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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

hätten?") Sooo tief sind Sie gesunken. Eine ihrer Bemerkungen stimmte mich
heiter. Sie meinte, die schlechten Bücher, die ich gelesen hätte, müßten eigentlich
alle verbrannt werden. Meine hauptsächlichste Lektüre in Liegnitz waren aber
gewesen: einige historische Werke, namentlich von K. A. Menzel und dem Kon¬
vertiten Gfrörer, Plutarch, Öttingers Moralstatistik, einige Bände von Pertz
Monumenta, ferner Kirchenväter, in den letzten beiden Jahren fast aus¬
schließlich Augustin. Dann kam der Pfarrer. Sie stehen nun ganz allein in
der Gemeinde, sagte er unter anderm. -- O, doch nicht so ganz, erwiderte ich;
einige haben mir zugestimmt. -- Leute, die nicht in die Kirche kommen, das
glaub ich schon. ^ Dann kam der Briefträger. Er brachte einige Zustim¬
mungserklärungen von Geistlichen und Laien -- im Laufe der nächsten Tage
gingen noch mehrere ein -- und einen großen Brief. Dieser lautete: "Mit
tiefem Bedauern lese ich in der zweiten Beilage zu Ur. 189 der Schlesischen
Zeitung einen von Liegnitz unterm 23. April e. mit der Unterschrift: Jentsch,
Kaplan, unterzeichneten, gegen den Shllabns und die Eneyklika des h. Vaters
gerichteten Artikel, in welchem folgen einige Sätze darausj. Vor jeder weitern
notwendigen Maßnahme sehe ich mich amtlich veranlaßt, Euer Hochwürden zur
umgehenden Erklärung aufzufordern: ob Sie sich zu dem gesamten Inhalt des
in Rede stehenden Artikels bekennen und, bejahenden Falls, ob Sie bereit sind,
den Inhalt dieses Artikels als die Frucht einer unglücklichen Übereilung zu
widerrufen. Breslau den 24. April 1870. Neukirch, Generalvikar." Der
Brief war nicht von einem Schreiber, sondern von Neukirch eigenhändig ge¬
schrieben. Ich antwortete: "Hochwürdiger u. s. w. Auf Euer Hochwürden
Hochgeneigte Aufforderung vom 24. beeile ich mich, gehorsamst zu antworten:
daß ich mich zu dem gesamten Inhalt des in Rede stehenden Artikels bekenne,
daß derselbe nicht die Frucht einer unglücklichen Übereilung ist, sondern das
Ergebnis ernster Studien enthält, und daß ich, weit entfernt von einem Widerruf,
vielmehr bereit bin, falls ich dazu veranlaßt oder gezwungen würde, in einer
umfassenden Arbeit nicht allein jeden Satz der Erklärung, sondern auch meine
Orthodoxie vor der Öffentlichkeit zu beweisen."

Am Dienstag brachte die Schlesische Zeitung eine Beistimmuugserklärung
vom ErzPriester Welz in Striegau und seinen beiden Kaplänen, die aber auf
Befehl aus Breslau schon wenige Tage darauf widerrufen wurde. Am
Donnerstag kam mein ErzPriester im Auftrage des geistlichen Amts, um mich
zum Widerruf zu bewegen und meine Erklärung zu Protokoll zu nehmen.
Der gute alte Mann sagte unter Thränen, nachdem ich ihm meine Ansicht
dargelegt hatte: Lieber Herr Konfrater, Sie haben ja Recht, aber sagen,
öffentlich sagen dürfen wir das doch nicht. Dann schrieb er mit schwerem



*) Das war richtig; einer der Herren aber, der Mittelschuldircttor Gr., hatte gesagt:
Um Gottes willen nicht! Ihr ruinirt ja den Mann! und hatte dadurch das Unglück
verhütet.
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

hätten?") Sooo tief sind Sie gesunken. Eine ihrer Bemerkungen stimmte mich
heiter. Sie meinte, die schlechten Bücher, die ich gelesen hätte, müßten eigentlich
alle verbrannt werden. Meine hauptsächlichste Lektüre in Liegnitz waren aber
gewesen: einige historische Werke, namentlich von K. A. Menzel und dem Kon¬
vertiten Gfrörer, Plutarch, Öttingers Moralstatistik, einige Bände von Pertz
Monumenta, ferner Kirchenväter, in den letzten beiden Jahren fast aus¬
schließlich Augustin. Dann kam der Pfarrer. Sie stehen nun ganz allein in
der Gemeinde, sagte er unter anderm. — O, doch nicht so ganz, erwiderte ich;
einige haben mir zugestimmt. — Leute, die nicht in die Kirche kommen, das
glaub ich schon. ^ Dann kam der Briefträger. Er brachte einige Zustim¬
mungserklärungen von Geistlichen und Laien — im Laufe der nächsten Tage
gingen noch mehrere ein — und einen großen Brief. Dieser lautete: „Mit
tiefem Bedauern lese ich in der zweiten Beilage zu Ur. 189 der Schlesischen
Zeitung einen von Liegnitz unterm 23. April e. mit der Unterschrift: Jentsch,
Kaplan, unterzeichneten, gegen den Shllabns und die Eneyklika des h. Vaters
gerichteten Artikel, in welchem folgen einige Sätze darausj. Vor jeder weitern
notwendigen Maßnahme sehe ich mich amtlich veranlaßt, Euer Hochwürden zur
umgehenden Erklärung aufzufordern: ob Sie sich zu dem gesamten Inhalt des
in Rede stehenden Artikels bekennen und, bejahenden Falls, ob Sie bereit sind,
den Inhalt dieses Artikels als die Frucht einer unglücklichen Übereilung zu
widerrufen. Breslau den 24. April 1870. Neukirch, Generalvikar." Der
Brief war nicht von einem Schreiber, sondern von Neukirch eigenhändig ge¬
schrieben. Ich antwortete: „Hochwürdiger u. s. w. Auf Euer Hochwürden
Hochgeneigte Aufforderung vom 24. beeile ich mich, gehorsamst zu antworten:
daß ich mich zu dem gesamten Inhalt des in Rede stehenden Artikels bekenne,
daß derselbe nicht die Frucht einer unglücklichen Übereilung ist, sondern das
Ergebnis ernster Studien enthält, und daß ich, weit entfernt von einem Widerruf,
vielmehr bereit bin, falls ich dazu veranlaßt oder gezwungen würde, in einer
umfassenden Arbeit nicht allein jeden Satz der Erklärung, sondern auch meine
Orthodoxie vor der Öffentlichkeit zu beweisen."

Am Dienstag brachte die Schlesische Zeitung eine Beistimmuugserklärung
vom ErzPriester Welz in Striegau und seinen beiden Kaplänen, die aber auf
Befehl aus Breslau schon wenige Tage darauf widerrufen wurde. Am
Donnerstag kam mein ErzPriester im Auftrage des geistlichen Amts, um mich
zum Widerruf zu bewegen und meine Erklärung zu Protokoll zu nehmen.
Der gute alte Mann sagte unter Thränen, nachdem ich ihm meine Ansicht
dargelegt hatte: Lieber Herr Konfrater, Sie haben ja Recht, aber sagen,
öffentlich sagen dürfen wir das doch nicht. Dann schrieb er mit schwerem



*) Das war richtig; einer der Herren aber, der Mittelschuldircttor Gr., hatte gesagt:
Um Gottes willen nicht! Ihr ruinirt ja den Mann! und hatte dadurch das Unglück
verhütet.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/472>, abgerufen am 24.06.2024.