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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Zur Kenntnis der englischen lveltpolitik

gewähren, begreiflicherweise abgelehnt, da in seinen weitzerstreuten Ansprüchen
eine viel wirksamere politische Waffe liegt, als in diesen 509 Quadratkilometern
seines indischen Besitzes. Auch Portugals 3658 Quadratkilometer, in drei
Besitzungen an der Westküste zerstreut, Goa, Diu und Damäo, verschwinden
gegenüber der gewaltigen Masse des englischen indischen Kaiserreichs und seiner
Schutzstaaten. Sowohl die französischen als die portugiesischen Besitzungen
sind für eine selbständige Entwicklung zu klein. Sie stören die englische Herr¬
schaft nicht materiell. Als traurige Reste einer großen Vergangenheit tragen
sie eher dazu bei, ihr Relief zu geben.

England schreckt nicht vor der Heranziehung eines anglo-indischen National¬
gefühls zurück, das den Jndier selbst in Afrika sich mit dem Schutze des Landes
brüsten läßt, dem er Unterthan ist. Zu den Früchten des grausigen Aufstandes
von 1857 gehört eine königliche Proklamation von 1858, die die Rechte der
indischen Unterthanen, auch derer der Tributfürsten, bestimmt. Die Teilnahme
der Jndier an der indischen Verwaltung, ihre Parlamentssitze, das freie Wort in
ihren Versammlungen und ihrer Presse fließen aus diesen Gewährungen. Was
Frankreich oder Nußland nie einer Kolonie gegeben haben, hat damit England
Indien verliehen. Die Jndier haben es gelernt, sich in den Formen eines
Politischen Meeting zu bewegen, und für den Anfang stellen sie maßvolle For¬
derungen. So verlangte zuerst 1888 eine Versammlung in Allahabad, die
von tausend Delegirten aus allen Teilen Indiens besucht war, Pflege des Unter¬
richts und der materiellen Wohlfahrt des verarmenden Volkes, Regelung der
Bodenverhältnisse und der bedrückenden Auflagen. Der gesetzgebende Rat für
Indien müsse vergrößert und die Hälfte seiner Mitglieder gewühlt, ihnen das
Recht der Jnterpellation verliehen werden u. a. in. Die Versammlung, an der
sich in Indien ansässige Europäer in größerer Zahl beteiligten, hat zu weitern
Erörterungen Anlaß gegeben, infolge deren 1893 die ersten Wahlen für die
indischen Provinzialvertretungen stattfanden, genau ein Jahrhundert nach der
Organisation der englischen Verwaltung von Bengalen.

Man muß die Geschichte der seit 1871 immer weiter ausgebildeten De¬
zentralisation der indischen Verwaltung, die notgedrungen von den Finanzen
ausging, verfolgen, um die Wirksamkeit dieser Vertretungen zu verstehen. Beide
Fortschritte Hunger zusammen. Es sind manche Verbesserungen dnrch sie an¬
geregt und manche Mißbrüuche enthüllt worden. In den Interpellationen
hat die politische Ungcschultheit auch Lächerliches oder Bedenkliches zu Tage
treten lassen. Aber die Regierung wird, solange Friede herrscht, diese jungen
Einrichtungen sich weiter entwickeln lassen. Sie verfolgt durch sie das hohe
Ziel, die Neigung der Völker zu gewinnen, die sie niederhält. Es ist derselbe
Grundsatz, der die eingebornenfreundliche Politik in Afrika und die Stellung
zu Japan vorschreibt. Die immer zahlreichern Anstellungen gebildeter Jndier
in hohen Ämtern machen in England manchen bedenklich. Man sagt, es sei


Zur Kenntnis der englischen lveltpolitik

gewähren, begreiflicherweise abgelehnt, da in seinen weitzerstreuten Ansprüchen
eine viel wirksamere politische Waffe liegt, als in diesen 509 Quadratkilometern
seines indischen Besitzes. Auch Portugals 3658 Quadratkilometer, in drei
Besitzungen an der Westküste zerstreut, Goa, Diu und Damäo, verschwinden
gegenüber der gewaltigen Masse des englischen indischen Kaiserreichs und seiner
Schutzstaaten. Sowohl die französischen als die portugiesischen Besitzungen
sind für eine selbständige Entwicklung zu klein. Sie stören die englische Herr¬
schaft nicht materiell. Als traurige Reste einer großen Vergangenheit tragen
sie eher dazu bei, ihr Relief zu geben.

England schreckt nicht vor der Heranziehung eines anglo-indischen National¬
gefühls zurück, das den Jndier selbst in Afrika sich mit dem Schutze des Landes
brüsten läßt, dem er Unterthan ist. Zu den Früchten des grausigen Aufstandes
von 1857 gehört eine königliche Proklamation von 1858, die die Rechte der
indischen Unterthanen, auch derer der Tributfürsten, bestimmt. Die Teilnahme
der Jndier an der indischen Verwaltung, ihre Parlamentssitze, das freie Wort in
ihren Versammlungen und ihrer Presse fließen aus diesen Gewährungen. Was
Frankreich oder Nußland nie einer Kolonie gegeben haben, hat damit England
Indien verliehen. Die Jndier haben es gelernt, sich in den Formen eines
Politischen Meeting zu bewegen, und für den Anfang stellen sie maßvolle For¬
derungen. So verlangte zuerst 1888 eine Versammlung in Allahabad, die
von tausend Delegirten aus allen Teilen Indiens besucht war, Pflege des Unter¬
richts und der materiellen Wohlfahrt des verarmenden Volkes, Regelung der
Bodenverhältnisse und der bedrückenden Auflagen. Der gesetzgebende Rat für
Indien müsse vergrößert und die Hälfte seiner Mitglieder gewühlt, ihnen das
Recht der Jnterpellation verliehen werden u. a. in. Die Versammlung, an der
sich in Indien ansässige Europäer in größerer Zahl beteiligten, hat zu weitern
Erörterungen Anlaß gegeben, infolge deren 1893 die ersten Wahlen für die
indischen Provinzialvertretungen stattfanden, genau ein Jahrhundert nach der
Organisation der englischen Verwaltung von Bengalen.

Man muß die Geschichte der seit 1871 immer weiter ausgebildeten De¬
zentralisation der indischen Verwaltung, die notgedrungen von den Finanzen
ausging, verfolgen, um die Wirksamkeit dieser Vertretungen zu verstehen. Beide
Fortschritte Hunger zusammen. Es sind manche Verbesserungen dnrch sie an¬
geregt und manche Mißbrüuche enthüllt worden. In den Interpellationen
hat die politische Ungcschultheit auch Lächerliches oder Bedenkliches zu Tage
treten lassen. Aber die Regierung wird, solange Friede herrscht, diese jungen
Einrichtungen sich weiter entwickeln lassen. Sie verfolgt durch sie das hohe
Ziel, die Neigung der Völker zu gewinnen, die sie niederhält. Es ist derselbe
Grundsatz, der die eingebornenfreundliche Politik in Afrika und die Stellung
zu Japan vorschreibt. Die immer zahlreichern Anstellungen gebildeter Jndier
in hohen Ämtern machen in England manchen bedenklich. Man sagt, es sei


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[0504] Zur Kenntnis der englischen lveltpolitik gewähren, begreiflicherweise abgelehnt, da in seinen weitzerstreuten Ansprüchen eine viel wirksamere politische Waffe liegt, als in diesen 509 Quadratkilometern seines indischen Besitzes. Auch Portugals 3658 Quadratkilometer, in drei Besitzungen an der Westküste zerstreut, Goa, Diu und Damäo, verschwinden gegenüber der gewaltigen Masse des englischen indischen Kaiserreichs und seiner Schutzstaaten. Sowohl die französischen als die portugiesischen Besitzungen sind für eine selbständige Entwicklung zu klein. Sie stören die englische Herr¬ schaft nicht materiell. Als traurige Reste einer großen Vergangenheit tragen sie eher dazu bei, ihr Relief zu geben. England schreckt nicht vor der Heranziehung eines anglo-indischen National¬ gefühls zurück, das den Jndier selbst in Afrika sich mit dem Schutze des Landes brüsten läßt, dem er Unterthan ist. Zu den Früchten des grausigen Aufstandes von 1857 gehört eine königliche Proklamation von 1858, die die Rechte der indischen Unterthanen, auch derer der Tributfürsten, bestimmt. Die Teilnahme der Jndier an der indischen Verwaltung, ihre Parlamentssitze, das freie Wort in ihren Versammlungen und ihrer Presse fließen aus diesen Gewährungen. Was Frankreich oder Nußland nie einer Kolonie gegeben haben, hat damit England Indien verliehen. Die Jndier haben es gelernt, sich in den Formen eines Politischen Meeting zu bewegen, und für den Anfang stellen sie maßvolle For¬ derungen. So verlangte zuerst 1888 eine Versammlung in Allahabad, die von tausend Delegirten aus allen Teilen Indiens besucht war, Pflege des Unter¬ richts und der materiellen Wohlfahrt des verarmenden Volkes, Regelung der Bodenverhältnisse und der bedrückenden Auflagen. Der gesetzgebende Rat für Indien müsse vergrößert und die Hälfte seiner Mitglieder gewühlt, ihnen das Recht der Jnterpellation verliehen werden u. a. in. Die Versammlung, an der sich in Indien ansässige Europäer in größerer Zahl beteiligten, hat zu weitern Erörterungen Anlaß gegeben, infolge deren 1893 die ersten Wahlen für die indischen Provinzialvertretungen stattfanden, genau ein Jahrhundert nach der Organisation der englischen Verwaltung von Bengalen. Man muß die Geschichte der seit 1871 immer weiter ausgebildeten De¬ zentralisation der indischen Verwaltung, die notgedrungen von den Finanzen ausging, verfolgen, um die Wirksamkeit dieser Vertretungen zu verstehen. Beide Fortschritte Hunger zusammen. Es sind manche Verbesserungen dnrch sie an¬ geregt und manche Mißbrüuche enthüllt worden. In den Interpellationen hat die politische Ungcschultheit auch Lächerliches oder Bedenkliches zu Tage treten lassen. Aber die Regierung wird, solange Friede herrscht, diese jungen Einrichtungen sich weiter entwickeln lassen. Sie verfolgt durch sie das hohe Ziel, die Neigung der Völker zu gewinnen, die sie niederhält. Es ist derselbe Grundsatz, der die eingebornenfreundliche Politik in Afrika und die Stellung zu Japan vorschreibt. Die immer zahlreichern Anstellungen gebildeter Jndier in hohen Ämtern machen in England manchen bedenklich. Man sagt, es sei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/504>, abgerufen am 23.06.2024.