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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

kein Grund dazu. Ohne Zweifel ist aber die Bildungsstufe der Eingebornen
immer höher gestiegen und wird den Ansprüchen der Prüfungskommissionen
gerecht. Ob es nicht eines Tages höher steigen wird, als mau wünscht? Ein
Aufhalten giebt es hier jetzt nicht mehr. Die Rechtfertigung dieser Politik kann
nur darin liegen, daß sie die höhern Klassen Indiens mit England versöhnt
und diesem einen sittlichen Halt gegenüber fremden Ein- und Angriffen giebt,
die Indien sicher in den nächsten Jahrzehnten zu erwarten hat. Sollte sie
sie durch Zwischenschiebung einer eingebornen Büreaukratie bewirken,, daß das
europäische Element noch mehr als jetzt wie Öl über Wasser eine dünne scharf¬
getrennte Schicht bildet, dann wäre sie sicherlich vom Übel. Aber auch da¬
gegen scheint in der Art von Volksvertretung, die seit 1893 eingeführt ist,
ein Mittel gegeben zu sein, das allerdings noch weiter entwickelt werden muß.
Diese Volksvertretung ist zunächst in homöopathischer Dosis verschrieben worden.
Die Wahl ist nur eine Ernennung, der Governor bestimmt über die Zulassung
des Gewählten. Nicht alle Bezirke einer Provinz sind gleichzeitig vertreten,
sondern aller acht Jahre kommt an jeden Bezirk die Aufforderung, einen Ab¬
geordneten zu senden, der dann zwei Jahre die Vertretung hat. Dann folgt
ein Pause von sechs Jahren, wo die Vertretung ruht. So sitzen neben drei
Vertretern der Stadt, der Universität und der Handelskammer von Calcutta
vier Vertreter des großen Bengalen. Wie beschränkt sie anch sei, so giebt sie
doch Gelegenheit zum Zusammenwirken hervorragender Eingebornen mit Euro¬
päern, wie es in den Handelskammern und in privaten Vereinigungen schon
längst üblich war.

Vom Vizekönig wissen die meisten Jndier nichts, die wenigsten haben ihn
mit einem Troß von Elefanten und orientalisch bunt uniformirtem Gefolge,
in einer Pracht, die an die Zeiten Anrangzebs erinnert, einen Darbu.r abhalten
sehen. Nur die Höchststehenden haben ein Verständnis für seine Aufgabe als
Mittelglied zwischen der Negierung in London und den Verwaltungen der
einzelnen Länder, deren Gang zu regeln und in Übereinstimmung zu bringen
und dafür zu sorgen, daß sich kein gemein-indisches Gefühl verbreite, sondern
die Sonderinteressen sorgsam gepflegt werden. Den Provinzialvertretungen
treten dagegen die Lieutenant-Governvrs und ihre Berater und Beamten näher.
Auf einem andern Felde hat Indien schon eindringlich gelehrt, daß sich die
europäische Leitung nicht allzu weit zurückziehen darf. Der Aufstand von
1857 hätte uicht so langwierig und blutig werden können, wenn nicht aus
der Armee eine zu große Zahl sehr tüchtiger Offiziere in die Verwaltung
neu erworbner Provinzen hinübergezogen worden wäre. Die Armee versagte nur
aus Mangel an guten europäischen Offizieren. Das wird nun kaum mehr
vorkommen, seitdem gegen fünftausend englische Offiziere in Indien dienen,
davon in der Eingebornennrmee 2800, und fast die ganze Artillerie und der
größte Teil der Besatzungstrnppen englisch ist.


Grenzboten III 1395 63
Zur Kenntnis der englischen Weltpolitik

kein Grund dazu. Ohne Zweifel ist aber die Bildungsstufe der Eingebornen
immer höher gestiegen und wird den Ansprüchen der Prüfungskommissionen
gerecht. Ob es nicht eines Tages höher steigen wird, als mau wünscht? Ein
Aufhalten giebt es hier jetzt nicht mehr. Die Rechtfertigung dieser Politik kann
nur darin liegen, daß sie die höhern Klassen Indiens mit England versöhnt
und diesem einen sittlichen Halt gegenüber fremden Ein- und Angriffen giebt,
die Indien sicher in den nächsten Jahrzehnten zu erwarten hat. Sollte sie
sie durch Zwischenschiebung einer eingebornen Büreaukratie bewirken,, daß das
europäische Element noch mehr als jetzt wie Öl über Wasser eine dünne scharf¬
getrennte Schicht bildet, dann wäre sie sicherlich vom Übel. Aber auch da¬
gegen scheint in der Art von Volksvertretung, die seit 1893 eingeführt ist,
ein Mittel gegeben zu sein, das allerdings noch weiter entwickelt werden muß.
Diese Volksvertretung ist zunächst in homöopathischer Dosis verschrieben worden.
Die Wahl ist nur eine Ernennung, der Governor bestimmt über die Zulassung
des Gewählten. Nicht alle Bezirke einer Provinz sind gleichzeitig vertreten,
sondern aller acht Jahre kommt an jeden Bezirk die Aufforderung, einen Ab¬
geordneten zu senden, der dann zwei Jahre die Vertretung hat. Dann folgt
ein Pause von sechs Jahren, wo die Vertretung ruht. So sitzen neben drei
Vertretern der Stadt, der Universität und der Handelskammer von Calcutta
vier Vertreter des großen Bengalen. Wie beschränkt sie anch sei, so giebt sie
doch Gelegenheit zum Zusammenwirken hervorragender Eingebornen mit Euro¬
päern, wie es in den Handelskammern und in privaten Vereinigungen schon
längst üblich war.

Vom Vizekönig wissen die meisten Jndier nichts, die wenigsten haben ihn
mit einem Troß von Elefanten und orientalisch bunt uniformirtem Gefolge,
in einer Pracht, die an die Zeiten Anrangzebs erinnert, einen Darbu.r abhalten
sehen. Nur die Höchststehenden haben ein Verständnis für seine Aufgabe als
Mittelglied zwischen der Negierung in London und den Verwaltungen der
einzelnen Länder, deren Gang zu regeln und in Übereinstimmung zu bringen
und dafür zu sorgen, daß sich kein gemein-indisches Gefühl verbreite, sondern
die Sonderinteressen sorgsam gepflegt werden. Den Provinzialvertretungen
treten dagegen die Lieutenant-Governvrs und ihre Berater und Beamten näher.
Auf einem andern Felde hat Indien schon eindringlich gelehrt, daß sich die
europäische Leitung nicht allzu weit zurückziehen darf. Der Aufstand von
1857 hätte uicht so langwierig und blutig werden können, wenn nicht aus
der Armee eine zu große Zahl sehr tüchtiger Offiziere in die Verwaltung
neu erworbner Provinzen hinübergezogen worden wäre. Die Armee versagte nur
aus Mangel an guten europäischen Offizieren. Das wird nun kaum mehr
vorkommen, seitdem gegen fünftausend englische Offiziere in Indien dienen,
davon in der Eingebornennrmee 2800, und fast die ganze Artillerie und der
größte Teil der Besatzungstrnppen englisch ist.


Grenzboten III 1395 63
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/505>, abgerufen am 23.06.2024.