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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Die Zunge

Mädchen, sogar das reichste Mädchen kann uns mit einem "Nein" nicht ent¬
zücken. Ein "Ja" in Essig schmeckt süßer als ein "Nein" in Schlagsahne.

Kein Mund ist so beredt als ein Lüstermaul. Die böse Nachrede könnte
man vielleicht so definiren: eine zu der Wichtigkeit des mitgeteilten Gegen¬
standes in auffälligen Mißverhältnis stehende Kraftäußerung des menschlichen
Zungenmuskels. Unsre Altvordern, die nicht der Wohlthat eines Strafgesetz¬
buches teilhaftig waren, fertigten etwaige böse Nachrede "privatrechtlich" unter
sich ab. Eine böse Nachrede war es z. B., die die beiden Königinnen Vrun-
hild, Günthers Weib, und Chriemhild, Siegfrieds Weib, in hellen Zorn gegen
einander entbrennen ließ. Bei einem Festspiel, bei dem sich die edeln Necken
in friedlichen Waffenilbungen tummelten, begann die Lästermüuligkeit harmlos
und leise zischelnd, bei dem Kirchgange brach sie in lodernde Flammen aus:
hier machte Chriemhild der starken Brunhild eine Mitteilung, die man einem
Weibe nicht ungestraft bietet. "Brunhild, die Königin, weinte" -- heißt es
in dem Liede. Siegfried, den die Indiskretion feines Weibes verdroß, gelobte:


Genießen solls mein Weib,
Daß sie so hat betrübet Brunhildens Seel und Leib.

Sie bekam nämlich dafür eine gehörige Tracht Prügel, was in der guten
alten Zeit weiter nichts auffälliges war und der Liebe keinen Eintrag that.

Auch die Rechtspflege des klassischen Altertums gestattete eine promptere
Erledigung von dergleichen Rechtsstreitigkeiten, als unsre wohlgeordnete Para¬
graphenzeit mit ihrem Jnstanzenschneckengang. Der Ahnherr aller Läster¬
mäuler, Thersites, wurde, als er im Rate der Helden vor Troja seiner bösen
Zunge freien Lauf ließ, von Odysseus kürzer Hand abgeurteilt und abgestraft:


Rasch mit dem Szepter ihm Rücken und Schultern
Schlug er; da wandte sich jener, und häufig stürzt ihm die Thräne.
Rings, wie traurig man war, doch lachten sie herzlich um jenen.

Und die, die da lachten, waren die höchsten Behörden des Landes. In unserm
geordneten Rechtsleben wäre dem Thersites für seine schmähenden Äußerungen
die "Wahrung berechtigter Interessen" zugebilligt und nach dem Antrag des
Verteidigers auf Freisprechung erkannt worden. Odysseus aber hätte 'sich
einige Monate Gefängnis wegen "Körperverletzung unter Anwendung eines
gefährlichen Instruments" geholt und wäre zur Zahlung einer größern Geld¬
buße an den Verletzten und Tragung sämtlicher Kosten verurteilt worden.
Ohne ihn hätten die Griechen von den Troern die schönsten Hiebe gekriegt,
und Ilias sowohl wie Odyssee wäre zur Freude unsrer überbürdeten Gym¬
nasiasten ungeschrieben geblieben, wenn nicht die Erlebnisse des Sträflings
im Gefängnis zu X einen oppositionellen Homer zur Vesingung des göttlichen
Dulders angereizt Hütten. Heutzutage verfährt man anders mit Leuten, die


Grenzboten III 1895 49
Die Zunge

Mädchen, sogar das reichste Mädchen kann uns mit einem „Nein" nicht ent¬
zücken. Ein „Ja" in Essig schmeckt süßer als ein „Nein" in Schlagsahne.

Kein Mund ist so beredt als ein Lüstermaul. Die böse Nachrede könnte
man vielleicht so definiren: eine zu der Wichtigkeit des mitgeteilten Gegen¬
standes in auffälligen Mißverhältnis stehende Kraftäußerung des menschlichen
Zungenmuskels. Unsre Altvordern, die nicht der Wohlthat eines Strafgesetz¬
buches teilhaftig waren, fertigten etwaige böse Nachrede „privatrechtlich" unter
sich ab. Eine böse Nachrede war es z. B., die die beiden Königinnen Vrun-
hild, Günthers Weib, und Chriemhild, Siegfrieds Weib, in hellen Zorn gegen
einander entbrennen ließ. Bei einem Festspiel, bei dem sich die edeln Necken
in friedlichen Waffenilbungen tummelten, begann die Lästermüuligkeit harmlos
und leise zischelnd, bei dem Kirchgange brach sie in lodernde Flammen aus:
hier machte Chriemhild der starken Brunhild eine Mitteilung, die man einem
Weibe nicht ungestraft bietet. „Brunhild, die Königin, weinte" — heißt es
in dem Liede. Siegfried, den die Indiskretion feines Weibes verdroß, gelobte:


Genießen solls mein Weib,
Daß sie so hat betrübet Brunhildens Seel und Leib.

Sie bekam nämlich dafür eine gehörige Tracht Prügel, was in der guten
alten Zeit weiter nichts auffälliges war und der Liebe keinen Eintrag that.

Auch die Rechtspflege des klassischen Altertums gestattete eine promptere
Erledigung von dergleichen Rechtsstreitigkeiten, als unsre wohlgeordnete Para¬
graphenzeit mit ihrem Jnstanzenschneckengang. Der Ahnherr aller Läster¬
mäuler, Thersites, wurde, als er im Rate der Helden vor Troja seiner bösen
Zunge freien Lauf ließ, von Odysseus kürzer Hand abgeurteilt und abgestraft:


Rasch mit dem Szepter ihm Rücken und Schultern
Schlug er; da wandte sich jener, und häufig stürzt ihm die Thräne.
Rings, wie traurig man war, doch lachten sie herzlich um jenen.

Und die, die da lachten, waren die höchsten Behörden des Landes. In unserm
geordneten Rechtsleben wäre dem Thersites für seine schmähenden Äußerungen
die „Wahrung berechtigter Interessen" zugebilligt und nach dem Antrag des
Verteidigers auf Freisprechung erkannt worden. Odysseus aber hätte 'sich
einige Monate Gefängnis wegen „Körperverletzung unter Anwendung eines
gefährlichen Instruments" geholt und wäre zur Zahlung einer größern Geld¬
buße an den Verletzten und Tragung sämtlicher Kosten verurteilt worden.
Ohne ihn hätten die Griechen von den Troern die schönsten Hiebe gekriegt,
und Ilias sowohl wie Odyssee wäre zur Freude unsrer überbürdeten Gym¬
nasiasten ungeschrieben geblieben, wenn nicht die Erlebnisse des Sträflings
im Gefängnis zu X einen oppositionellen Homer zur Vesingung des göttlichen
Dulders angereizt Hütten. Heutzutage verfährt man anders mit Leuten, die


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[0393] Die Zunge Mädchen, sogar das reichste Mädchen kann uns mit einem „Nein" nicht ent¬ zücken. Ein „Ja" in Essig schmeckt süßer als ein „Nein" in Schlagsahne. Kein Mund ist so beredt als ein Lüstermaul. Die böse Nachrede könnte man vielleicht so definiren: eine zu der Wichtigkeit des mitgeteilten Gegen¬ standes in auffälligen Mißverhältnis stehende Kraftäußerung des menschlichen Zungenmuskels. Unsre Altvordern, die nicht der Wohlthat eines Strafgesetz¬ buches teilhaftig waren, fertigten etwaige böse Nachrede „privatrechtlich" unter sich ab. Eine böse Nachrede war es z. B., die die beiden Königinnen Vrun- hild, Günthers Weib, und Chriemhild, Siegfrieds Weib, in hellen Zorn gegen einander entbrennen ließ. Bei einem Festspiel, bei dem sich die edeln Necken in friedlichen Waffenilbungen tummelten, begann die Lästermüuligkeit harmlos und leise zischelnd, bei dem Kirchgange brach sie in lodernde Flammen aus: hier machte Chriemhild der starken Brunhild eine Mitteilung, die man einem Weibe nicht ungestraft bietet. „Brunhild, die Königin, weinte" — heißt es in dem Liede. Siegfried, den die Indiskretion feines Weibes verdroß, gelobte: Genießen solls mein Weib, Daß sie so hat betrübet Brunhildens Seel und Leib. Sie bekam nämlich dafür eine gehörige Tracht Prügel, was in der guten alten Zeit weiter nichts auffälliges war und der Liebe keinen Eintrag that. Auch die Rechtspflege des klassischen Altertums gestattete eine promptere Erledigung von dergleichen Rechtsstreitigkeiten, als unsre wohlgeordnete Para¬ graphenzeit mit ihrem Jnstanzenschneckengang. Der Ahnherr aller Läster¬ mäuler, Thersites, wurde, als er im Rate der Helden vor Troja seiner bösen Zunge freien Lauf ließ, von Odysseus kürzer Hand abgeurteilt und abgestraft: Rasch mit dem Szepter ihm Rücken und Schultern Schlug er; da wandte sich jener, und häufig stürzt ihm die Thräne. Rings, wie traurig man war, doch lachten sie herzlich um jenen. Und die, die da lachten, waren die höchsten Behörden des Landes. In unserm geordneten Rechtsleben wäre dem Thersites für seine schmähenden Äußerungen die „Wahrung berechtigter Interessen" zugebilligt und nach dem Antrag des Verteidigers auf Freisprechung erkannt worden. Odysseus aber hätte 'sich einige Monate Gefängnis wegen „Körperverletzung unter Anwendung eines gefährlichen Instruments" geholt und wäre zur Zahlung einer größern Geld¬ buße an den Verletzten und Tragung sämtlicher Kosten verurteilt worden. Ohne ihn hätten die Griechen von den Troern die schönsten Hiebe gekriegt, und Ilias sowohl wie Odyssee wäre zur Freude unsrer überbürdeten Gym¬ nasiasten ungeschrieben geblieben, wenn nicht die Erlebnisse des Sträflings im Gefängnis zu X einen oppositionellen Homer zur Vesingung des göttlichen Dulders angereizt Hütten. Heutzutage verfährt man anders mit Leuten, die Grenzboten III 1895 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/393>, abgerufen am 27.07.2024.