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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Die Sozialdemokratie und die englischen Parlamentswahlen

empfundne allgemeine Wehrpflicht in besondrer Weise begünstigt worden ist.
Die Sozialdemokratie würde in Deutschland auch dann schon eine ansehnliche
-- wenn auch nicht die gegenwärtige -- Verbreitung haben, wenn das freie
Versammlungs- und Kvalitionsrecht der Arbeiter schon seit einem halben Jahr¬
hundert bestünde. Die Gewährung des freien Versammluugs- und Koalitions¬
rechts an die deutschen Arbeiter mag als eine Forderung der Gerechtigkeit
wünschenswert sein, sie wird aber weder die Lage der Arbeiter wesentlich
bessern, noch der Sozialdemokratie Abbruch thun, wenn sie nicht von andern
bedeutenden Reformen begleitet wird. Gewerkvereine von solcher Große und
Stärke wie die der englischen Baumwollindustriearbeiter und Kohlengräber
werden in Deutschland schon deshalb nicht entstehen, weil dergleichen geo¬
graphisch zusammengedrängte Industrien hier nicht bestehen. Eine leidlich be¬
friedigende Wirksamkeit der freien Gewerkvereine würde zur Zeit in Deutsch¬
land an dieselbe Bedingung geknüpft sein, von der in England die Ausbreitung
und der weitere Erfolg der freien Gewerkvereine abhängt. Diese Bedingung
ist die Ausschließung aller verheirateten und womöglich auch der verheiratet
gewesenen Arbeiterinnen, die Kinder unter vierzehn Jahren haben. Ein weiteres
besondres Erfordernis für das in dieser Beziehung in bedauerlicher Weise
zurückgebliebne England würde die Ausschließung der Kinder unter dreizehn
Jahren sein. Von welcher großen Bedeutung auf das Angebot von Arbeits¬
kräften eine solche Maßregel sein würde, kann man daraus ersehen, daß durch
die Ausschließung der verheirateten und verheiratet gewesenen Frauen und der
Kinder aus der großbritannischen Baumwollindustrie mehr als ein Fünftel, also
von 528795 Arbeitern etwa 110000 Arbeiter beseitigt werden würden. Durch
Maßregeln dieser Art würden die Löhne allgemein bedeutend steigen und die
Macht der freien Gewerkvereine außerordentlich wachsen.

Zu einem Abschlüsse wird aber die soziale Gährung der Gegenwart erst
in ferner Zeit kommen, wenn sich die Hebung und Festsetzung des gesamten
Arbeitslohnes in der Nation durch den Staat und "obligatorische" Gewerk¬
vereine vollzieht, und wenn verhütet wird, daß der private städtische Grund¬
besitzer den Löwenanteil an dieser Erhöhung des Arbeitslohnes in die Tasche steckt.

Weil ich glaube, daß in Deutschland eher als in England die Lösung
der sozialen Frage im Sinne von Nodbertus erkannt und vom Staate zur
Durchführung gebracht werden wird, und weil gerade die Geschichte Englands
zeigt, welch wirksames Bollwerk schon kleinere soziale Reformen volkstümlichen
Charakters gegen die Sozialdemokratie sind, so meine ich, daß in zwanzig bis
dreißig Jahren die Sozialdemokratie in England vielleicht eine größere Gefahr
bilden wird als in Deutschland.


R. Martin


Grcnzbotc" III 1L95 57
Die Sozialdemokratie und die englischen Parlamentswahlen

empfundne allgemeine Wehrpflicht in besondrer Weise begünstigt worden ist.
Die Sozialdemokratie würde in Deutschland auch dann schon eine ansehnliche
— wenn auch nicht die gegenwärtige — Verbreitung haben, wenn das freie
Versammlungs- und Kvalitionsrecht der Arbeiter schon seit einem halben Jahr¬
hundert bestünde. Die Gewährung des freien Versammluugs- und Koalitions¬
rechts an die deutschen Arbeiter mag als eine Forderung der Gerechtigkeit
wünschenswert sein, sie wird aber weder die Lage der Arbeiter wesentlich
bessern, noch der Sozialdemokratie Abbruch thun, wenn sie nicht von andern
bedeutenden Reformen begleitet wird. Gewerkvereine von solcher Große und
Stärke wie die der englischen Baumwollindustriearbeiter und Kohlengräber
werden in Deutschland schon deshalb nicht entstehen, weil dergleichen geo¬
graphisch zusammengedrängte Industrien hier nicht bestehen. Eine leidlich be¬
friedigende Wirksamkeit der freien Gewerkvereine würde zur Zeit in Deutsch¬
land an dieselbe Bedingung geknüpft sein, von der in England die Ausbreitung
und der weitere Erfolg der freien Gewerkvereine abhängt. Diese Bedingung
ist die Ausschließung aller verheirateten und womöglich auch der verheiratet
gewesenen Arbeiterinnen, die Kinder unter vierzehn Jahren haben. Ein weiteres
besondres Erfordernis für das in dieser Beziehung in bedauerlicher Weise
zurückgebliebne England würde die Ausschließung der Kinder unter dreizehn
Jahren sein. Von welcher großen Bedeutung auf das Angebot von Arbeits¬
kräften eine solche Maßregel sein würde, kann man daraus ersehen, daß durch
die Ausschließung der verheirateten und verheiratet gewesenen Frauen und der
Kinder aus der großbritannischen Baumwollindustrie mehr als ein Fünftel, also
von 528795 Arbeitern etwa 110000 Arbeiter beseitigt werden würden. Durch
Maßregeln dieser Art würden die Löhne allgemein bedeutend steigen und die
Macht der freien Gewerkvereine außerordentlich wachsen.

Zu einem Abschlüsse wird aber die soziale Gährung der Gegenwart erst
in ferner Zeit kommen, wenn sich die Hebung und Festsetzung des gesamten
Arbeitslohnes in der Nation durch den Staat und „obligatorische" Gewerk¬
vereine vollzieht, und wenn verhütet wird, daß der private städtische Grund¬
besitzer den Löwenanteil an dieser Erhöhung des Arbeitslohnes in die Tasche steckt.

Weil ich glaube, daß in Deutschland eher als in England die Lösung
der sozialen Frage im Sinne von Nodbertus erkannt und vom Staate zur
Durchführung gebracht werden wird, und weil gerade die Geschichte Englands
zeigt, welch wirksames Bollwerk schon kleinere soziale Reformen volkstümlichen
Charakters gegen die Sozialdemokratie sind, so meine ich, daß in zwanzig bis
dreißig Jahren die Sozialdemokratie in England vielleicht eine größere Gefahr
bilden wird als in Deutschland.


R. Martin


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[0457] Die Sozialdemokratie und die englischen Parlamentswahlen empfundne allgemeine Wehrpflicht in besondrer Weise begünstigt worden ist. Die Sozialdemokratie würde in Deutschland auch dann schon eine ansehnliche — wenn auch nicht die gegenwärtige — Verbreitung haben, wenn das freie Versammlungs- und Kvalitionsrecht der Arbeiter schon seit einem halben Jahr¬ hundert bestünde. Die Gewährung des freien Versammluugs- und Koalitions¬ rechts an die deutschen Arbeiter mag als eine Forderung der Gerechtigkeit wünschenswert sein, sie wird aber weder die Lage der Arbeiter wesentlich bessern, noch der Sozialdemokratie Abbruch thun, wenn sie nicht von andern bedeutenden Reformen begleitet wird. Gewerkvereine von solcher Große und Stärke wie die der englischen Baumwollindustriearbeiter und Kohlengräber werden in Deutschland schon deshalb nicht entstehen, weil dergleichen geo¬ graphisch zusammengedrängte Industrien hier nicht bestehen. Eine leidlich be¬ friedigende Wirksamkeit der freien Gewerkvereine würde zur Zeit in Deutsch¬ land an dieselbe Bedingung geknüpft sein, von der in England die Ausbreitung und der weitere Erfolg der freien Gewerkvereine abhängt. Diese Bedingung ist die Ausschließung aller verheirateten und womöglich auch der verheiratet gewesenen Arbeiterinnen, die Kinder unter vierzehn Jahren haben. Ein weiteres besondres Erfordernis für das in dieser Beziehung in bedauerlicher Weise zurückgebliebne England würde die Ausschließung der Kinder unter dreizehn Jahren sein. Von welcher großen Bedeutung auf das Angebot von Arbeits¬ kräften eine solche Maßregel sein würde, kann man daraus ersehen, daß durch die Ausschließung der verheirateten und verheiratet gewesenen Frauen und der Kinder aus der großbritannischen Baumwollindustrie mehr als ein Fünftel, also von 528795 Arbeitern etwa 110000 Arbeiter beseitigt werden würden. Durch Maßregeln dieser Art würden die Löhne allgemein bedeutend steigen und die Macht der freien Gewerkvereine außerordentlich wachsen. Zu einem Abschlüsse wird aber die soziale Gährung der Gegenwart erst in ferner Zeit kommen, wenn sich die Hebung und Festsetzung des gesamten Arbeitslohnes in der Nation durch den Staat und „obligatorische" Gewerk¬ vereine vollzieht, und wenn verhütet wird, daß der private städtische Grund¬ besitzer den Löwenanteil an dieser Erhöhung des Arbeitslohnes in die Tasche steckt. Weil ich glaube, daß in Deutschland eher als in England die Lösung der sozialen Frage im Sinne von Nodbertus erkannt und vom Staate zur Durchführung gebracht werden wird, und weil gerade die Geschichte Englands zeigt, welch wirksames Bollwerk schon kleinere soziale Reformen volkstümlichen Charakters gegen die Sozialdemokratie sind, so meine ich, daß in zwanzig bis dreißig Jahren die Sozialdemokratie in England vielleicht eine größere Gefahr bilden wird als in Deutschland. R. Martin Grcnzbotc» III 1L95 57

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/457>, abgerufen am 01.09.2024.