Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Unabenerziehung und Anabenunterricht im alten Hellas

lebten," den Wert der Gymnastik verkannten. Ja wir werden an die Be¬
kämpfung des Turnens im Anfang unsers Jahrhunderts erinnert, wenn uns
Athenäos berichtet, daß Polykrates und andre Tyrannen die Palästren zu
beseitigen gestrebt haben. Dafür erblicken wieder Aristophanes und die spätern
Komödiendichter einen Verfall nationaler Tüchtigkeit darin, daß die ätherische
Jugend ihrer Zeit mehr Freude an spitzfindigen Wortgefechten und philo¬
sophischen Grübeleien zeige als am Ringen und andern gymnastischen Übungen
der guten alten Erziehung, der Athen das Geschlecht der Marathonsieger ver¬
danke. Das ist nun freilich dichterische Schwarzseherei, denn noch Cicero sagt
ausdrücklich, daß zu seiner Zeit, wo doch schon seit langem Philosophen in
allen griechischen Gymnasien Vorträge hielten, die junge Zuhörerschaft, sobald
sie den Diskos rollen hörte, aus dem Auditorium verschwunden sei, um lieber
dem Diskoswerfen zuzusehen. Aristophanes beschreibt in den "Wolken" durch
den Mund des Vertreters des Rechts den nach alter Sitte erzognen Jüng¬
ling so:

Denn auch die Freundschaft, deren Wert der Heitere so hoch schätzte, daß er
sie in einem viel gesungnen Gesellschaftsliede unter die vier wünschenswertesten
Gaben rechnete:

auch die Freundschaft hatte ihre Geburth- und Pflegestätte vorzüglich in der
Palästra, die aber auch gerade darum, infolge gewisser schädlicher Auswüchse
dieses Triebes, die Abneigung der Römer erweckte.

Der Schule dagegen in unserm Sinne entsprach das Didaskaleion. In
Athen waren die Didasknleia ebenso ivie die Palästren Privatanstalten unter
staatlicher Aufsicht. Wie nämlich das heutige England wenigstens für die
Kinder der höhern Stände keinen Schulzwang kennt, so hat es auch in Athen
keinen eigentlichen Schulzwang gegeben. Anders in Sparta, wo Schulzwang
für die körperlich-militärische Erziehung, in Arkadien, wo er für die musika¬
lische Ausbildung bestand, und in den italischen und sizilischen Kolonien, so¬
weit sie nach den Gesetzen des Charondas regiert wurden, denn Charondas
hatte einen gleichmäßigen Elementarunterricht aller Bürgerkinder vorgeschrieben.


Unabenerziehung und Anabenunterricht im alten Hellas

lebten," den Wert der Gymnastik verkannten. Ja wir werden an die Be¬
kämpfung des Turnens im Anfang unsers Jahrhunderts erinnert, wenn uns
Athenäos berichtet, daß Polykrates und andre Tyrannen die Palästren zu
beseitigen gestrebt haben. Dafür erblicken wieder Aristophanes und die spätern
Komödiendichter einen Verfall nationaler Tüchtigkeit darin, daß die ätherische
Jugend ihrer Zeit mehr Freude an spitzfindigen Wortgefechten und philo¬
sophischen Grübeleien zeige als am Ringen und andern gymnastischen Übungen
der guten alten Erziehung, der Athen das Geschlecht der Marathonsieger ver¬
danke. Das ist nun freilich dichterische Schwarzseherei, denn noch Cicero sagt
ausdrücklich, daß zu seiner Zeit, wo doch schon seit langem Philosophen in
allen griechischen Gymnasien Vorträge hielten, die junge Zuhörerschaft, sobald
sie den Diskos rollen hörte, aus dem Auditorium verschwunden sei, um lieber
dem Diskoswerfen zuzusehen. Aristophanes beschreibt in den „Wolken" durch
den Mund des Vertreters des Rechts den nach alter Sitte erzognen Jüng¬
ling so:

Denn auch die Freundschaft, deren Wert der Heitere so hoch schätzte, daß er
sie in einem viel gesungnen Gesellschaftsliede unter die vier wünschenswertesten
Gaben rechnete:

auch die Freundschaft hatte ihre Geburth- und Pflegestätte vorzüglich in der
Palästra, die aber auch gerade darum, infolge gewisser schädlicher Auswüchse
dieses Triebes, die Abneigung der Römer erweckte.

Der Schule dagegen in unserm Sinne entsprach das Didaskaleion. In
Athen waren die Didasknleia ebenso ivie die Palästren Privatanstalten unter
staatlicher Aufsicht. Wie nämlich das heutige England wenigstens für die
Kinder der höhern Stände keinen Schulzwang kennt, so hat es auch in Athen
keinen eigentlichen Schulzwang gegeben. Anders in Sparta, wo Schulzwang
für die körperlich-militärische Erziehung, in Arkadien, wo er für die musika¬
lische Ausbildung bestand, und in den italischen und sizilischen Kolonien, so¬
weit sie nach den Gesetzen des Charondas regiert wurden, denn Charondas
hatte einen gleichmäßigen Elementarunterricht aller Bürgerkinder vorgeschrieben.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0085" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219761"/>
          <fw type="header" place="top"> Unabenerziehung und Anabenunterricht im alten Hellas</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_235" prev="#ID_234"> lebten," den Wert der Gymnastik verkannten. Ja wir werden an die Be¬<lb/>
kämpfung des Turnens im Anfang unsers Jahrhunderts erinnert, wenn uns<lb/>
Athenäos berichtet, daß Polykrates und andre Tyrannen die Palästren zu<lb/>
beseitigen gestrebt haben. Dafür erblicken wieder Aristophanes und die spätern<lb/>
Komödiendichter einen Verfall nationaler Tüchtigkeit darin, daß die ätherische<lb/>
Jugend ihrer Zeit mehr Freude an spitzfindigen Wortgefechten und philo¬<lb/>
sophischen Grübeleien zeige als am Ringen und andern gymnastischen Übungen<lb/>
der guten alten Erziehung, der Athen das Geschlecht der Marathonsieger ver¬<lb/>
danke. Das ist nun freilich dichterische Schwarzseherei, denn noch Cicero sagt<lb/>
ausdrücklich, daß zu seiner Zeit, wo doch schon seit langem Philosophen in<lb/>
allen griechischen Gymnasien Vorträge hielten, die junge Zuhörerschaft, sobald<lb/>
sie den Diskos rollen hörte, aus dem Auditorium verschwunden sei, um lieber<lb/>
dem Diskoswerfen zuzusehen. Aristophanes beschreibt in den &#x201E;Wolken" durch<lb/>
den Mund des Vertreters des Rechts den nach alter Sitte erzognen Jüng¬<lb/>
ling so:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_1" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_236"> Denn auch die Freundschaft, deren Wert der Heitere so hoch schätzte, daß er<lb/>
sie in einem viel gesungnen Gesellschaftsliede unter die vier wünschenswertesten<lb/>
Gaben rechnete:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_2" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <p xml:id="ID_237"> auch die Freundschaft hatte ihre Geburth- und Pflegestätte vorzüglich in der<lb/>
Palästra, die aber auch gerade darum, infolge gewisser schädlicher Auswüchse<lb/>
dieses Triebes, die Abneigung der Römer erweckte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_238" next="#ID_239"> Der Schule dagegen in unserm Sinne entsprach das Didaskaleion. In<lb/>
Athen waren die Didasknleia ebenso ivie die Palästren Privatanstalten unter<lb/>
staatlicher Aufsicht. Wie nämlich das heutige England wenigstens für die<lb/>
Kinder der höhern Stände keinen Schulzwang kennt, so hat es auch in Athen<lb/>
keinen eigentlichen Schulzwang gegeben. Anders in Sparta, wo Schulzwang<lb/>
für die körperlich-militärische Erziehung, in Arkadien, wo er für die musika¬<lb/>
lische Ausbildung bestand, und in den italischen und sizilischen Kolonien, so¬<lb/>
weit sie nach den Gesetzen des Charondas regiert wurden, denn Charondas<lb/>
hatte einen gleichmäßigen Elementarunterricht aller Bürgerkinder vorgeschrieben.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0085] Unabenerziehung und Anabenunterricht im alten Hellas lebten," den Wert der Gymnastik verkannten. Ja wir werden an die Be¬ kämpfung des Turnens im Anfang unsers Jahrhunderts erinnert, wenn uns Athenäos berichtet, daß Polykrates und andre Tyrannen die Palästren zu beseitigen gestrebt haben. Dafür erblicken wieder Aristophanes und die spätern Komödiendichter einen Verfall nationaler Tüchtigkeit darin, daß die ätherische Jugend ihrer Zeit mehr Freude an spitzfindigen Wortgefechten und philo¬ sophischen Grübeleien zeige als am Ringen und andern gymnastischen Übungen der guten alten Erziehung, der Athen das Geschlecht der Marathonsieger ver¬ danke. Das ist nun freilich dichterische Schwarzseherei, denn noch Cicero sagt ausdrücklich, daß zu seiner Zeit, wo doch schon seit langem Philosophen in allen griechischen Gymnasien Vorträge hielten, die junge Zuhörerschaft, sobald sie den Diskos rollen hörte, aus dem Auditorium verschwunden sei, um lieber dem Diskoswerfen zuzusehen. Aristophanes beschreibt in den „Wolken" durch den Mund des Vertreters des Rechts den nach alter Sitte erzognen Jüng¬ ling so: Denn auch die Freundschaft, deren Wert der Heitere so hoch schätzte, daß er sie in einem viel gesungnen Gesellschaftsliede unter die vier wünschenswertesten Gaben rechnete: auch die Freundschaft hatte ihre Geburth- und Pflegestätte vorzüglich in der Palästra, die aber auch gerade darum, infolge gewisser schädlicher Auswüchse dieses Triebes, die Abneigung der Römer erweckte. Der Schule dagegen in unserm Sinne entsprach das Didaskaleion. In Athen waren die Didasknleia ebenso ivie die Palästren Privatanstalten unter staatlicher Aufsicht. Wie nämlich das heutige England wenigstens für die Kinder der höhern Stände keinen Schulzwang kennt, so hat es auch in Athen keinen eigentlichen Schulzwang gegeben. Anders in Sparta, wo Schulzwang für die körperlich-militärische Erziehung, in Arkadien, wo er für die musika¬ lische Ausbildung bestand, und in den italischen und sizilischen Kolonien, so¬ weit sie nach den Gesetzen des Charondas regiert wurden, denn Charondas hatte einen gleichmäßigen Elementarunterricht aller Bürgerkinder vorgeschrieben.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/85
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/85>, abgerufen am 25.08.2024.