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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig

Stadtschule, eine Lateinschule niedern Ranges, wie es scheint, und genoß dabei
einen vorzüglichen Musikunterricht, dem er, da seine Neigungen nach der Rich¬
tung der Musik gingen, sich warm hingeben konnte, wahrend Hebbel auf dazu
noch heimlich zu haltende Lektüre angewiesen war. Und nicht einmal Bücher
gab es in dem weltentlegnen Wesselburen oder doch nur in verschwindend
kleiner Anzahl; Goethes "Faust" z. B. war dort noch Um 1830 nnr in
einem einzigen Exemplar vorhanden.

Dennoch ist anch Ludwig wie Hebbel Autodidakt geworden und geblieben,
und der autodidaktische Bildungsgang beider ist von höchster Bedeutung. Ich
gehöre nicht zu denen, die eine gute humanistische Bildung unterschätzen, und
glaube, daß sie sür einen Teil der Jugend unsers Volks noch auf lange die
geeignetste bleiben wird, aber thöricht ist es, anzunehmen, daß sich jeder be¬
deutende Geist an den Alten bilden müsse, daß es ohne Ghmnasinm und Uni¬
versität überhaupt keine Bildung gebe. Mag man an Hebbel wie an Ludwig
auch einzelne Schwächen des Autodidaktentums mit einigem Scharfsinn nach¬
weisen können, jedenfalls beweisen die Tagebücher und Briefe Hebbels, daß er
im Beginn seines dritten Jahrzehnts fast ohne jede Schule eine Höhe der
geistigen Entwicklung erreicht hatte, wie sie alle Schul- und Universitätsweis¬
heit bei normal angelegten Jünglingen gleichen Alters nicht hervorzubringen
vermag. Was ihm aber damals etwa noch an positivem Wissen fehlte, das
hat der Dichter im Laufe feines Lebens ohne große Mühe nachgeholt. Das¬
selbe kann man für Ludwig aus seinen Leipziger Briefen nachweisen. Ich will
mit diesen Ausführungen natürlich nichts gegen die höhern Lehranstalten sagen,
ich will nur der Überschätzung des Wertes der gelehrten Bildung für die
Entwicklung des Dichters entgegenarbeiten, die u. a. zu solchen Behauptungen
führt, wie der, daß der Schauspieler Shakespeare die unter seinem Namen
gehenden Dramen nicht geschrieben haben könne, weil er dazu nicht "gebildet"
genug gewesen sei. In Wirklichkeit erwirbt sich der Dichter die ihm zur Selbst-
knltur und zum Schaffen nötige Bildung, das Wissen eingeschlossen, ohne daß
es gerade eines Schulmeisters bedürfte; denn er hat die Organe, die Welt
und die Wissenschaft, soweit sie in den Gesichtskreis der Kunst fallen, aufzu¬
fassen, mitbekommen, und ist er ein wirkliches Talent, so hat er auch die nötige
Energie, diese Organe durch fleißige Benutzung auszubilden, d. h. zu lernen.
So blieb Goethe sein ganzes Leben hindurch ein unermüdlich Lernender. Man
kann freilich nicht verlangen, daß der Dichter gerade Latein und Griechisch
und die ganze formale Seite der Wissenschaft für das Wichtigste halte, aber
was er braucht, dessen wird er sich auch bemächtigen und jedenfalls den wesent¬
lichen Dingen nahe genug, oft viel näher kommen als die eigentlichen Fach¬
leute. Wer Hebbels und Ludwigs Bildungsgang kennt, der wird auch über
den Shakespeares keinen Augenblick mehr im Unklaren und vielleicht sogar ge¬
neigt sein, für den Dichter mit spezifisch-dramatischer Begabung den autodidak-


Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig

Stadtschule, eine Lateinschule niedern Ranges, wie es scheint, und genoß dabei
einen vorzüglichen Musikunterricht, dem er, da seine Neigungen nach der Rich¬
tung der Musik gingen, sich warm hingeben konnte, wahrend Hebbel auf dazu
noch heimlich zu haltende Lektüre angewiesen war. Und nicht einmal Bücher
gab es in dem weltentlegnen Wesselburen oder doch nur in verschwindend
kleiner Anzahl; Goethes „Faust" z. B. war dort noch Um 1830 nnr in
einem einzigen Exemplar vorhanden.

Dennoch ist anch Ludwig wie Hebbel Autodidakt geworden und geblieben,
und der autodidaktische Bildungsgang beider ist von höchster Bedeutung. Ich
gehöre nicht zu denen, die eine gute humanistische Bildung unterschätzen, und
glaube, daß sie sür einen Teil der Jugend unsers Volks noch auf lange die
geeignetste bleiben wird, aber thöricht ist es, anzunehmen, daß sich jeder be¬
deutende Geist an den Alten bilden müsse, daß es ohne Ghmnasinm und Uni¬
versität überhaupt keine Bildung gebe. Mag man an Hebbel wie an Ludwig
auch einzelne Schwächen des Autodidaktentums mit einigem Scharfsinn nach¬
weisen können, jedenfalls beweisen die Tagebücher und Briefe Hebbels, daß er
im Beginn seines dritten Jahrzehnts fast ohne jede Schule eine Höhe der
geistigen Entwicklung erreicht hatte, wie sie alle Schul- und Universitätsweis¬
heit bei normal angelegten Jünglingen gleichen Alters nicht hervorzubringen
vermag. Was ihm aber damals etwa noch an positivem Wissen fehlte, das
hat der Dichter im Laufe feines Lebens ohne große Mühe nachgeholt. Das¬
selbe kann man für Ludwig aus seinen Leipziger Briefen nachweisen. Ich will
mit diesen Ausführungen natürlich nichts gegen die höhern Lehranstalten sagen,
ich will nur der Überschätzung des Wertes der gelehrten Bildung für die
Entwicklung des Dichters entgegenarbeiten, die u. a. zu solchen Behauptungen
führt, wie der, daß der Schauspieler Shakespeare die unter seinem Namen
gehenden Dramen nicht geschrieben haben könne, weil er dazu nicht „gebildet"
genug gewesen sei. In Wirklichkeit erwirbt sich der Dichter die ihm zur Selbst-
knltur und zum Schaffen nötige Bildung, das Wissen eingeschlossen, ohne daß
es gerade eines Schulmeisters bedürfte; denn er hat die Organe, die Welt
und die Wissenschaft, soweit sie in den Gesichtskreis der Kunst fallen, aufzu¬
fassen, mitbekommen, und ist er ein wirkliches Talent, so hat er auch die nötige
Energie, diese Organe durch fleißige Benutzung auszubilden, d. h. zu lernen.
So blieb Goethe sein ganzes Leben hindurch ein unermüdlich Lernender. Man
kann freilich nicht verlangen, daß der Dichter gerade Latein und Griechisch
und die ganze formale Seite der Wissenschaft für das Wichtigste halte, aber
was er braucht, dessen wird er sich auch bemächtigen und jedenfalls den wesent¬
lichen Dingen nahe genug, oft viel näher kommen als die eigentlichen Fach¬
leute. Wer Hebbels und Ludwigs Bildungsgang kennt, der wird auch über
den Shakespeares keinen Augenblick mehr im Unklaren und vielleicht sogar ge¬
neigt sein, für den Dichter mit spezifisch-dramatischer Begabung den autodidak-


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[0047] Friedrich Hebbel und Gelo Ludwig Stadtschule, eine Lateinschule niedern Ranges, wie es scheint, und genoß dabei einen vorzüglichen Musikunterricht, dem er, da seine Neigungen nach der Rich¬ tung der Musik gingen, sich warm hingeben konnte, wahrend Hebbel auf dazu noch heimlich zu haltende Lektüre angewiesen war. Und nicht einmal Bücher gab es in dem weltentlegnen Wesselburen oder doch nur in verschwindend kleiner Anzahl; Goethes „Faust" z. B. war dort noch Um 1830 nnr in einem einzigen Exemplar vorhanden. Dennoch ist anch Ludwig wie Hebbel Autodidakt geworden und geblieben, und der autodidaktische Bildungsgang beider ist von höchster Bedeutung. Ich gehöre nicht zu denen, die eine gute humanistische Bildung unterschätzen, und glaube, daß sie sür einen Teil der Jugend unsers Volks noch auf lange die geeignetste bleiben wird, aber thöricht ist es, anzunehmen, daß sich jeder be¬ deutende Geist an den Alten bilden müsse, daß es ohne Ghmnasinm und Uni¬ versität überhaupt keine Bildung gebe. Mag man an Hebbel wie an Ludwig auch einzelne Schwächen des Autodidaktentums mit einigem Scharfsinn nach¬ weisen können, jedenfalls beweisen die Tagebücher und Briefe Hebbels, daß er im Beginn seines dritten Jahrzehnts fast ohne jede Schule eine Höhe der geistigen Entwicklung erreicht hatte, wie sie alle Schul- und Universitätsweis¬ heit bei normal angelegten Jünglingen gleichen Alters nicht hervorzubringen vermag. Was ihm aber damals etwa noch an positivem Wissen fehlte, das hat der Dichter im Laufe feines Lebens ohne große Mühe nachgeholt. Das¬ selbe kann man für Ludwig aus seinen Leipziger Briefen nachweisen. Ich will mit diesen Ausführungen natürlich nichts gegen die höhern Lehranstalten sagen, ich will nur der Überschätzung des Wertes der gelehrten Bildung für die Entwicklung des Dichters entgegenarbeiten, die u. a. zu solchen Behauptungen führt, wie der, daß der Schauspieler Shakespeare die unter seinem Namen gehenden Dramen nicht geschrieben haben könne, weil er dazu nicht „gebildet" genug gewesen sei. In Wirklichkeit erwirbt sich der Dichter die ihm zur Selbst- knltur und zum Schaffen nötige Bildung, das Wissen eingeschlossen, ohne daß es gerade eines Schulmeisters bedürfte; denn er hat die Organe, die Welt und die Wissenschaft, soweit sie in den Gesichtskreis der Kunst fallen, aufzu¬ fassen, mitbekommen, und ist er ein wirkliches Talent, so hat er auch die nötige Energie, diese Organe durch fleißige Benutzung auszubilden, d. h. zu lernen. So blieb Goethe sein ganzes Leben hindurch ein unermüdlich Lernender. Man kann freilich nicht verlangen, daß der Dichter gerade Latein und Griechisch und die ganze formale Seite der Wissenschaft für das Wichtigste halte, aber was er braucht, dessen wird er sich auch bemächtigen und jedenfalls den wesent¬ lichen Dingen nahe genug, oft viel näher kommen als die eigentlichen Fach¬ leute. Wer Hebbels und Ludwigs Bildungsgang kennt, der wird auch über den Shakespeares keinen Augenblick mehr im Unklaren und vielleicht sogar ge¬ neigt sein, für den Dichter mit spezifisch-dramatischer Begabung den autodidak-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/47>, abgerufen am 27.07.2024.