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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Die Zunge

sich Injurien zu schulden kommen lassen: "Man reißt und schleppt sie vor
den Richter, die Szene wird zum Tribunal." Auch Freiligrath spricht sich
in diesem Sinne aus: "Der andre aber geht und klagt."

Ja, die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen die Auffassung dessen,
was Recht ist. Das wohlthätige Institut der Eumeniden, dieser Gewissens¬
würmer der Alten, ist ausgestorben: das "furchtbare Geschlecht der Nacht" ist
durch einen versöhnlichen Schiedsmann, der beide Parteien mit dem aus¬
gesuchtesten Wohlwollen behandelt, ersetzt. Ich habe die Beobachtung gemacht-
daß zu Schiedsmännern durchweg wohlbeleibte Männer von der Art, wie sie
Cäsar gern um sich sah, gewählt werden. Schon das Äußere dieser Herren
wirkt beschwichtigend auf das Gemüt. Seht mich an, ruft es uns aus seinem
freundlichen Gesicht entgegen, seht, wie gemütlich das Leben doch eigentlich
ist! Weshalb wollt ihr euch denn verklagen? Kein Wunder, daß angesichts
einer solchen Friedensidylle die Parteien alle Rachegedanken fahren lassen und
Arm in Arm zum Frühschoppen in die nächste Kneipe eilen. Und der Mann
des Friedens,


Mit langsam abgomeßnem Schritte
Verschwindet er im Hintergrund.

Das ist die einzige Ähnlichkeit, die noch an die seligen Eumeniden erinnert.

Wie es handwerksmäßige Verrichtungen giebt, die den rhythmischen und
melodischen Sinn im Menschen wecken -- ich erinnere nur an die Müller,
die Leineweber, die Spinnerinnen --, so finden sich auch Hantirungen, die
auf den Gesprächssinn eine belebende Wirkung ausüben und die Zunge zu
sonst ungewohnten Leistungen anreizen. Hierher gehört die Thätigkeit des
Barbiers. Mein Nachbar ist ein großer Vogelfreund. Er bedient sich, wenn
er einen seiner befiederten Zöglinge zum Probesingen veranlassen will, eines
Kunstgriffs, von dem ich nicht weiß, ob er einer allgemeinen Praxis der Vogel¬
züchter entspricht. Er öffnet nämlich die Thür zur Küche und wetzt auf dem
steinernen Spülstein ein Brodmesser; es vergeht keine halbe Minute, und das
Vogeleier läßt ebenfalls etwas von sich hören. Es ist daher gar nicht un¬
möglich, daß die schleifende Bewegung des Rasirmessers auf dem Riemen eine
ähnliche Wirkung auf den Gesprächssinn des Barbiers ausübt; rechnet man
dazu, daß das Schaumschlagen im Becken an einen lebhaften Zungenschlag
erinnert und geeignet ist, auf den willigen Muskel anregend zu wirken, fo
wird man wahrscheinlich zugeben, daß der Barbier als Opfer seines Berufs
unter einer unverschuldeten Schwäche zu leiden hat. Ich habe mich mit meinem
Barbier immer auf einen sehr guten Fuß gestellt, und zwar aus triftigen
Gründen. Ich bin nämlich nicht besonders mutig, da mir vom Staate mein
einjähriges Jahr -- komisches Ding! ^ wegen allgemeiner Körperschwäche
geschenkt wurde. Ob sich diese allgemeine Körperschwäche auch auf mein Ge¬
hirn bezog, hat mir der Herr Oberstabsarzt, der ein liebenswürdiger Mann


Die Zunge

sich Injurien zu schulden kommen lassen: „Man reißt und schleppt sie vor
den Richter, die Szene wird zum Tribunal." Auch Freiligrath spricht sich
in diesem Sinne aus: „Der andre aber geht und klagt."

Ja, die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen die Auffassung dessen,
was Recht ist. Das wohlthätige Institut der Eumeniden, dieser Gewissens¬
würmer der Alten, ist ausgestorben: das „furchtbare Geschlecht der Nacht" ist
durch einen versöhnlichen Schiedsmann, der beide Parteien mit dem aus¬
gesuchtesten Wohlwollen behandelt, ersetzt. Ich habe die Beobachtung gemacht-
daß zu Schiedsmännern durchweg wohlbeleibte Männer von der Art, wie sie
Cäsar gern um sich sah, gewählt werden. Schon das Äußere dieser Herren
wirkt beschwichtigend auf das Gemüt. Seht mich an, ruft es uns aus seinem
freundlichen Gesicht entgegen, seht, wie gemütlich das Leben doch eigentlich
ist! Weshalb wollt ihr euch denn verklagen? Kein Wunder, daß angesichts
einer solchen Friedensidylle die Parteien alle Rachegedanken fahren lassen und
Arm in Arm zum Frühschoppen in die nächste Kneipe eilen. Und der Mann
des Friedens,


Mit langsam abgomeßnem Schritte
Verschwindet er im Hintergrund.

Das ist die einzige Ähnlichkeit, die noch an die seligen Eumeniden erinnert.

Wie es handwerksmäßige Verrichtungen giebt, die den rhythmischen und
melodischen Sinn im Menschen wecken — ich erinnere nur an die Müller,
die Leineweber, die Spinnerinnen —, so finden sich auch Hantirungen, die
auf den Gesprächssinn eine belebende Wirkung ausüben und die Zunge zu
sonst ungewohnten Leistungen anreizen. Hierher gehört die Thätigkeit des
Barbiers. Mein Nachbar ist ein großer Vogelfreund. Er bedient sich, wenn
er einen seiner befiederten Zöglinge zum Probesingen veranlassen will, eines
Kunstgriffs, von dem ich nicht weiß, ob er einer allgemeinen Praxis der Vogel¬
züchter entspricht. Er öffnet nämlich die Thür zur Küche und wetzt auf dem
steinernen Spülstein ein Brodmesser; es vergeht keine halbe Minute, und das
Vogeleier läßt ebenfalls etwas von sich hören. Es ist daher gar nicht un¬
möglich, daß die schleifende Bewegung des Rasirmessers auf dem Riemen eine
ähnliche Wirkung auf den Gesprächssinn des Barbiers ausübt; rechnet man
dazu, daß das Schaumschlagen im Becken an einen lebhaften Zungenschlag
erinnert und geeignet ist, auf den willigen Muskel anregend zu wirken, fo
wird man wahrscheinlich zugeben, daß der Barbier als Opfer seines Berufs
unter einer unverschuldeten Schwäche zu leiden hat. Ich habe mich mit meinem
Barbier immer auf einen sehr guten Fuß gestellt, und zwar aus triftigen
Gründen. Ich bin nämlich nicht besonders mutig, da mir vom Staate mein
einjähriges Jahr — komisches Ding! ^ wegen allgemeiner Körperschwäche
geschenkt wurde. Ob sich diese allgemeine Körperschwäche auch auf mein Ge¬
hirn bezog, hat mir der Herr Oberstabsarzt, der ein liebenswürdiger Mann


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[0394] Die Zunge sich Injurien zu schulden kommen lassen: „Man reißt und schleppt sie vor den Richter, die Szene wird zum Tribunal." Auch Freiligrath spricht sich in diesem Sinne aus: „Der andre aber geht und klagt." Ja, die Zeiten haben sich geändert und mit ihnen die Auffassung dessen, was Recht ist. Das wohlthätige Institut der Eumeniden, dieser Gewissens¬ würmer der Alten, ist ausgestorben: das „furchtbare Geschlecht der Nacht" ist durch einen versöhnlichen Schiedsmann, der beide Parteien mit dem aus¬ gesuchtesten Wohlwollen behandelt, ersetzt. Ich habe die Beobachtung gemacht- daß zu Schiedsmännern durchweg wohlbeleibte Männer von der Art, wie sie Cäsar gern um sich sah, gewählt werden. Schon das Äußere dieser Herren wirkt beschwichtigend auf das Gemüt. Seht mich an, ruft es uns aus seinem freundlichen Gesicht entgegen, seht, wie gemütlich das Leben doch eigentlich ist! Weshalb wollt ihr euch denn verklagen? Kein Wunder, daß angesichts einer solchen Friedensidylle die Parteien alle Rachegedanken fahren lassen und Arm in Arm zum Frühschoppen in die nächste Kneipe eilen. Und der Mann des Friedens, Mit langsam abgomeßnem Schritte Verschwindet er im Hintergrund. Das ist die einzige Ähnlichkeit, die noch an die seligen Eumeniden erinnert. Wie es handwerksmäßige Verrichtungen giebt, die den rhythmischen und melodischen Sinn im Menschen wecken — ich erinnere nur an die Müller, die Leineweber, die Spinnerinnen —, so finden sich auch Hantirungen, die auf den Gesprächssinn eine belebende Wirkung ausüben und die Zunge zu sonst ungewohnten Leistungen anreizen. Hierher gehört die Thätigkeit des Barbiers. Mein Nachbar ist ein großer Vogelfreund. Er bedient sich, wenn er einen seiner befiederten Zöglinge zum Probesingen veranlassen will, eines Kunstgriffs, von dem ich nicht weiß, ob er einer allgemeinen Praxis der Vogel¬ züchter entspricht. Er öffnet nämlich die Thür zur Küche und wetzt auf dem steinernen Spülstein ein Brodmesser; es vergeht keine halbe Minute, und das Vogeleier läßt ebenfalls etwas von sich hören. Es ist daher gar nicht un¬ möglich, daß die schleifende Bewegung des Rasirmessers auf dem Riemen eine ähnliche Wirkung auf den Gesprächssinn des Barbiers ausübt; rechnet man dazu, daß das Schaumschlagen im Becken an einen lebhaften Zungenschlag erinnert und geeignet ist, auf den willigen Muskel anregend zu wirken, fo wird man wahrscheinlich zugeben, daß der Barbier als Opfer seines Berufs unter einer unverschuldeten Schwäche zu leiden hat. Ich habe mich mit meinem Barbier immer auf einen sehr guten Fuß gestellt, und zwar aus triftigen Gründen. Ich bin nämlich nicht besonders mutig, da mir vom Staate mein einjähriges Jahr — komisches Ding! ^ wegen allgemeiner Körperschwäche geschenkt wurde. Ob sich diese allgemeine Körperschwäche auch auf mein Ge¬ hirn bezog, hat mir der Herr Oberstabsarzt, der ein liebenswürdiger Mann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/394>, abgerufen am 01.09.2024.