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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Mandlungen des Ich im Zeiteilstrome

Die Kirchen sind, was ich damals schon aus Menzel gelernt hatte, in der
Aufregung des Augenblicks aber vergaß, keineswegs bloß Verkörperungen der
christlichen Wahrheit -- Verkörperungen der ganzen christlichen Wahrheit
kann ohnehin keine von ihnen sein, weil sie ja einander widersprechen --,
sondern sie sind ans historischem Wege zustande gekommne soziale Gebilde, in
denen weltliche Interessen, Gewohnheiten, freundschaftliche, verwandtschaftliche
und Nachbarschaftsbeziehungen, Gleichartigkeit der Denkungsweise infolge gleich¬
artiger Erziehung, endlich Gemeinde- oder Stammesangehörigkeit und Volkstum
weit stärkere Bindemittel bilden als Dogmen. Ohne Zweifel kann keine Kirche
entstehen ohne ein eigentümliches Dogma; aber ist sie einmal da, sind ihre
Angehörigen mit einander verwebt und verwachsen, dann spielen die Dogmen,
der stärkere oder schwächere Glaube daran, der Verlust einiger oder der Zu¬
wachs neuer, die Wandlung des Sinnes, den man ihrem Wortlaut beilegt,
nur noch eine untergeordnete Rolle. Bauern sind gewiß keine Dogmatiker,
aber laßt einem rein protestantischen Dorfe die Gefahr drohen, daß ein Hof
in katholische Hände übergehen könnte, oder einem katholischen Dorfe die ent¬
gegengesetzte, und die ganze Gemeinde wird in leidenschaftliche Erregung ge¬
raten und alle Kräfte aufwenden, diese Störung ihrer innern Gleichförmigkeit
zu verhüten. So erscheint die Kirche als ein nicht bloß geistiges, sondern
soziales Wohngebüude, in dem man sich gemütlich eingerichtet hat und sich wohl
fühlt, aus dem vertrieben zu werdeu mau für das größte Unglück hält, selbst
ganz abgesehen von den materiellen Verlusten, die man dabei erleiden kann.
So erscheint das äußere Kirchenwesen als ein unschätzbares Gut, als ein Gut,
dessen Wert weit lebhafter empfunden wird als der Wert von so unfaßbarer
Gütern, wie etwa die reine Lehre und die Gnade Gottes sind, ein Gut, das
in dieselbe Klasse von Gütern fällt wie Familie, Gemeinde, Vaterland, Volk
und Staat, ein Gut daher, das man sich weder rauben, noch antasten, noch
durch Eingriffe unberufner verändern und verunstalten läßt. Im Grunde
genommen waren also meine Empfindungen ganz dieselben wie die der Bischöfe.
Der Unterschied bestand nur darin, daß ich mir den Zusammenhang zwischen
der Wahrheit und Vernünftigkeit der Lehre und dem Bestände der katholischen
Kirche weit inniger dachte, als er in Wirklichkeit ist, und daher von einer
Verletzung der Wahrheit den Einsturz der Kirche fürchtete, während die Bischöfe
als Glieder der Hierarchie und an die Auffassung der Kirche als eines Welt¬
staats gewöhnt, die Gefahr mehr in der Erschütterung der äußern Einheit
und in der Lockerung des äußern Zusammenhangs sahen. In Beziehung auf
die Lehre mochten sie sich mit dem Gedanken trösten, daß den Gläubigen auch
die größte Unwahrscheinliche einer Lehre an der Kirche nicht irre machen
dürfe, da ja doch der einzelne Menschenverstand nicht zu ermitteln vermöge,
was eigentlich Wahrheit sei, und schon Augustin gesagt hatte: L^o vero
Lvkurg'sUo nun vrsÄsi'fru, nisi auetoriws ^eolS8in<z LaUu)1i"zg.c; ins urovsrst.


Mandlungen des Ich im Zeiteilstrome

Die Kirchen sind, was ich damals schon aus Menzel gelernt hatte, in der
Aufregung des Augenblicks aber vergaß, keineswegs bloß Verkörperungen der
christlichen Wahrheit — Verkörperungen der ganzen christlichen Wahrheit
kann ohnehin keine von ihnen sein, weil sie ja einander widersprechen —,
sondern sie sind ans historischem Wege zustande gekommne soziale Gebilde, in
denen weltliche Interessen, Gewohnheiten, freundschaftliche, verwandtschaftliche
und Nachbarschaftsbeziehungen, Gleichartigkeit der Denkungsweise infolge gleich¬
artiger Erziehung, endlich Gemeinde- oder Stammesangehörigkeit und Volkstum
weit stärkere Bindemittel bilden als Dogmen. Ohne Zweifel kann keine Kirche
entstehen ohne ein eigentümliches Dogma; aber ist sie einmal da, sind ihre
Angehörigen mit einander verwebt und verwachsen, dann spielen die Dogmen,
der stärkere oder schwächere Glaube daran, der Verlust einiger oder der Zu¬
wachs neuer, die Wandlung des Sinnes, den man ihrem Wortlaut beilegt,
nur noch eine untergeordnete Rolle. Bauern sind gewiß keine Dogmatiker,
aber laßt einem rein protestantischen Dorfe die Gefahr drohen, daß ein Hof
in katholische Hände übergehen könnte, oder einem katholischen Dorfe die ent¬
gegengesetzte, und die ganze Gemeinde wird in leidenschaftliche Erregung ge¬
raten und alle Kräfte aufwenden, diese Störung ihrer innern Gleichförmigkeit
zu verhüten. So erscheint die Kirche als ein nicht bloß geistiges, sondern
soziales Wohngebüude, in dem man sich gemütlich eingerichtet hat und sich wohl
fühlt, aus dem vertrieben zu werdeu mau für das größte Unglück hält, selbst
ganz abgesehen von den materiellen Verlusten, die man dabei erleiden kann.
So erscheint das äußere Kirchenwesen als ein unschätzbares Gut, als ein Gut,
dessen Wert weit lebhafter empfunden wird als der Wert von so unfaßbarer
Gütern, wie etwa die reine Lehre und die Gnade Gottes sind, ein Gut, das
in dieselbe Klasse von Gütern fällt wie Familie, Gemeinde, Vaterland, Volk
und Staat, ein Gut daher, das man sich weder rauben, noch antasten, noch
durch Eingriffe unberufner verändern und verunstalten läßt. Im Grunde
genommen waren also meine Empfindungen ganz dieselben wie die der Bischöfe.
Der Unterschied bestand nur darin, daß ich mir den Zusammenhang zwischen
der Wahrheit und Vernünftigkeit der Lehre und dem Bestände der katholischen
Kirche weit inniger dachte, als er in Wirklichkeit ist, und daher von einer
Verletzung der Wahrheit den Einsturz der Kirche fürchtete, während die Bischöfe
als Glieder der Hierarchie und an die Auffassung der Kirche als eines Welt¬
staats gewöhnt, die Gefahr mehr in der Erschütterung der äußern Einheit
und in der Lockerung des äußern Zusammenhangs sahen. In Beziehung auf
die Lehre mochten sie sich mit dem Gedanken trösten, daß den Gläubigen auch
die größte Unwahrscheinliche einer Lehre an der Kirche nicht irre machen
dürfe, da ja doch der einzelne Menschenverstand nicht zu ermitteln vermöge,
was eigentlich Wahrheit sei, und schon Augustin gesagt hatte: L^o vero
Lvkurg'sUo nun vrsÄsi'fru, nisi auetoriws ^eolS8in<z LaUu)1i«zg.c; ins urovsrst.


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[0480] Mandlungen des Ich im Zeiteilstrome Die Kirchen sind, was ich damals schon aus Menzel gelernt hatte, in der Aufregung des Augenblicks aber vergaß, keineswegs bloß Verkörperungen der christlichen Wahrheit — Verkörperungen der ganzen christlichen Wahrheit kann ohnehin keine von ihnen sein, weil sie ja einander widersprechen —, sondern sie sind ans historischem Wege zustande gekommne soziale Gebilde, in denen weltliche Interessen, Gewohnheiten, freundschaftliche, verwandtschaftliche und Nachbarschaftsbeziehungen, Gleichartigkeit der Denkungsweise infolge gleich¬ artiger Erziehung, endlich Gemeinde- oder Stammesangehörigkeit und Volkstum weit stärkere Bindemittel bilden als Dogmen. Ohne Zweifel kann keine Kirche entstehen ohne ein eigentümliches Dogma; aber ist sie einmal da, sind ihre Angehörigen mit einander verwebt und verwachsen, dann spielen die Dogmen, der stärkere oder schwächere Glaube daran, der Verlust einiger oder der Zu¬ wachs neuer, die Wandlung des Sinnes, den man ihrem Wortlaut beilegt, nur noch eine untergeordnete Rolle. Bauern sind gewiß keine Dogmatiker, aber laßt einem rein protestantischen Dorfe die Gefahr drohen, daß ein Hof in katholische Hände übergehen könnte, oder einem katholischen Dorfe die ent¬ gegengesetzte, und die ganze Gemeinde wird in leidenschaftliche Erregung ge¬ raten und alle Kräfte aufwenden, diese Störung ihrer innern Gleichförmigkeit zu verhüten. So erscheint die Kirche als ein nicht bloß geistiges, sondern soziales Wohngebüude, in dem man sich gemütlich eingerichtet hat und sich wohl fühlt, aus dem vertrieben zu werdeu mau für das größte Unglück hält, selbst ganz abgesehen von den materiellen Verlusten, die man dabei erleiden kann. So erscheint das äußere Kirchenwesen als ein unschätzbares Gut, als ein Gut, dessen Wert weit lebhafter empfunden wird als der Wert von so unfaßbarer Gütern, wie etwa die reine Lehre und die Gnade Gottes sind, ein Gut, das in dieselbe Klasse von Gütern fällt wie Familie, Gemeinde, Vaterland, Volk und Staat, ein Gut daher, das man sich weder rauben, noch antasten, noch durch Eingriffe unberufner verändern und verunstalten läßt. Im Grunde genommen waren also meine Empfindungen ganz dieselben wie die der Bischöfe. Der Unterschied bestand nur darin, daß ich mir den Zusammenhang zwischen der Wahrheit und Vernünftigkeit der Lehre und dem Bestände der katholischen Kirche weit inniger dachte, als er in Wirklichkeit ist, und daher von einer Verletzung der Wahrheit den Einsturz der Kirche fürchtete, während die Bischöfe als Glieder der Hierarchie und an die Auffassung der Kirche als eines Welt¬ staats gewöhnt, die Gefahr mehr in der Erschütterung der äußern Einheit und in der Lockerung des äußern Zusammenhangs sahen. In Beziehung auf die Lehre mochten sie sich mit dem Gedanken trösten, daß den Gläubigen auch die größte Unwahrscheinliche einer Lehre an der Kirche nicht irre machen dürfe, da ja doch der einzelne Menschenverstand nicht zu ermitteln vermöge, was eigentlich Wahrheit sei, und schon Augustin gesagt hatte: L^o vero Lvkurg'sUo nun vrsÄsi'fru, nisi auetoriws ^eolS8in<z LaUu)1i«zg.c; ins urovsrst.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/480>, abgerufen am 24.06.2024.