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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Hebbel und Giro Ludwig

großen Teil schon früher in der deutschen Litteratur vorhanden war, und daß
ein vernünftiges Anknüpfen an das Vorhcmdne nicht nur den größten Teil
des Kampfes, sondern auch die zeitweilig vollständige Abhängigkeit vom Aus¬
lande überflüssig gemacht hätte. Wo sind Ibsens "Maria Magdalene" und
"Erbförster," wo ist Zolas "Zwischen Himmel und Erde"? Gewiß, stofflich
neu, sehr reich und mannichfaltig sind die modernen Franzosen, Norweger und
Russen, und auch von ihrer Behandlung der Stoffe kann man wohl lernen,
aber was ihre Dichtung, soweit sie diesen Namen verdient, berechtigtes, frucht¬
bares Neues bringt, in seinem besten Teil hatten wir das schon früher, und
wir hatten es als wahre Kunst. Das beginnt man neuerdings auch allge¬
meiner einzusehen, es werden Stimmen laut, die das Wiederaufnehmen der
Wege, die die einsamem Dichter vor 1870 gingen, empfehlen, die vor allem
die Eroberung Hebbels und Ludwigs für die deutsche Bühne verlangen.

Friedrich Hebbel und Otto Ludwig, der Dithmarse und der Thüringer,
zwei Dichtergestalten, die die gewöhnliche litteraturgeschichtliche Klassifizirimg
ohne weiteres zusammenstellt, die aber ganz gewiß bei aller Ähnlichkeit in
Lebens- und Dichterschicksalen luZniirivL sui Mnsris und von einander in der
Hauptsache völlig unabhängig sind -- es dürfte sich lohnen, sie einmal ge¬
nauer mit einander zu vergleichen, ja Ähnlichkeit und Unähnlichkeit fordern
sogar zu einer Vergleichung auf, die von der sonst bei Vergleichungen häufigen
Willkür weit entfernt bliebe. Das Material ist gegenwärtig vorhanden; denn
nachdem bereits im Jahre 1878 die umfangreiche Biographie Hebbels von
Emil Kuh erschienen und in den letzten Jahren seine Tagebücher und sein
Briefwechsel herausgegeben worden waren, ist im Jahre 1891 auch eine Bio¬
graphie Otto Ludwigs von Adolf Stern herausgekommen, die, obwohl nicht
so ausführlich wie Kuss Werk, doch der Eigenart dieses Dichterlebens voll ent¬
spricht und namentlich in der Darstellung der Entwicklungsgeschichte Ludwigs
als mustergiltig angesehen werden kann, und gleichzeitig hat die erste Ausgabe
der gesammelten Schriften Otto Ludwigs durch Adolf Stern und Erich Schmidt
mit ihrer Mitteilung noch unbekannter Dramen, dramatischer Fragmente, No¬
vellen und Gedichte des Dichters, sowie der Shakespearestudien in erwei¬
terter Form auch den Blick in die Dichterwerkstatt des Thüringer Dramatikers
vollständig eröffnet. Eine Vergleichung Hebbels und Ludwigs, der Menschen
und der Dichter, muß aber, abgesehen von den übereinstimmenden Charakter-
zügcn und Zeitumständen, darum besonders fruchtbar sein, weil beide es viel¬
leicht am entschlossensten von allen deutschen Dichtern mit einem reinen Dichter-
lcben gewagt, ihre ganze Kraft auf das Hervorbringen wahrhaft dichterischer
Werke gesammelt und mehr als die meisten deutschen Dichter, Goethe und
Schiller ausgenommen, über ihre Kunst bis ins einzelste hinein nachgedacht
haben. Es wäre also nicht ausgeschlossen, daß sich bei einer tief eingehenden
Vergleichung der beiden allerlei für die "psychologische" Ästhetik ergübe, die


Grenzboten III 1895 5
Friedrich Hebbel und Giro Ludwig

großen Teil schon früher in der deutschen Litteratur vorhanden war, und daß
ein vernünftiges Anknüpfen an das Vorhcmdne nicht nur den größten Teil
des Kampfes, sondern auch die zeitweilig vollständige Abhängigkeit vom Aus¬
lande überflüssig gemacht hätte. Wo sind Ibsens „Maria Magdalene" und
„Erbförster," wo ist Zolas „Zwischen Himmel und Erde"? Gewiß, stofflich
neu, sehr reich und mannichfaltig sind die modernen Franzosen, Norweger und
Russen, und auch von ihrer Behandlung der Stoffe kann man wohl lernen,
aber was ihre Dichtung, soweit sie diesen Namen verdient, berechtigtes, frucht¬
bares Neues bringt, in seinem besten Teil hatten wir das schon früher, und
wir hatten es als wahre Kunst. Das beginnt man neuerdings auch allge¬
meiner einzusehen, es werden Stimmen laut, die das Wiederaufnehmen der
Wege, die die einsamem Dichter vor 1870 gingen, empfehlen, die vor allem
die Eroberung Hebbels und Ludwigs für die deutsche Bühne verlangen.

Friedrich Hebbel und Otto Ludwig, der Dithmarse und der Thüringer,
zwei Dichtergestalten, die die gewöhnliche litteraturgeschichtliche Klassifizirimg
ohne weiteres zusammenstellt, die aber ganz gewiß bei aller Ähnlichkeit in
Lebens- und Dichterschicksalen luZniirivL sui Mnsris und von einander in der
Hauptsache völlig unabhängig sind — es dürfte sich lohnen, sie einmal ge¬
nauer mit einander zu vergleichen, ja Ähnlichkeit und Unähnlichkeit fordern
sogar zu einer Vergleichung auf, die von der sonst bei Vergleichungen häufigen
Willkür weit entfernt bliebe. Das Material ist gegenwärtig vorhanden; denn
nachdem bereits im Jahre 1878 die umfangreiche Biographie Hebbels von
Emil Kuh erschienen und in den letzten Jahren seine Tagebücher und sein
Briefwechsel herausgegeben worden waren, ist im Jahre 1891 auch eine Bio¬
graphie Otto Ludwigs von Adolf Stern herausgekommen, die, obwohl nicht
so ausführlich wie Kuss Werk, doch der Eigenart dieses Dichterlebens voll ent¬
spricht und namentlich in der Darstellung der Entwicklungsgeschichte Ludwigs
als mustergiltig angesehen werden kann, und gleichzeitig hat die erste Ausgabe
der gesammelten Schriften Otto Ludwigs durch Adolf Stern und Erich Schmidt
mit ihrer Mitteilung noch unbekannter Dramen, dramatischer Fragmente, No¬
vellen und Gedichte des Dichters, sowie der Shakespearestudien in erwei¬
terter Form auch den Blick in die Dichterwerkstatt des Thüringer Dramatikers
vollständig eröffnet. Eine Vergleichung Hebbels und Ludwigs, der Menschen
und der Dichter, muß aber, abgesehen von den übereinstimmenden Charakter-
zügcn und Zeitumständen, darum besonders fruchtbar sein, weil beide es viel¬
leicht am entschlossensten von allen deutschen Dichtern mit einem reinen Dichter-
lcben gewagt, ihre ganze Kraft auf das Hervorbringen wahrhaft dichterischer
Werke gesammelt und mehr als die meisten deutschen Dichter, Goethe und
Schiller ausgenommen, über ihre Kunst bis ins einzelste hinein nachgedacht
haben. Es wäre also nicht ausgeschlossen, daß sich bei einer tief eingehenden
Vergleichung der beiden allerlei für die „psychologische" Ästhetik ergübe, die


Grenzboten III 1895 5
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[0041] Friedrich Hebbel und Giro Ludwig großen Teil schon früher in der deutschen Litteratur vorhanden war, und daß ein vernünftiges Anknüpfen an das Vorhcmdne nicht nur den größten Teil des Kampfes, sondern auch die zeitweilig vollständige Abhängigkeit vom Aus¬ lande überflüssig gemacht hätte. Wo sind Ibsens „Maria Magdalene" und „Erbförster," wo ist Zolas „Zwischen Himmel und Erde"? Gewiß, stofflich neu, sehr reich und mannichfaltig sind die modernen Franzosen, Norweger und Russen, und auch von ihrer Behandlung der Stoffe kann man wohl lernen, aber was ihre Dichtung, soweit sie diesen Namen verdient, berechtigtes, frucht¬ bares Neues bringt, in seinem besten Teil hatten wir das schon früher, und wir hatten es als wahre Kunst. Das beginnt man neuerdings auch allge¬ meiner einzusehen, es werden Stimmen laut, die das Wiederaufnehmen der Wege, die die einsamem Dichter vor 1870 gingen, empfehlen, die vor allem die Eroberung Hebbels und Ludwigs für die deutsche Bühne verlangen. Friedrich Hebbel und Otto Ludwig, der Dithmarse und der Thüringer, zwei Dichtergestalten, die die gewöhnliche litteraturgeschichtliche Klassifizirimg ohne weiteres zusammenstellt, die aber ganz gewiß bei aller Ähnlichkeit in Lebens- und Dichterschicksalen luZniirivL sui Mnsris und von einander in der Hauptsache völlig unabhängig sind — es dürfte sich lohnen, sie einmal ge¬ nauer mit einander zu vergleichen, ja Ähnlichkeit und Unähnlichkeit fordern sogar zu einer Vergleichung auf, die von der sonst bei Vergleichungen häufigen Willkür weit entfernt bliebe. Das Material ist gegenwärtig vorhanden; denn nachdem bereits im Jahre 1878 die umfangreiche Biographie Hebbels von Emil Kuh erschienen und in den letzten Jahren seine Tagebücher und sein Briefwechsel herausgegeben worden waren, ist im Jahre 1891 auch eine Bio¬ graphie Otto Ludwigs von Adolf Stern herausgekommen, die, obwohl nicht so ausführlich wie Kuss Werk, doch der Eigenart dieses Dichterlebens voll ent¬ spricht und namentlich in der Darstellung der Entwicklungsgeschichte Ludwigs als mustergiltig angesehen werden kann, und gleichzeitig hat die erste Ausgabe der gesammelten Schriften Otto Ludwigs durch Adolf Stern und Erich Schmidt mit ihrer Mitteilung noch unbekannter Dramen, dramatischer Fragmente, No¬ vellen und Gedichte des Dichters, sowie der Shakespearestudien in erwei¬ terter Form auch den Blick in die Dichterwerkstatt des Thüringer Dramatikers vollständig eröffnet. Eine Vergleichung Hebbels und Ludwigs, der Menschen und der Dichter, muß aber, abgesehen von den übereinstimmenden Charakter- zügcn und Zeitumständen, darum besonders fruchtbar sein, weil beide es viel¬ leicht am entschlossensten von allen deutschen Dichtern mit einem reinen Dichter- lcben gewagt, ihre ganze Kraft auf das Hervorbringen wahrhaft dichterischer Werke gesammelt und mehr als die meisten deutschen Dichter, Goethe und Schiller ausgenommen, über ihre Kunst bis ins einzelste hinein nachgedacht haben. Es wäre also nicht ausgeschlossen, daß sich bei einer tief eingehenden Vergleichung der beiden allerlei für die „psychologische" Ästhetik ergübe, die Grenzboten III 1895 5

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/41>, abgerufen am 27.07.2024.