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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Anabenerziehung und Knabenunterricht im alten Hellas

Voreltern. War dann freilich der Knabe zum Jüngling herangewachsen, so
kam es wohl vor, daß der junge Herr seinerseits handgreiflich wurde oder
doch wenigstens die wohlgemeinten Vorstellungen des alten Pädagogen mit
den Worten abschnitt: "Bin ich dein, oder bist du mein Sklave? Schweig
und folge mir!"

Überhaupt mögen die bedenklichen Seiten dieser mit Ausnahme Spartas
in ganz Hellas bestehenden Einrichtung sich um so fühlbarer gemacht haben,
je lockerer allmählich die anfangs strenge Kinderzucht wurde. Die Pädagogen,
die in der alten Tragödie, in den Stücken des Sophokles und des Euripides
auftrete", werden als treue, ihrer Herrschaft bis zur Aufopferung ergebne und
ihres Vertrauens würdige Alte dargestellt. Hatten sie doch in Athen in Kon-
nidas, dem mythischen Pädagogen des Theseus, eine Art Schutzheiligen, einen
Heros, dem alljährlich ein feierliches Widderopfer dargebracht wurde, und in
Sikinnys, dem bekannten Pädagogen der Kinder des Themistokles, einen Ver¬
treter gehabt, der ihrem Stande zu hoher Ehre gereicht hatte. Welch andres
Gesicht zeigt aber jener Pädagog in einer attischen Komödie des dritten Jahr¬
hunderts, den der entrüstete Vater anfährt:


Heilloser Wicht, den Sohn, den ich dir übergeben,
Hast du verderbt, verführt zu sittenlosen Leben;
Was sonst er nie gethan, er zecht jetzt schon am Morgen.

Da war es denn kein Wunder, wenn der alt gewordne Pädagog schließlich
als Pförtner ein dürftiges Gnadenbrod aß. während es noch zu Demosthenes
Zeit in guten Bürgerhäusern Athens Brauch war, ihn ebenso wie die Amme
ini Alter anständig zu versorgen.

Wir kommen nun zu den Schulen, und zwar zu den zwei Schulen, die
die Knaben vom siebenten Jahre an besuchten. Das hellenische Erziehungs¬
ideal ist die Kalokagathia, die gleichmüßige körperliche und sittliche Tüchtigkeit.
Darin aber sind alle, die in Hellas über Erziehung gesprochen, geschrieben
und Gesetze gegeben haben, von Plato und Aristoteles bis zu Plutarch und
Lukian herab, einig, daß dieses Ideal nur dann erreicht werden könne, wenn
Geist und Körper als ganz gleichwertige Gegenstände der erzieherischen Thä¬
tigkeit betrachtet werden und auf die Ausbildung beider die gleiche Sorge
und vor allem die gleiche Zeit verwendet wird. Denn "zu allem, was
Menschen betreiben, ist der Körper sehr nützlich," sagt Sokrates bei Xenophon,
und bei Lukian stellt Solon als Ziel der athenischen Jugenderziehung hin,
"daß sie Bürger bilde mit tüchtigem Geiste und kräftigem Leibe."

So hatte denn frühzeitig jede griechische Stadt Anstalten für die körper¬
liche Ausbildung der Knaben, sogenannte Palästren, d.i. Ring- oder Turn¬
schulen, und daneben als Stätten des geistigen Unterrichts die Didaskaleia,
die Schulen mehr in unserm Sinne. Beide besuchte der Knabe gleichmäßig,
bis er an die Schwelle des Jünglingsalters gelangt war. In der Pcilästra


Anabenerziehung und Knabenunterricht im alten Hellas

Voreltern. War dann freilich der Knabe zum Jüngling herangewachsen, so
kam es wohl vor, daß der junge Herr seinerseits handgreiflich wurde oder
doch wenigstens die wohlgemeinten Vorstellungen des alten Pädagogen mit
den Worten abschnitt: „Bin ich dein, oder bist du mein Sklave? Schweig
und folge mir!"

Überhaupt mögen die bedenklichen Seiten dieser mit Ausnahme Spartas
in ganz Hellas bestehenden Einrichtung sich um so fühlbarer gemacht haben,
je lockerer allmählich die anfangs strenge Kinderzucht wurde. Die Pädagogen,
die in der alten Tragödie, in den Stücken des Sophokles und des Euripides
auftrete», werden als treue, ihrer Herrschaft bis zur Aufopferung ergebne und
ihres Vertrauens würdige Alte dargestellt. Hatten sie doch in Athen in Kon-
nidas, dem mythischen Pädagogen des Theseus, eine Art Schutzheiligen, einen
Heros, dem alljährlich ein feierliches Widderopfer dargebracht wurde, und in
Sikinnys, dem bekannten Pädagogen der Kinder des Themistokles, einen Ver¬
treter gehabt, der ihrem Stande zu hoher Ehre gereicht hatte. Welch andres
Gesicht zeigt aber jener Pädagog in einer attischen Komödie des dritten Jahr¬
hunderts, den der entrüstete Vater anfährt:


Heilloser Wicht, den Sohn, den ich dir übergeben,
Hast du verderbt, verführt zu sittenlosen Leben;
Was sonst er nie gethan, er zecht jetzt schon am Morgen.

Da war es denn kein Wunder, wenn der alt gewordne Pädagog schließlich
als Pförtner ein dürftiges Gnadenbrod aß. während es noch zu Demosthenes
Zeit in guten Bürgerhäusern Athens Brauch war, ihn ebenso wie die Amme
ini Alter anständig zu versorgen.

Wir kommen nun zu den Schulen, und zwar zu den zwei Schulen, die
die Knaben vom siebenten Jahre an besuchten. Das hellenische Erziehungs¬
ideal ist die Kalokagathia, die gleichmüßige körperliche und sittliche Tüchtigkeit.
Darin aber sind alle, die in Hellas über Erziehung gesprochen, geschrieben
und Gesetze gegeben haben, von Plato und Aristoteles bis zu Plutarch und
Lukian herab, einig, daß dieses Ideal nur dann erreicht werden könne, wenn
Geist und Körper als ganz gleichwertige Gegenstände der erzieherischen Thä¬
tigkeit betrachtet werden und auf die Ausbildung beider die gleiche Sorge
und vor allem die gleiche Zeit verwendet wird. Denn „zu allem, was
Menschen betreiben, ist der Körper sehr nützlich," sagt Sokrates bei Xenophon,
und bei Lukian stellt Solon als Ziel der athenischen Jugenderziehung hin,
„daß sie Bürger bilde mit tüchtigem Geiste und kräftigem Leibe."

So hatte denn frühzeitig jede griechische Stadt Anstalten für die körper¬
liche Ausbildung der Knaben, sogenannte Palästren, d.i. Ring- oder Turn¬
schulen, und daneben als Stätten des geistigen Unterrichts die Didaskaleia,
die Schulen mehr in unserm Sinne. Beide besuchte der Knabe gleichmäßig,
bis er an die Schwelle des Jünglingsalters gelangt war. In der Pcilästra


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[0082] Anabenerziehung und Knabenunterricht im alten Hellas Voreltern. War dann freilich der Knabe zum Jüngling herangewachsen, so kam es wohl vor, daß der junge Herr seinerseits handgreiflich wurde oder doch wenigstens die wohlgemeinten Vorstellungen des alten Pädagogen mit den Worten abschnitt: „Bin ich dein, oder bist du mein Sklave? Schweig und folge mir!" Überhaupt mögen die bedenklichen Seiten dieser mit Ausnahme Spartas in ganz Hellas bestehenden Einrichtung sich um so fühlbarer gemacht haben, je lockerer allmählich die anfangs strenge Kinderzucht wurde. Die Pädagogen, die in der alten Tragödie, in den Stücken des Sophokles und des Euripides auftrete», werden als treue, ihrer Herrschaft bis zur Aufopferung ergebne und ihres Vertrauens würdige Alte dargestellt. Hatten sie doch in Athen in Kon- nidas, dem mythischen Pädagogen des Theseus, eine Art Schutzheiligen, einen Heros, dem alljährlich ein feierliches Widderopfer dargebracht wurde, und in Sikinnys, dem bekannten Pädagogen der Kinder des Themistokles, einen Ver¬ treter gehabt, der ihrem Stande zu hoher Ehre gereicht hatte. Welch andres Gesicht zeigt aber jener Pädagog in einer attischen Komödie des dritten Jahr¬ hunderts, den der entrüstete Vater anfährt: Heilloser Wicht, den Sohn, den ich dir übergeben, Hast du verderbt, verführt zu sittenlosen Leben; Was sonst er nie gethan, er zecht jetzt schon am Morgen. Da war es denn kein Wunder, wenn der alt gewordne Pädagog schließlich als Pförtner ein dürftiges Gnadenbrod aß. während es noch zu Demosthenes Zeit in guten Bürgerhäusern Athens Brauch war, ihn ebenso wie die Amme ini Alter anständig zu versorgen. Wir kommen nun zu den Schulen, und zwar zu den zwei Schulen, die die Knaben vom siebenten Jahre an besuchten. Das hellenische Erziehungs¬ ideal ist die Kalokagathia, die gleichmüßige körperliche und sittliche Tüchtigkeit. Darin aber sind alle, die in Hellas über Erziehung gesprochen, geschrieben und Gesetze gegeben haben, von Plato und Aristoteles bis zu Plutarch und Lukian herab, einig, daß dieses Ideal nur dann erreicht werden könne, wenn Geist und Körper als ganz gleichwertige Gegenstände der erzieherischen Thä¬ tigkeit betrachtet werden und auf die Ausbildung beider die gleiche Sorge und vor allem die gleiche Zeit verwendet wird. Denn „zu allem, was Menschen betreiben, ist der Körper sehr nützlich," sagt Sokrates bei Xenophon, und bei Lukian stellt Solon als Ziel der athenischen Jugenderziehung hin, „daß sie Bürger bilde mit tüchtigem Geiste und kräftigem Leibe." So hatte denn frühzeitig jede griechische Stadt Anstalten für die körper¬ liche Ausbildung der Knaben, sogenannte Palästren, d.i. Ring- oder Turn¬ schulen, und daneben als Stätten des geistigen Unterrichts die Didaskaleia, die Schulen mehr in unserm Sinne. Beide besuchte der Knabe gleichmäßig, bis er an die Schwelle des Jünglingsalters gelangt war. In der Pcilästra

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/82>, abgerufen am 22.12.2024.