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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Ein schweizeris^^ Strafgesetzbuch

Stooß entworfnen, vom Ballast der Schulbegriffe befreiten Thatbestände doch
alle wesentlichen Merkmale der einzelnen strafbaren Handlungen erschöpfen,
während sie es dem Richter fast unmöglich machen, durch Spaltung und Züch¬
tung jener Begriffe auf juristische Reinkulturen zu einer Gesetzesanwendung
zu kommen, die dem gesunden Rechtsgefühl unverständlich bleibt. So ist nach
dem Stooßschen Entwürfe des Diebstahls schuldig: wer jemand eine Sache
nimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmäßig zu bereichern. Nach
der Begründung wird damit bezweckt, ausdrücklich von dem Begriffe des Dieb¬
stahls die Fälle auszuschließen, wo eine wertlose Sache entwendet wird, wo
eine Sache gegen den vollen Geldwert oder gegen eine gleichwertige Sache
umgetauscht wird, wo nur ein Akt der Selbsthilfe vorliegt, wo eine Sache im
Interesse, aber gegen den Willen des Eigentümers verbraucht (z. B. sein Vieh
besser gefüttert) wird, endlich wo eine Sache nicht der Bereicherung wegen,
sondern zu einem andern Zweck entweichet wird, z. B. um dem Eigentümer
einen Schabernack zu spielen, oder um die Sache zum Verdruß des Eigentümers
zu zerstören.

Man vergleiche damit, daß das Reichsgericht (Entscheidungen Bd. 25,
S. 172) folgenden Fall als Diebstahl bestraft hat: Der Angeklagte hatte als
Steinsetzer einige Zeit bei dem Steinsetzmeister sah. in N. gearbeitet. Aus
diesem Verhältnis ergab sich für ihn bei der Lohnzahlung laut Berechnung
des Arbeitgebers ein Betrag von 19 Mark 27 Pfennigen. Diesen Betrag hatte
sah. abgesondert auf dem Tische, auf dem sich noch ein Haufen ihm gehöriger
Goldstücke befand, aufgezählt; er verweigerte aber, seine Hand darüber haltend,
die Auszahlung mit der Aufforderung, K. möge zuvor seine Altersversorgungs-
quittungskarte wegen des Einklebens der Marken herbeiholen. Statt dem
nachzukommen, griff K. mit den Worten: "Bist Wohl dumm" in den erwähnten
Haufen mit Goldstücken, nahm davon ein Zwanzigmarkstück weg und entfernte
sich damit in eine nahe Restauration, in der er bald darauf auf Antrag des
sah. polizeilich festgenommen wurde. "Auf dem Boden dieser Thatsachen," sagt
das Reichsgericht, "konnte die Vorinstanz rechtlich bedenkenfrei dazu gelangen,
alle Thatbestandsmerkmale des Diebstahls für gegeben zu erachten." Stooß
macht die Bemerkung: "Der Kriminalist ist in dieser Frage nicht vollkommen
unbefangen, weil er durch die Doktrin beeinflußt wird. Daher suchte der
Verfasser bei Personen, die sich ein natürliches Rechtsgefühl bewahrt haben,
zu ermitteln, ob sie diese Fälle als Diebstahl ansehen, und sie erklärten in
jedem Falle ohne Besinnen >wie wohl die Mehrzahl unsrer Leser auch zu dem
reichsgerichtlichen Falle erklären dürften^: Nein, das ist nicht Diebstahl." So
hat auch der Entwurf die theoretisch sehr leicht zu ziehende, im einzelnen Falle
aber manchmal fast unauffindbare Grenze zwischen Mord und Todschlag:
Handeln mit oder ohne Überlegung, aufgegeben. Er kennt nur das Verbrechen
der vorsätzlichen Tötung und zeichnet es im Strafmaße aus nach unten bei


Ein schweizeris^^ Strafgesetzbuch

Stooß entworfnen, vom Ballast der Schulbegriffe befreiten Thatbestände doch
alle wesentlichen Merkmale der einzelnen strafbaren Handlungen erschöpfen,
während sie es dem Richter fast unmöglich machen, durch Spaltung und Züch¬
tung jener Begriffe auf juristische Reinkulturen zu einer Gesetzesanwendung
zu kommen, die dem gesunden Rechtsgefühl unverständlich bleibt. So ist nach
dem Stooßschen Entwürfe des Diebstahls schuldig: wer jemand eine Sache
nimmt, um sich oder einen andern damit unrechtmäßig zu bereichern. Nach
der Begründung wird damit bezweckt, ausdrücklich von dem Begriffe des Dieb¬
stahls die Fälle auszuschließen, wo eine wertlose Sache entwendet wird, wo
eine Sache gegen den vollen Geldwert oder gegen eine gleichwertige Sache
umgetauscht wird, wo nur ein Akt der Selbsthilfe vorliegt, wo eine Sache im
Interesse, aber gegen den Willen des Eigentümers verbraucht (z. B. sein Vieh
besser gefüttert) wird, endlich wo eine Sache nicht der Bereicherung wegen,
sondern zu einem andern Zweck entweichet wird, z. B. um dem Eigentümer
einen Schabernack zu spielen, oder um die Sache zum Verdruß des Eigentümers
zu zerstören.

Man vergleiche damit, daß das Reichsgericht (Entscheidungen Bd. 25,
S. 172) folgenden Fall als Diebstahl bestraft hat: Der Angeklagte hatte als
Steinsetzer einige Zeit bei dem Steinsetzmeister sah. in N. gearbeitet. Aus
diesem Verhältnis ergab sich für ihn bei der Lohnzahlung laut Berechnung
des Arbeitgebers ein Betrag von 19 Mark 27 Pfennigen. Diesen Betrag hatte
sah. abgesondert auf dem Tische, auf dem sich noch ein Haufen ihm gehöriger
Goldstücke befand, aufgezählt; er verweigerte aber, seine Hand darüber haltend,
die Auszahlung mit der Aufforderung, K. möge zuvor seine Altersversorgungs-
quittungskarte wegen des Einklebens der Marken herbeiholen. Statt dem
nachzukommen, griff K. mit den Worten: „Bist Wohl dumm" in den erwähnten
Haufen mit Goldstücken, nahm davon ein Zwanzigmarkstück weg und entfernte
sich damit in eine nahe Restauration, in der er bald darauf auf Antrag des
sah. polizeilich festgenommen wurde. „Auf dem Boden dieser Thatsachen," sagt
das Reichsgericht, „konnte die Vorinstanz rechtlich bedenkenfrei dazu gelangen,
alle Thatbestandsmerkmale des Diebstahls für gegeben zu erachten." Stooß
macht die Bemerkung: „Der Kriminalist ist in dieser Frage nicht vollkommen
unbefangen, weil er durch die Doktrin beeinflußt wird. Daher suchte der
Verfasser bei Personen, die sich ein natürliches Rechtsgefühl bewahrt haben,
zu ermitteln, ob sie diese Fälle als Diebstahl ansehen, und sie erklärten in
jedem Falle ohne Besinnen >wie wohl die Mehrzahl unsrer Leser auch zu dem
reichsgerichtlichen Falle erklären dürften^: Nein, das ist nicht Diebstahl." So
hat auch der Entwurf die theoretisch sehr leicht zu ziehende, im einzelnen Falle
aber manchmal fast unauffindbare Grenze zwischen Mord und Todschlag:
Handeln mit oder ohne Überlegung, aufgegeben. Er kennt nur das Verbrechen
der vorsätzlichen Tötung und zeichnet es im Strafmaße aus nach unten bei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/10>, abgerufen am 28.06.2024.