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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

liege wie Erinnerungen an sein eignes Einzelleben. "Überhaupt werden aber
Erinnerungen nur eine untergeordnete Rolle spielen, wenn das gegenwärtige
und das bevorstehende Leben gebührend gewürdigt werden. Vorstellungen von
der Zukunft haben mehr Zusammenhang mit der Wirklichkeit, als ein Schatten¬
spiel mit rückwärts gewandten Ideen. Verhält man sich nun in diesem Sinne
in jeder Beziehung zu aller Geschichte, so bleibt von dem Geschichtswust glück¬
licherweise nicht allzu viel übrig. Die künstliche Erinnerungslast, mit der eine
kritiklose Halbbildung den gegenwärtigen Menschen beschwert, ist abzuwerfen.
Die Verkehrtheiten sind eines spezialisirten Gedankens nicht wert, abgesehen von
einer allgemeinen geistigen Vrandmarknng derselben, muß das Gedenken an sie
ausgetilgt werden."

Im innersten Zusammenhange mit diesem Radikalismus steht die Gering¬
schätzung, die Dühring dem Privatleben und der Einwirkung des Privatlebens
auf die poetische Litteratur widmet, eine Geringschätzung, in der ein guter
Teil seiner fast unglaublichen Urteile über Goethes Dichtergenius wurzelt. Für
den echten Dichter spiegelt sich alles Gesamtleben doch im Einzelleben und zu
drei Vierteln in dem, was Dühring Privatleben nennt, und nur, wer dies
verkennt, wer Charaktere und Handlungen immer nur da sucht, wo abnorme
Zustände das Recht und das Gewicht des Einzellebens für einen vorüber¬
gehenden Augenblick aufgehoben haben, kann von Goethe behaupten: "Auf
Hervorbringung von Charakter und Handlung war er in seinem eignen per¬
sönlichen Wesen nicht angelegt. Sich dagegen in Gefühlen ergehen, sich dem
Wellenspiel von Gemütsantrieben überlassen und allenfalls einige gegenständliche
Malerei zugehöriger Situationen, diese aber schon einigermaßen nach aus¬
ländischen Mustern ausüben, darin bestand bei ihm das am meisten Hervor¬
tretende oder auch nach außen Wirksame." Nur wer den höchsten seelischen
Aufschwung und die tiefsten sittlichen Kräfte an das öffentliche Leben, vor allem
um revolutionäre Bestrebungen und Wirkungen gebunden sieht, kann in "Werther"
lediglich "etwas Liebelei und Zubehör," im "Faust" etwas "dramatisch ein¬
gerahmte Lhrik," in der großen menschlichen Erscheinung Goethes ausschließlich
Knechtssinn, Neigung zur Beschönigung, sittliche MaSkenträgerei, geistiges und
sittliches Defizit, Mangel an Gedankenschärfe erblicken, kann Goethes Lyrik mit
dem Satze abfertigen wollen, "daß zwar die Form zum Lyrischen bei Goethe
in einem hohen Grade von Gelungenheit anzutreffen, dafür aber der Gehalt
gerade in deu berühmtesten Leistungen fast aus ein Nichts beschränkt" sei.
Goethe braucht so wenig gegen Dühring als gegen die lange Reihe seiner
Schinäher, von W. Menzel und Börne bis zum Jesuiten Vaumgartncr, ver¬
teidigt zu werden. Das wunderliche bei dieser Art Kritik liegt jederzeit nur
darin, daß sie sich immer wieder sür neu hält. "Die Figur Goethes wird
den meisten so vorkommen, als wenn sie noch nie dessen Gestalt zu sehen be¬
kommen" (hätten), sagt Dühring wörtlich in seiner Vorrede. Nichts weniger


Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur

liege wie Erinnerungen an sein eignes Einzelleben. „Überhaupt werden aber
Erinnerungen nur eine untergeordnete Rolle spielen, wenn das gegenwärtige
und das bevorstehende Leben gebührend gewürdigt werden. Vorstellungen von
der Zukunft haben mehr Zusammenhang mit der Wirklichkeit, als ein Schatten¬
spiel mit rückwärts gewandten Ideen. Verhält man sich nun in diesem Sinne
in jeder Beziehung zu aller Geschichte, so bleibt von dem Geschichtswust glück¬
licherweise nicht allzu viel übrig. Die künstliche Erinnerungslast, mit der eine
kritiklose Halbbildung den gegenwärtigen Menschen beschwert, ist abzuwerfen.
Die Verkehrtheiten sind eines spezialisirten Gedankens nicht wert, abgesehen von
einer allgemeinen geistigen Vrandmarknng derselben, muß das Gedenken an sie
ausgetilgt werden."

Im innersten Zusammenhange mit diesem Radikalismus steht die Gering¬
schätzung, die Dühring dem Privatleben und der Einwirkung des Privatlebens
auf die poetische Litteratur widmet, eine Geringschätzung, in der ein guter
Teil seiner fast unglaublichen Urteile über Goethes Dichtergenius wurzelt. Für
den echten Dichter spiegelt sich alles Gesamtleben doch im Einzelleben und zu
drei Vierteln in dem, was Dühring Privatleben nennt, und nur, wer dies
verkennt, wer Charaktere und Handlungen immer nur da sucht, wo abnorme
Zustände das Recht und das Gewicht des Einzellebens für einen vorüber¬
gehenden Augenblick aufgehoben haben, kann von Goethe behaupten: „Auf
Hervorbringung von Charakter und Handlung war er in seinem eignen per¬
sönlichen Wesen nicht angelegt. Sich dagegen in Gefühlen ergehen, sich dem
Wellenspiel von Gemütsantrieben überlassen und allenfalls einige gegenständliche
Malerei zugehöriger Situationen, diese aber schon einigermaßen nach aus¬
ländischen Mustern ausüben, darin bestand bei ihm das am meisten Hervor¬
tretende oder auch nach außen Wirksame." Nur wer den höchsten seelischen
Aufschwung und die tiefsten sittlichen Kräfte an das öffentliche Leben, vor allem
um revolutionäre Bestrebungen und Wirkungen gebunden sieht, kann in „Werther"
lediglich „etwas Liebelei und Zubehör," im „Faust" etwas „dramatisch ein¬
gerahmte Lhrik," in der großen menschlichen Erscheinung Goethes ausschließlich
Knechtssinn, Neigung zur Beschönigung, sittliche MaSkenträgerei, geistiges und
sittliches Defizit, Mangel an Gedankenschärfe erblicken, kann Goethes Lyrik mit
dem Satze abfertigen wollen, „daß zwar die Form zum Lyrischen bei Goethe
in einem hohen Grade von Gelungenheit anzutreffen, dafür aber der Gehalt
gerade in deu berühmtesten Leistungen fast aus ein Nichts beschränkt" sei.
Goethe braucht so wenig gegen Dühring als gegen die lange Reihe seiner
Schinäher, von W. Menzel und Börne bis zum Jesuiten Vaumgartncr, ver¬
teidigt zu werden. Das wunderliche bei dieser Art Kritik liegt jederzeit nur
darin, daß sie sich immer wieder sür neu hält. „Die Figur Goethes wird
den meisten so vorkommen, als wenn sie noch nie dessen Gestalt zu sehen be¬
kommen" (hätten), sagt Dühring wörtlich in seiner Vorrede. Nichts weniger


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[0093] Lügen Dühring und die Größen der modernen Litteratur liege wie Erinnerungen an sein eignes Einzelleben. „Überhaupt werden aber Erinnerungen nur eine untergeordnete Rolle spielen, wenn das gegenwärtige und das bevorstehende Leben gebührend gewürdigt werden. Vorstellungen von der Zukunft haben mehr Zusammenhang mit der Wirklichkeit, als ein Schatten¬ spiel mit rückwärts gewandten Ideen. Verhält man sich nun in diesem Sinne in jeder Beziehung zu aller Geschichte, so bleibt von dem Geschichtswust glück¬ licherweise nicht allzu viel übrig. Die künstliche Erinnerungslast, mit der eine kritiklose Halbbildung den gegenwärtigen Menschen beschwert, ist abzuwerfen. Die Verkehrtheiten sind eines spezialisirten Gedankens nicht wert, abgesehen von einer allgemeinen geistigen Vrandmarknng derselben, muß das Gedenken an sie ausgetilgt werden." Im innersten Zusammenhange mit diesem Radikalismus steht die Gering¬ schätzung, die Dühring dem Privatleben und der Einwirkung des Privatlebens auf die poetische Litteratur widmet, eine Geringschätzung, in der ein guter Teil seiner fast unglaublichen Urteile über Goethes Dichtergenius wurzelt. Für den echten Dichter spiegelt sich alles Gesamtleben doch im Einzelleben und zu drei Vierteln in dem, was Dühring Privatleben nennt, und nur, wer dies verkennt, wer Charaktere und Handlungen immer nur da sucht, wo abnorme Zustände das Recht und das Gewicht des Einzellebens für einen vorüber¬ gehenden Augenblick aufgehoben haben, kann von Goethe behaupten: „Auf Hervorbringung von Charakter und Handlung war er in seinem eignen per¬ sönlichen Wesen nicht angelegt. Sich dagegen in Gefühlen ergehen, sich dem Wellenspiel von Gemütsantrieben überlassen und allenfalls einige gegenständliche Malerei zugehöriger Situationen, diese aber schon einigermaßen nach aus¬ ländischen Mustern ausüben, darin bestand bei ihm das am meisten Hervor¬ tretende oder auch nach außen Wirksame." Nur wer den höchsten seelischen Aufschwung und die tiefsten sittlichen Kräfte an das öffentliche Leben, vor allem um revolutionäre Bestrebungen und Wirkungen gebunden sieht, kann in „Werther" lediglich „etwas Liebelei und Zubehör," im „Faust" etwas „dramatisch ein¬ gerahmte Lhrik," in der großen menschlichen Erscheinung Goethes ausschließlich Knechtssinn, Neigung zur Beschönigung, sittliche MaSkenträgerei, geistiges und sittliches Defizit, Mangel an Gedankenschärfe erblicken, kann Goethes Lyrik mit dem Satze abfertigen wollen, „daß zwar die Form zum Lyrischen bei Goethe in einem hohen Grade von Gelungenheit anzutreffen, dafür aber der Gehalt gerade in deu berühmtesten Leistungen fast aus ein Nichts beschränkt" sei. Goethe braucht so wenig gegen Dühring als gegen die lange Reihe seiner Schinäher, von W. Menzel und Börne bis zum Jesuiten Vaumgartncr, ver¬ teidigt zu werden. Das wunderliche bei dieser Art Kritik liegt jederzeit nur darin, daß sie sich immer wieder sür neu hält. „Die Figur Goethes wird den meisten so vorkommen, als wenn sie noch nie dessen Gestalt zu sehen be¬ kommen" (hätten), sagt Dühring wörtlich in seiner Vorrede. Nichts weniger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/93>, abgerufen am 22.12.2024.