangen ist, ihre innere Berech¬ tigung vor dem Forum der Wissenschaft ebenso nachzuweisen wie jede andre. Jedenfalls dürfte auf den Leiter des Seminars keinerlei Zwang zur Annahme irgend eines Lehrplans ausgeübt werden; ja es könnte im Schulgesetz des Landes da, wo von der Freiheit der Wissenschaft als einem Vorrechte der Universität die Rede ist, die Befreiung der akademischen Übuugsschule von dem Volksschulgesetz ausdrücklich ausgesprochen werden. Das folgt aus dem Wesen der Universität; es entspricht aber auch den Bedürfnissen der zukünftigen Er¬ zieher. Gerade die Universität ist dazu da, daß der Student hier lernen soll, was auch in der Erziehungswissenschaft wissenschaftliche Konsequenz heißt, und was sich einer Theorie abgewinnen, wie weit sich ein Ideal verwirklichen läßt. Gerade im Anfange seiner Thätigkeit soll der Erzieher das Vertrauen gewinnen, daß sich ein Ideal verwirklichen läßt: das wird ihm für das ganze spätere Leben nachhaltigen Schwung geben. Und auch der akademische Lehrer, der die jungen Leute in die Pädagogik einzuführen hat, muß in der Lage sein, den Lehrplan nach seinen Bedürfnissen abzuändern. Er ist vielleicht auf Grund theoretischer Erwägungen zu irgend welchen von seinen bisherigen Anschauungen abweichenden Folgerungen gelangt und fühlt nun das Bedürfnis, diese Abänderungen auch einmal in der Praxis durchzuprobiren; das muß ihm im Interesse der Wissen¬ schaft gestattet sein. Die Übungsschule muß also, wie es Pestcilozzi und Kant schon vor einem Jahrhundert gefordert haben, eine Experimentirschule sein. Selbstverständlich müssen bei diesem Experimentiren die nötigen Vorsichtsma߬ regeln angewandt werden, sowohl in Bezug auf die Auswahl dessen, was zum Experiment zugelassen wird — das muß sich wissenschaftlich legitimiren können —, als auch in Bezug auf Vor- und Nachprüfung des Experiments; die Bedingungen müssen, wie bei jedem echten Experiment, so lange abge¬ ändert werden, bis man zu einem Ergebnis kommt, das dem Bedürfnis ent¬ spricht, aus dem das Experiment hervorgegangen war. Obwohl also der Lehr¬ plan eine gewisse Beweglichkeit besitzen muß, braucht man doch nicht zu fürchten, daß die Kinder unter diesen Experimenten Schaden leiden werden; denn bei Abänderung des Lehrplans wird es sich doch immer um Wohlerwognes handeln. Ebenso wenig braucht den Kindern aus der Unterrichtung durch Anfänger ein Schaden zu erwachsen; denn die moderne Unterrichtsmethode ist ausgebildet genug, um zunächst eine sorgfältige und eingehende Vorbereitung auf jede Stunde zu ermöglichen und dann das, was das Ungeschick des Anfängers etwa trotzdem noch versieht, auszubessern, wenn nur sonst die Beaufsichtigung bei den Lehrversuchen gewissenhaft gehandhabt wird; und das soll ja gerade eine Hauptaufgabe solcher Seminare sein. Es ist ein ganz ähnliches Ver¬ hältnis wie bei den Lehrkliniken des medizinischen Studiums. Man wird also solche Seminare getrost gewähren lassen dürfen, und das noch aus einem andern Grunde: Stätten, wo sich die Theorien ganz frei und unbeengt tummeln können,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/610
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/610>, abgerufen am 28.07.2024.