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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Wandlungen dos Ich im Zeitenstrome

angefüllt waren, und sagte: Gifte, Bruder, hier giebts Geld, aber du (dabei
schob er lächelnd die schöbe hinein und schloß zu) kriegst nischt davon.

So blieb ich denn auf den Umgang mit meiner Mutter und mit ein
paar Lehrern beschränkt. Arbeit gabs wenig, wenn auch mancherlei eigen¬
tümliche teils angenehme, teils unangenehme Beschäftigungen. Zu den un¬
angenehmen gehörten die Messen, die bei der Einsegnung von Wöchnerinnen
und bei Beerdigungen um zehn oder elf Uhr gelesen wurden und einen zwangen,
fünf bis sieben Stunden des Morgens nüchtern zu bleiben, zu den angenehmen
die Messen in Bergkapellen und die Prozessionen im Walde. Das Studiren
hatte keinen rechten Zweck mehr -- was konnte ich studiren, ohne den innern
Zwiespalt zu vertiefen, und zu welchem Zweck sollte ich es thun? Ich fragte
mich also: was fängst du an, um nicht verrückt zu werden? und ich beschloß,
Klavier spielen zu lernen. Ich trieb den Unsinn -- Unsinn, weil ich es doch
zu nichts ordentlichem bringen konnte -- sehr eifrig und methodisch, übte
täglich vier bis sechs Stunden und spielte abends, wenn meine Mutter im
benachbarten Zimmer schon im Bett lag, noch einmal sämtliche Tonleitern
durch; bei der chromatischen verkroch sie sich in die Kissen und machte sich
dann die Ohren wieder frei, um mit Andacht Heil dir im Siegerkrnnz zu
hören, das ich als Schluß drauf setzte.

Selbstverständlich war ich mit ganzem Herzen bei unserm deutschen Kriegs-
heere, und es verbesserte meine Stimmung nicht, daß ich von dem ganzen
Kriege nicht das geringste, nicht einen Zipfel einer Uniform und nicht eine
Fahne zu fehen bekam und schlechterdings nichts dazu thun konnte, nicht ein¬
mal Charpie zupfen. Auch die Nachrichten, auf die man doch so begierig
war, bekamen wir sehr spät. Die Zeitungen, die Briefe, die Telegramme und
die Frühstücksemmeln brachte uns jeden Nachmittag, mit Ausnahme des Sonn¬
tags, die Botenfrau aus Landeshut mit; wäre Sonnabend Abend einmal die
Welt untergegangen, vor Montag Nachmittag hätten wir nichts davon erfahren.

Dabei hielt mich der Gang der kirchlichen Angelegenheiten in fieberhafter
Spannung. Nach Schluß des Konzils schrieb ich an Reinkens und Elveuich,
wenn sie nicht jetzt endlich augenblicklich losschlügen und die heimkehrenden
Bischöfe vor die vollendete Thatsache einer großen geschlossenen Protestpartei
stellten, so würde dann später, nach der Rückkehr der Bischöfe, nichts mehr
zu machen sein. Reinkens antwortete, mein Brief "atme frisches, gesundes
Leben," aber ich möchte mich mir gedulden; vor der Hand sei nichts zu machen,
der Krieg absvrbire alles Interesse, es werde eine Erklärung von fünfzig bis
sechzig Gelehrten vorbereitet u. s. w. Meine Schrift, die ich vollendet und
ihm zur Ansicht geschickt hatte, gefiel ihm gut; er meinte, es sei schade, daß
sie nun nicht veröffentlicht werden könnte, das meiste darin habe bleibenden
Wert. Später schickte ich sie auch noch dem Kanonikus Lümmer. Dieser
schrieb bei der Rücksendung: "Bei der Dnrchlesung habe ich die traurige Ge-


Grcnzboten III 1895 66
Wandlungen dos Ich im Zeitenstrome

angefüllt waren, und sagte: Gifte, Bruder, hier giebts Geld, aber du (dabei
schob er lächelnd die schöbe hinein und schloß zu) kriegst nischt davon.

So blieb ich denn auf den Umgang mit meiner Mutter und mit ein
paar Lehrern beschränkt. Arbeit gabs wenig, wenn auch mancherlei eigen¬
tümliche teils angenehme, teils unangenehme Beschäftigungen. Zu den un¬
angenehmen gehörten die Messen, die bei der Einsegnung von Wöchnerinnen
und bei Beerdigungen um zehn oder elf Uhr gelesen wurden und einen zwangen,
fünf bis sieben Stunden des Morgens nüchtern zu bleiben, zu den angenehmen
die Messen in Bergkapellen und die Prozessionen im Walde. Das Studiren
hatte keinen rechten Zweck mehr — was konnte ich studiren, ohne den innern
Zwiespalt zu vertiefen, und zu welchem Zweck sollte ich es thun? Ich fragte
mich also: was fängst du an, um nicht verrückt zu werden? und ich beschloß,
Klavier spielen zu lernen. Ich trieb den Unsinn — Unsinn, weil ich es doch
zu nichts ordentlichem bringen konnte — sehr eifrig und methodisch, übte
täglich vier bis sechs Stunden und spielte abends, wenn meine Mutter im
benachbarten Zimmer schon im Bett lag, noch einmal sämtliche Tonleitern
durch; bei der chromatischen verkroch sie sich in die Kissen und machte sich
dann die Ohren wieder frei, um mit Andacht Heil dir im Siegerkrnnz zu
hören, das ich als Schluß drauf setzte.

Selbstverständlich war ich mit ganzem Herzen bei unserm deutschen Kriegs-
heere, und es verbesserte meine Stimmung nicht, daß ich von dem ganzen
Kriege nicht das geringste, nicht einen Zipfel einer Uniform und nicht eine
Fahne zu fehen bekam und schlechterdings nichts dazu thun konnte, nicht ein¬
mal Charpie zupfen. Auch die Nachrichten, auf die man doch so begierig
war, bekamen wir sehr spät. Die Zeitungen, die Briefe, die Telegramme und
die Frühstücksemmeln brachte uns jeden Nachmittag, mit Ausnahme des Sonn¬
tags, die Botenfrau aus Landeshut mit; wäre Sonnabend Abend einmal die
Welt untergegangen, vor Montag Nachmittag hätten wir nichts davon erfahren.

Dabei hielt mich der Gang der kirchlichen Angelegenheiten in fieberhafter
Spannung. Nach Schluß des Konzils schrieb ich an Reinkens und Elveuich,
wenn sie nicht jetzt endlich augenblicklich losschlügen und die heimkehrenden
Bischöfe vor die vollendete Thatsache einer großen geschlossenen Protestpartei
stellten, so würde dann später, nach der Rückkehr der Bischöfe, nichts mehr
zu machen sein. Reinkens antwortete, mein Brief „atme frisches, gesundes
Leben," aber ich möchte mich mir gedulden; vor der Hand sei nichts zu machen,
der Krieg absvrbire alles Interesse, es werde eine Erklärung von fünfzig bis
sechzig Gelehrten vorbereitet u. s. w. Meine Schrift, die ich vollendet und
ihm zur Ansicht geschickt hatte, gefiel ihm gut; er meinte, es sei schade, daß
sie nun nicht veröffentlicht werden könnte, das meiste darin habe bleibenden
Wert. Später schickte ich sie auch noch dem Kanonikus Lümmer. Dieser
schrieb bei der Rücksendung: „Bei der Dnrchlesung habe ich die traurige Ge-


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[0529] Wandlungen dos Ich im Zeitenstrome angefüllt waren, und sagte: Gifte, Bruder, hier giebts Geld, aber du (dabei schob er lächelnd die schöbe hinein und schloß zu) kriegst nischt davon. So blieb ich denn auf den Umgang mit meiner Mutter und mit ein paar Lehrern beschränkt. Arbeit gabs wenig, wenn auch mancherlei eigen¬ tümliche teils angenehme, teils unangenehme Beschäftigungen. Zu den un¬ angenehmen gehörten die Messen, die bei der Einsegnung von Wöchnerinnen und bei Beerdigungen um zehn oder elf Uhr gelesen wurden und einen zwangen, fünf bis sieben Stunden des Morgens nüchtern zu bleiben, zu den angenehmen die Messen in Bergkapellen und die Prozessionen im Walde. Das Studiren hatte keinen rechten Zweck mehr — was konnte ich studiren, ohne den innern Zwiespalt zu vertiefen, und zu welchem Zweck sollte ich es thun? Ich fragte mich also: was fängst du an, um nicht verrückt zu werden? und ich beschloß, Klavier spielen zu lernen. Ich trieb den Unsinn — Unsinn, weil ich es doch zu nichts ordentlichem bringen konnte — sehr eifrig und methodisch, übte täglich vier bis sechs Stunden und spielte abends, wenn meine Mutter im benachbarten Zimmer schon im Bett lag, noch einmal sämtliche Tonleitern durch; bei der chromatischen verkroch sie sich in die Kissen und machte sich dann die Ohren wieder frei, um mit Andacht Heil dir im Siegerkrnnz zu hören, das ich als Schluß drauf setzte. Selbstverständlich war ich mit ganzem Herzen bei unserm deutschen Kriegs- heere, und es verbesserte meine Stimmung nicht, daß ich von dem ganzen Kriege nicht das geringste, nicht einen Zipfel einer Uniform und nicht eine Fahne zu fehen bekam und schlechterdings nichts dazu thun konnte, nicht ein¬ mal Charpie zupfen. Auch die Nachrichten, auf die man doch so begierig war, bekamen wir sehr spät. Die Zeitungen, die Briefe, die Telegramme und die Frühstücksemmeln brachte uns jeden Nachmittag, mit Ausnahme des Sonn¬ tags, die Botenfrau aus Landeshut mit; wäre Sonnabend Abend einmal die Welt untergegangen, vor Montag Nachmittag hätten wir nichts davon erfahren. Dabei hielt mich der Gang der kirchlichen Angelegenheiten in fieberhafter Spannung. Nach Schluß des Konzils schrieb ich an Reinkens und Elveuich, wenn sie nicht jetzt endlich augenblicklich losschlügen und die heimkehrenden Bischöfe vor die vollendete Thatsache einer großen geschlossenen Protestpartei stellten, so würde dann später, nach der Rückkehr der Bischöfe, nichts mehr zu machen sein. Reinkens antwortete, mein Brief „atme frisches, gesundes Leben," aber ich möchte mich mir gedulden; vor der Hand sei nichts zu machen, der Krieg absvrbire alles Interesse, es werde eine Erklärung von fünfzig bis sechzig Gelehrten vorbereitet u. s. w. Meine Schrift, die ich vollendet und ihm zur Ansicht geschickt hatte, gefiel ihm gut; er meinte, es sei schade, daß sie nun nicht veröffentlicht werden könnte, das meiste darin habe bleibenden Wert. Später schickte ich sie auch noch dem Kanonikus Lümmer. Dieser schrieb bei der Rücksendung: „Bei der Dnrchlesung habe ich die traurige Ge- Grcnzboten III 1895 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/529>, abgerufen am 23.06.2024.