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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Rnabenerziehnng und Anabenunterricht im alten Hellas

diese Behörde über die sittliche Ausführung der reifern Jugend. Bei Alkiphrvn
dringt ein Areopagit in das Haus eines jungen Taugenichts, der mit ein
paar Parasiten ein Gelage abhält, schlägt und ohrfeigt den jungen Gastgeber
und führt ihn wie einen armseligen Schücher ab. In manchen Staaten war
es durch Polizeigesetze den Jünglingen verwehrt, sich vor Mittag oder nach
Sonnenuntergang auf der Straße zu zeigen. Selbst ein eigentliches Schul¬
gesetz hatte Solon erlassen, wonach unter andern keine Schule vor Sonnen¬
aufgang -- der Frühunterricht begann mit Sonnenaufgang -- geöffnet werden
sollte, alle nach Sonnenuntergang geschlossen sein mußten, und in der Palästra
sich kein Sklave salben oder üben durfte. Und wenn in Platos "Kriton" die
Gesetze den Sokrates fragen: haben die unter uns Gesetzen nicht gut geboten,
die deinen Vater anhielten, dich in musischer Kunst und Gymnastik unterrichten
zu lassen? so geht daraus deutlich hervor, daß auch in Athen eine Art gesetz¬
licher Nötigung zum Schulbesuch bestand. Und so hatte denn nicht nur die
Hauptstadt, sondern auch jedes Städtchen, ja jeder Flecken wohl schon früh¬
zeitig sein Didaskaleion oder wenigstens seinen Knabenlehrer, der, wenn ihm
kein Haus zur Verfügung stand, seine Schüler unter freiem Himmel unter¬
richtete. Ein Vasenbild*) zeigt uns das Innere einer solchen athenischen
Schule aus der Zeit des peloponnesischen Krieges. Vier Lehrer, teils jugend¬
lich bartlos, teils schon ältere Männer, sitzen auf einfachen Stühlen; ihre
Schüler, zehn- bis zwölfjährige Knaben, ebenfalls vier, stehen bis auf den
einen, der die Kithara lernt, aufrecht vor ihnen, beide Hände sittsam in den
Mantel gehüllt. Zwei bärtige Alte, die, auf deu Krückstock gestützt, aufmerksam
acht geben, mögen Väter oder Schulaufseher sein. Der junge Lehrer mit der
Doppelflöte unterrichtet einen eifrig zuhörenden Knaben im Gesang, indem er
ihm die Melodie vorbläst. Ein zweiter Knabe steht vor seinem ebenfalls jungen
Lehrer, der die aus drei zusammenlegbaren Täfelchen bestehende Schreibtafel
vor sich aufgeschlagen hat, in der Rechten den Griffel hält und aufmerksam
in die Tafel hineinblickt, sei es, um eine Niederschrift des Knaben zu ver¬
bessern oder um selbst etwas niederzuschreiben, damit es der Schüler dann
nachschreibe. Der dritte Knabe hat, wie sein Lehrer, eine siebensaitige Lyra in
der Hand; der Lehrer scheint dem Knaben soeben das Greifen der Akkorde zu
zeigen, und zwar mit den Fingern der linken Hand, von dem in der Rechten
gehaltnen Schlagholz, dem Plektron, macht er keinen Gebrauch. Der vierte
Schüler endlich sagt seinem Lehrer ein auswendig gelerntes Gedicht auf, einen
Nomos oder Dithhrambos, dessen Anfang lautet: "Muse, heb an mit dem
Sänge vom herrlichen Strome Skamander." An den Wänden des Schul-



*) Die sogenannte Schale des Duris. Vergl. Blümner, Leben und Sitten der Griechen,
Abteilung 1, S. 120 fg.; Grasberger, Erziehung und Unterricht im klassischen Altertum
Bö. 2, S. 280.
Rnabenerziehnng und Anabenunterricht im alten Hellas

diese Behörde über die sittliche Ausführung der reifern Jugend. Bei Alkiphrvn
dringt ein Areopagit in das Haus eines jungen Taugenichts, der mit ein
paar Parasiten ein Gelage abhält, schlägt und ohrfeigt den jungen Gastgeber
und führt ihn wie einen armseligen Schücher ab. In manchen Staaten war
es durch Polizeigesetze den Jünglingen verwehrt, sich vor Mittag oder nach
Sonnenuntergang auf der Straße zu zeigen. Selbst ein eigentliches Schul¬
gesetz hatte Solon erlassen, wonach unter andern keine Schule vor Sonnen¬
aufgang — der Frühunterricht begann mit Sonnenaufgang — geöffnet werden
sollte, alle nach Sonnenuntergang geschlossen sein mußten, und in der Palästra
sich kein Sklave salben oder üben durfte. Und wenn in Platos „Kriton" die
Gesetze den Sokrates fragen: haben die unter uns Gesetzen nicht gut geboten,
die deinen Vater anhielten, dich in musischer Kunst und Gymnastik unterrichten
zu lassen? so geht daraus deutlich hervor, daß auch in Athen eine Art gesetz¬
licher Nötigung zum Schulbesuch bestand. Und so hatte denn nicht nur die
Hauptstadt, sondern auch jedes Städtchen, ja jeder Flecken wohl schon früh¬
zeitig sein Didaskaleion oder wenigstens seinen Knabenlehrer, der, wenn ihm
kein Haus zur Verfügung stand, seine Schüler unter freiem Himmel unter¬
richtete. Ein Vasenbild*) zeigt uns das Innere einer solchen athenischen
Schule aus der Zeit des peloponnesischen Krieges. Vier Lehrer, teils jugend¬
lich bartlos, teils schon ältere Männer, sitzen auf einfachen Stühlen; ihre
Schüler, zehn- bis zwölfjährige Knaben, ebenfalls vier, stehen bis auf den
einen, der die Kithara lernt, aufrecht vor ihnen, beide Hände sittsam in den
Mantel gehüllt. Zwei bärtige Alte, die, auf deu Krückstock gestützt, aufmerksam
acht geben, mögen Väter oder Schulaufseher sein. Der junge Lehrer mit der
Doppelflöte unterrichtet einen eifrig zuhörenden Knaben im Gesang, indem er
ihm die Melodie vorbläst. Ein zweiter Knabe steht vor seinem ebenfalls jungen
Lehrer, der die aus drei zusammenlegbaren Täfelchen bestehende Schreibtafel
vor sich aufgeschlagen hat, in der Rechten den Griffel hält und aufmerksam
in die Tafel hineinblickt, sei es, um eine Niederschrift des Knaben zu ver¬
bessern oder um selbst etwas niederzuschreiben, damit es der Schüler dann
nachschreibe. Der dritte Knabe hat, wie sein Lehrer, eine siebensaitige Lyra in
der Hand; der Lehrer scheint dem Knaben soeben das Greifen der Akkorde zu
zeigen, und zwar mit den Fingern der linken Hand, von dem in der Rechten
gehaltnen Schlagholz, dem Plektron, macht er keinen Gebrauch. Der vierte
Schüler endlich sagt seinem Lehrer ein auswendig gelerntes Gedicht auf, einen
Nomos oder Dithhrambos, dessen Anfang lautet: „Muse, heb an mit dem
Sänge vom herrlichen Strome Skamander." An den Wänden des Schul-



*) Die sogenannte Schale des Duris. Vergl. Blümner, Leben und Sitten der Griechen,
Abteilung 1, S. 120 fg.; Grasberger, Erziehung und Unterricht im klassischen Altertum
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/87>, abgerufen am 22.12.2024.