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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Hebbel und Veto Ludwig

aus dem Wesen und der Art des Schaffens der Dichter die Maßstäbe für die
Beurteilung des Kunstwerks und zugleich Licht über die Kunst selbst zu ge¬
winnen sucht; nur gehörte zu einer solchen ein Buch, und darum werdeu wir
uns hier doch mit einer Vergleichung in großen Zügen begnügen müssen.

Zunächst wären da die beiden Dichter nach Heimat und Abstammung zu
betrachten. Nein germanischer Rasse sind sie beide, aber sie gehören ver-
schiednen deutscheu Stämmen an: Hebbel ist Niedersachse, Otto Ludwig Thü¬
ringer. Man kann sich kaum einen größern Gegensatz denken als beider Heimat,
die dithmarsische Marsch und des Thüringer Waldland: die Marsch völlig eben,
ohne fließendes Wasser, baumlos, uur die meist langgestreckten Ortschaften von
ziemlich dichten Vanmpflcmznngen durchsetzt, im Herbste den wilden Weststürmen,
im Winter den scharfen Ostwinden preisgegeben, dafür freilich in dem hier spät
erscheinenden Frühling ein weites grünes Meer, im Sommer ein goldnes Korn¬
feld, das reich belebte Weiden unterbrechen, nicht ferne, hinter dem mächtigen
Deich die Nordsee, das "graue" Meer, mit ihrem hier fast stets ganz einsamen
Strande; Thüringen, die anmutigste deutsche Waldlandschaft, sanft gerundete
Bergkuppen, schöne Thäler, von rauschenden Flüssen und murmelnden Bächen
durchströmt, zahlreiche lebhafte kleine Städte, meist nicht ohne geschichtliche
Erinnerungen, wie die dicht zusammengebauten Dörfer von reichen Obst¬
pflanzungen in hübschen Berggärten umgeben -- wahrlich, selbst eine Alpen¬
landschaft steht nicht in so vollem Gegensatze zur Marsch, denn die hat doch
stellenweise wieder die grandiose Ode wie diese, und nicht mit Unrecht bringt
man die ästhetischen Eindrücke der Niesenberge und des Meeres zusammen.
Wie es sich von selbst versteht, haben beide Dichter aus ihrer Heimat das
landschaftliche Auge mitgebracht: Otto Ludwig fand die Umgebung Leipzigs,
die doch nicht ohne intimere Reize ist, abscheulich, und Hebbel schrieb als
Heidelberger Student in sein Tagebuch: "Im allgemeinen ist die Heidelberger
Gegend, dem letzten Punkte des Begriffs nach, trift, wenigstens für mich; denn
statt der himmelanstrebenden Berge, die früher die Phantasie auftürmte, drängte
sie mir Zwerge entgegen. Eine Ebne, selbst die dithmarsische, hat etwas un¬
endliches." Der Ausspruch ist auch für den Menschen und Dichter im ganzen
charakteristisch, aber zunächst muß er doch auf sein Verhältnis zur Heimat
bezogen werden. Ich gehe nicht soweit, zu behaupten, daß der Einfluß der
heimischen Landschaft, den Hebbel zweiundzwanzig Jahre, Ludwig dreißig Jahre
auf sich wirken lassen mußte, den Dichtercharakter der beiden wesentlich bestimmt
habe, aber das unterliegt für mich keinem Zweifel, daß das Großartige und
Herbe in Hebbel, das Warme, Junige und Frische in Ludwig in einem Zu¬
sammenhang mit der Natur ihrer Heimat steht. Zum großen Teil haben sie
die genannten Eigenschaften freilich nicht unmittelbar, durch empfaugne Ein¬
drücke, sondern eben als Erben ihres Volkstums erhalten, auf das die Natur
der Heimat seit Jahrhunderten eingewirkt hatte.


Friedrich Hebbel und Veto Ludwig

aus dem Wesen und der Art des Schaffens der Dichter die Maßstäbe für die
Beurteilung des Kunstwerks und zugleich Licht über die Kunst selbst zu ge¬
winnen sucht; nur gehörte zu einer solchen ein Buch, und darum werdeu wir
uns hier doch mit einer Vergleichung in großen Zügen begnügen müssen.

Zunächst wären da die beiden Dichter nach Heimat und Abstammung zu
betrachten. Nein germanischer Rasse sind sie beide, aber sie gehören ver-
schiednen deutscheu Stämmen an: Hebbel ist Niedersachse, Otto Ludwig Thü¬
ringer. Man kann sich kaum einen größern Gegensatz denken als beider Heimat,
die dithmarsische Marsch und des Thüringer Waldland: die Marsch völlig eben,
ohne fließendes Wasser, baumlos, uur die meist langgestreckten Ortschaften von
ziemlich dichten Vanmpflcmznngen durchsetzt, im Herbste den wilden Weststürmen,
im Winter den scharfen Ostwinden preisgegeben, dafür freilich in dem hier spät
erscheinenden Frühling ein weites grünes Meer, im Sommer ein goldnes Korn¬
feld, das reich belebte Weiden unterbrechen, nicht ferne, hinter dem mächtigen
Deich die Nordsee, das „graue" Meer, mit ihrem hier fast stets ganz einsamen
Strande; Thüringen, die anmutigste deutsche Waldlandschaft, sanft gerundete
Bergkuppen, schöne Thäler, von rauschenden Flüssen und murmelnden Bächen
durchströmt, zahlreiche lebhafte kleine Städte, meist nicht ohne geschichtliche
Erinnerungen, wie die dicht zusammengebauten Dörfer von reichen Obst¬
pflanzungen in hübschen Berggärten umgeben — wahrlich, selbst eine Alpen¬
landschaft steht nicht in so vollem Gegensatze zur Marsch, denn die hat doch
stellenweise wieder die grandiose Ode wie diese, und nicht mit Unrecht bringt
man die ästhetischen Eindrücke der Niesenberge und des Meeres zusammen.
Wie es sich von selbst versteht, haben beide Dichter aus ihrer Heimat das
landschaftliche Auge mitgebracht: Otto Ludwig fand die Umgebung Leipzigs,
die doch nicht ohne intimere Reize ist, abscheulich, und Hebbel schrieb als
Heidelberger Student in sein Tagebuch: „Im allgemeinen ist die Heidelberger
Gegend, dem letzten Punkte des Begriffs nach, trift, wenigstens für mich; denn
statt der himmelanstrebenden Berge, die früher die Phantasie auftürmte, drängte
sie mir Zwerge entgegen. Eine Ebne, selbst die dithmarsische, hat etwas un¬
endliches." Der Ausspruch ist auch für den Menschen und Dichter im ganzen
charakteristisch, aber zunächst muß er doch auf sein Verhältnis zur Heimat
bezogen werden. Ich gehe nicht soweit, zu behaupten, daß der Einfluß der
heimischen Landschaft, den Hebbel zweiundzwanzig Jahre, Ludwig dreißig Jahre
auf sich wirken lassen mußte, den Dichtercharakter der beiden wesentlich bestimmt
habe, aber das unterliegt für mich keinem Zweifel, daß das Großartige und
Herbe in Hebbel, das Warme, Junige und Frische in Ludwig in einem Zu¬
sammenhang mit der Natur ihrer Heimat steht. Zum großen Teil haben sie
die genannten Eigenschaften freilich nicht unmittelbar, durch empfaugne Ein¬
drücke, sondern eben als Erben ihres Volkstums erhalten, auf das die Natur
der Heimat seit Jahrhunderten eingewirkt hatte.


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[0042] Friedrich Hebbel und Veto Ludwig aus dem Wesen und der Art des Schaffens der Dichter die Maßstäbe für die Beurteilung des Kunstwerks und zugleich Licht über die Kunst selbst zu ge¬ winnen sucht; nur gehörte zu einer solchen ein Buch, und darum werdeu wir uns hier doch mit einer Vergleichung in großen Zügen begnügen müssen. Zunächst wären da die beiden Dichter nach Heimat und Abstammung zu betrachten. Nein germanischer Rasse sind sie beide, aber sie gehören ver- schiednen deutscheu Stämmen an: Hebbel ist Niedersachse, Otto Ludwig Thü¬ ringer. Man kann sich kaum einen größern Gegensatz denken als beider Heimat, die dithmarsische Marsch und des Thüringer Waldland: die Marsch völlig eben, ohne fließendes Wasser, baumlos, uur die meist langgestreckten Ortschaften von ziemlich dichten Vanmpflcmznngen durchsetzt, im Herbste den wilden Weststürmen, im Winter den scharfen Ostwinden preisgegeben, dafür freilich in dem hier spät erscheinenden Frühling ein weites grünes Meer, im Sommer ein goldnes Korn¬ feld, das reich belebte Weiden unterbrechen, nicht ferne, hinter dem mächtigen Deich die Nordsee, das „graue" Meer, mit ihrem hier fast stets ganz einsamen Strande; Thüringen, die anmutigste deutsche Waldlandschaft, sanft gerundete Bergkuppen, schöne Thäler, von rauschenden Flüssen und murmelnden Bächen durchströmt, zahlreiche lebhafte kleine Städte, meist nicht ohne geschichtliche Erinnerungen, wie die dicht zusammengebauten Dörfer von reichen Obst¬ pflanzungen in hübschen Berggärten umgeben — wahrlich, selbst eine Alpen¬ landschaft steht nicht in so vollem Gegensatze zur Marsch, denn die hat doch stellenweise wieder die grandiose Ode wie diese, und nicht mit Unrecht bringt man die ästhetischen Eindrücke der Niesenberge und des Meeres zusammen. Wie es sich von selbst versteht, haben beide Dichter aus ihrer Heimat das landschaftliche Auge mitgebracht: Otto Ludwig fand die Umgebung Leipzigs, die doch nicht ohne intimere Reize ist, abscheulich, und Hebbel schrieb als Heidelberger Student in sein Tagebuch: „Im allgemeinen ist die Heidelberger Gegend, dem letzten Punkte des Begriffs nach, trift, wenigstens für mich; denn statt der himmelanstrebenden Berge, die früher die Phantasie auftürmte, drängte sie mir Zwerge entgegen. Eine Ebne, selbst die dithmarsische, hat etwas un¬ endliches." Der Ausspruch ist auch für den Menschen und Dichter im ganzen charakteristisch, aber zunächst muß er doch auf sein Verhältnis zur Heimat bezogen werden. Ich gehe nicht soweit, zu behaupten, daß der Einfluß der heimischen Landschaft, den Hebbel zweiundzwanzig Jahre, Ludwig dreißig Jahre auf sich wirken lassen mußte, den Dichtercharakter der beiden wesentlich bestimmt habe, aber das unterliegt für mich keinem Zweifel, daß das Großartige und Herbe in Hebbel, das Warme, Junige und Frische in Ludwig in einem Zu¬ sammenhang mit der Natur ihrer Heimat steht. Zum großen Teil haben sie die genannten Eigenschaften freilich nicht unmittelbar, durch empfaugne Ein¬ drücke, sondern eben als Erben ihres Volkstums erhalten, auf das die Natur der Heimat seit Jahrhunderten eingewirkt hatte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/42>, abgerufen am 27.07.2024.