Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Kapital von Karl Marx

mögen vollends an die großen Kapitalisten. Wenn dieser Prozeß bis zum
Ende fortschreitet, so wird ein Zeitpunkt eintreten, wo das Kapital nicht mehr
vermehrt werden kann, und von da an muß nicht bloß die Profitrate, sondern
auch die Profitmasse sinken, da ja deren Vermehrung uur darauf beruht,
daß das Kapital im ganzen stärker wächst, als die Profitrate sinkt.

Das alles ist seit dem Tode des Verfassers immer deutlicher hervor¬
getreten und drängt sich heute gerade in Deutschland der Wahrnehmung un¬
widerstehlich auf. Selbst bei der Produktion der Nahrungsmittel wird der
natürliche Zweck der Erzeugung vollständig aus dem Auge verloren. In
Parlamentsverhandlungen, Vereinsversammlungen und Zeitungsartikeln ist gar
nicht oder nur höchstens einmal nebenbei davon die Rede, daß Getreide,
Zucker und Spiritus eigentlich den Zweck haben, verzehrt zu werden, sondern
immer bloß von dem Gewinn, um deswillen sie erzeugt werden; die ganze
Agrarbewegung dreht sich um die Forderung, daß der Staat die Grundbesitzer
in den Stand setzen soll, Nahrungs- und Genußmittel mit Gewinn zu Pro¬
duziren, und eben deswegen, weil kein Mensch daran denkt, die Möglichkeit
des Verbrauchs zu vermehren, ist jene Forderung unerfüllbar. Ebensowenig
wird beim Hüuserbau an die Befriedigung des Wohnuugsbedürfnisfes gedacht:
Wohnungen für die kleinen Leute werden nicht gebaut, weil bei deren Lage
die Erzielung des Unternehmergewinns und der Grundrente unsicher erscheint,
man baut nur für Leute, die es haben; aber deren Zahl reicht nicht hin, den
Zins des für Bauten verfügbaren Kapitals zu verwirklichen; daher stehen in
Berlin tausende von Mietpalüsten mit über 30000 Wohnungen leer. Der
Widersinn wird einem noch deutlicher, wenn man in alten Innungsartikeln
liest, wie jedes Gewerke als ein "Ampt" behandelt wurde, dem es obliege,
die Bürgerschaft mit Brot, Fleisch, Schuhen u. s. w. zu versorgen. Auch ist
es unter diesen Umständen nicht möglich, das Kapital aus weniger nützlichen
Industrien in nützlichere und notwendige überzuführen; es muß in denen stecken
bleiben, die den höchsten Gewinn versprechen, und sollte das auch nur die Fa¬
brikation von Bartsalbe oder Schminke sein, während Schulhäuser auch an
solchen Orten nicht gebaut werden können, wo die Kinder meilenweit zu laufen
haben und des Winters in dürftiger Kleidung unterwegs erfrieren oder in
Schneestürmen umkommen. Ganz richtig bemerkt Marx, daß dieser Zustand
anch dem rationellen Betrieb der Landwirtschaft hinderlich sei. Denn dieser
verlangt vor allem Beständigkeit, da die Erfolge einer bestimmten Boden¬
behandlung nur sehr langsam im Laufe der Jahre reifen. Wo aber mit Rück¬
sicht auf den größten Geldgewinn produzirt wird, während sich die Gewinn¬
chancen beständig ändern, da möchte der Landwirt Heuer Weizen, übers Jahr
Rüben, nach zwei Jahren Kartoffeln für Spiritus bauen, je nachdem diese
oder jene Ware an der Börse steigt.

Auf das Grundrentenproblem, das Marx sehr ausführlich behandelt,


Das Kapital von Karl Marx

mögen vollends an die großen Kapitalisten. Wenn dieser Prozeß bis zum
Ende fortschreitet, so wird ein Zeitpunkt eintreten, wo das Kapital nicht mehr
vermehrt werden kann, und von da an muß nicht bloß die Profitrate, sondern
auch die Profitmasse sinken, da ja deren Vermehrung uur darauf beruht,
daß das Kapital im ganzen stärker wächst, als die Profitrate sinkt.

Das alles ist seit dem Tode des Verfassers immer deutlicher hervor¬
getreten und drängt sich heute gerade in Deutschland der Wahrnehmung un¬
widerstehlich auf. Selbst bei der Produktion der Nahrungsmittel wird der
natürliche Zweck der Erzeugung vollständig aus dem Auge verloren. In
Parlamentsverhandlungen, Vereinsversammlungen und Zeitungsartikeln ist gar
nicht oder nur höchstens einmal nebenbei davon die Rede, daß Getreide,
Zucker und Spiritus eigentlich den Zweck haben, verzehrt zu werden, sondern
immer bloß von dem Gewinn, um deswillen sie erzeugt werden; die ganze
Agrarbewegung dreht sich um die Forderung, daß der Staat die Grundbesitzer
in den Stand setzen soll, Nahrungs- und Genußmittel mit Gewinn zu Pro¬
duziren, und eben deswegen, weil kein Mensch daran denkt, die Möglichkeit
des Verbrauchs zu vermehren, ist jene Forderung unerfüllbar. Ebensowenig
wird beim Hüuserbau an die Befriedigung des Wohnuugsbedürfnisfes gedacht:
Wohnungen für die kleinen Leute werden nicht gebaut, weil bei deren Lage
die Erzielung des Unternehmergewinns und der Grundrente unsicher erscheint,
man baut nur für Leute, die es haben; aber deren Zahl reicht nicht hin, den
Zins des für Bauten verfügbaren Kapitals zu verwirklichen; daher stehen in
Berlin tausende von Mietpalüsten mit über 30000 Wohnungen leer. Der
Widersinn wird einem noch deutlicher, wenn man in alten Innungsartikeln
liest, wie jedes Gewerke als ein „Ampt" behandelt wurde, dem es obliege,
die Bürgerschaft mit Brot, Fleisch, Schuhen u. s. w. zu versorgen. Auch ist
es unter diesen Umständen nicht möglich, das Kapital aus weniger nützlichen
Industrien in nützlichere und notwendige überzuführen; es muß in denen stecken
bleiben, die den höchsten Gewinn versprechen, und sollte das auch nur die Fa¬
brikation von Bartsalbe oder Schminke sein, während Schulhäuser auch an
solchen Orten nicht gebaut werden können, wo die Kinder meilenweit zu laufen
haben und des Winters in dürftiger Kleidung unterwegs erfrieren oder in
Schneestürmen umkommen. Ganz richtig bemerkt Marx, daß dieser Zustand
anch dem rationellen Betrieb der Landwirtschaft hinderlich sei. Denn dieser
verlangt vor allem Beständigkeit, da die Erfolge einer bestimmten Boden¬
behandlung nur sehr langsam im Laufe der Jahre reifen. Wo aber mit Rück¬
sicht auf den größten Geldgewinn produzirt wird, während sich die Gewinn¬
chancen beständig ändern, da möchte der Landwirt Heuer Weizen, übers Jahr
Rüben, nach zwei Jahren Kartoffeln für Spiritus bauen, je nachdem diese
oder jene Ware an der Börse steigt.

Auf das Grundrentenproblem, das Marx sehr ausführlich behandelt,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0141" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220467"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Kapital von Karl Marx</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_529" prev="#ID_528"> mögen vollends an die großen Kapitalisten. Wenn dieser Prozeß bis zum<lb/>
Ende fortschreitet, so wird ein Zeitpunkt eintreten, wo das Kapital nicht mehr<lb/>
vermehrt werden kann, und von da an muß nicht bloß die Profitrate, sondern<lb/>
auch die Profitmasse sinken, da ja deren Vermehrung uur darauf beruht,<lb/>
daß das Kapital im ganzen stärker wächst, als die Profitrate sinkt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_530"> Das alles ist seit dem Tode des Verfassers immer deutlicher hervor¬<lb/>
getreten und drängt sich heute gerade in Deutschland der Wahrnehmung un¬<lb/>
widerstehlich auf. Selbst bei der Produktion der Nahrungsmittel wird der<lb/>
natürliche Zweck der Erzeugung vollständig aus dem Auge verloren. In<lb/>
Parlamentsverhandlungen, Vereinsversammlungen und Zeitungsartikeln ist gar<lb/>
nicht oder nur höchstens einmal nebenbei davon die Rede, daß Getreide,<lb/>
Zucker und Spiritus eigentlich den Zweck haben, verzehrt zu werden, sondern<lb/>
immer bloß von dem Gewinn, um deswillen sie erzeugt werden; die ganze<lb/>
Agrarbewegung dreht sich um die Forderung, daß der Staat die Grundbesitzer<lb/>
in den Stand setzen soll, Nahrungs- und Genußmittel mit Gewinn zu Pro¬<lb/>
duziren, und eben deswegen, weil kein Mensch daran denkt, die Möglichkeit<lb/>
des Verbrauchs zu vermehren, ist jene Forderung unerfüllbar. Ebensowenig<lb/>
wird beim Hüuserbau an die Befriedigung des Wohnuugsbedürfnisfes gedacht:<lb/>
Wohnungen für die kleinen Leute werden nicht gebaut, weil bei deren Lage<lb/>
die Erzielung des Unternehmergewinns und der Grundrente unsicher erscheint,<lb/>
man baut nur für Leute, die es haben; aber deren Zahl reicht nicht hin, den<lb/>
Zins des für Bauten verfügbaren Kapitals zu verwirklichen; daher stehen in<lb/>
Berlin tausende von Mietpalüsten mit über 30000 Wohnungen leer. Der<lb/>
Widersinn wird einem noch deutlicher, wenn man in alten Innungsartikeln<lb/>
liest, wie jedes Gewerke als ein &#x201E;Ampt" behandelt wurde, dem es obliege,<lb/>
die Bürgerschaft mit Brot, Fleisch, Schuhen u. s. w. zu versorgen. Auch ist<lb/>
es unter diesen Umständen nicht möglich, das Kapital aus weniger nützlichen<lb/>
Industrien in nützlichere und notwendige überzuführen; es muß in denen stecken<lb/>
bleiben, die den höchsten Gewinn versprechen, und sollte das auch nur die Fa¬<lb/>
brikation von Bartsalbe oder Schminke sein, während Schulhäuser auch an<lb/>
solchen Orten nicht gebaut werden können, wo die Kinder meilenweit zu laufen<lb/>
haben und des Winters in dürftiger Kleidung unterwegs erfrieren oder in<lb/>
Schneestürmen umkommen. Ganz richtig bemerkt Marx, daß dieser Zustand<lb/>
anch dem rationellen Betrieb der Landwirtschaft hinderlich sei. Denn dieser<lb/>
verlangt vor allem Beständigkeit, da die Erfolge einer bestimmten Boden¬<lb/>
behandlung nur sehr langsam im Laufe der Jahre reifen. Wo aber mit Rück¬<lb/>
sicht auf den größten Geldgewinn produzirt wird, während sich die Gewinn¬<lb/>
chancen beständig ändern, da möchte der Landwirt Heuer Weizen, übers Jahr<lb/>
Rüben, nach zwei Jahren Kartoffeln für Spiritus bauen, je nachdem diese<lb/>
oder jene Ware an der Börse steigt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_531" next="#ID_532"> Auf das Grundrentenproblem, das Marx sehr ausführlich behandelt,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0141] Das Kapital von Karl Marx mögen vollends an die großen Kapitalisten. Wenn dieser Prozeß bis zum Ende fortschreitet, so wird ein Zeitpunkt eintreten, wo das Kapital nicht mehr vermehrt werden kann, und von da an muß nicht bloß die Profitrate, sondern auch die Profitmasse sinken, da ja deren Vermehrung uur darauf beruht, daß das Kapital im ganzen stärker wächst, als die Profitrate sinkt. Das alles ist seit dem Tode des Verfassers immer deutlicher hervor¬ getreten und drängt sich heute gerade in Deutschland der Wahrnehmung un¬ widerstehlich auf. Selbst bei der Produktion der Nahrungsmittel wird der natürliche Zweck der Erzeugung vollständig aus dem Auge verloren. In Parlamentsverhandlungen, Vereinsversammlungen und Zeitungsartikeln ist gar nicht oder nur höchstens einmal nebenbei davon die Rede, daß Getreide, Zucker und Spiritus eigentlich den Zweck haben, verzehrt zu werden, sondern immer bloß von dem Gewinn, um deswillen sie erzeugt werden; die ganze Agrarbewegung dreht sich um die Forderung, daß der Staat die Grundbesitzer in den Stand setzen soll, Nahrungs- und Genußmittel mit Gewinn zu Pro¬ duziren, und eben deswegen, weil kein Mensch daran denkt, die Möglichkeit des Verbrauchs zu vermehren, ist jene Forderung unerfüllbar. Ebensowenig wird beim Hüuserbau an die Befriedigung des Wohnuugsbedürfnisfes gedacht: Wohnungen für die kleinen Leute werden nicht gebaut, weil bei deren Lage die Erzielung des Unternehmergewinns und der Grundrente unsicher erscheint, man baut nur für Leute, die es haben; aber deren Zahl reicht nicht hin, den Zins des für Bauten verfügbaren Kapitals zu verwirklichen; daher stehen in Berlin tausende von Mietpalüsten mit über 30000 Wohnungen leer. Der Widersinn wird einem noch deutlicher, wenn man in alten Innungsartikeln liest, wie jedes Gewerke als ein „Ampt" behandelt wurde, dem es obliege, die Bürgerschaft mit Brot, Fleisch, Schuhen u. s. w. zu versorgen. Auch ist es unter diesen Umständen nicht möglich, das Kapital aus weniger nützlichen Industrien in nützlichere und notwendige überzuführen; es muß in denen stecken bleiben, die den höchsten Gewinn versprechen, und sollte das auch nur die Fa¬ brikation von Bartsalbe oder Schminke sein, während Schulhäuser auch an solchen Orten nicht gebaut werden können, wo die Kinder meilenweit zu laufen haben und des Winters in dürftiger Kleidung unterwegs erfrieren oder in Schneestürmen umkommen. Ganz richtig bemerkt Marx, daß dieser Zustand anch dem rationellen Betrieb der Landwirtschaft hinderlich sei. Denn dieser verlangt vor allem Beständigkeit, da die Erfolge einer bestimmten Boden¬ behandlung nur sehr langsam im Laufe der Jahre reifen. Wo aber mit Rück¬ sicht auf den größten Geldgewinn produzirt wird, während sich die Gewinn¬ chancen beständig ändern, da möchte der Landwirt Heuer Weizen, übers Jahr Rüben, nach zwei Jahren Kartoffeln für Spiritus bauen, je nachdem diese oder jene Ware an der Börse steigt. Auf das Grundrentenproblem, das Marx sehr ausführlich behandelt,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/141
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/141>, abgerufen am 28.07.2024.