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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

licher Zollschranken aufs neue gegen einander abzuschließen. Jeder Fortschritt der
Waffen- und Schiffstechnik aber zwingt die Völker, sich um der Landesverteidigung
willen neue Lasten aufzubürden. Wegen der Verteidigung des Vaterlandes gegen
wen? Da steckt eines der verzwicktesten Rätsel unsrer Zeit. Ist es doch ein hand¬
greiflicher Widerspruch, wenn die Versammlung einer furchtbaren Kriegsflotte als
eine Friedensbürgschaft gepriesen wird. Nicht je kriegerischer, sondern je unkriege¬
rischer die Völker sind, desto mehr ist der Frieden gesichert. Das Wort: 8i vis
Mcem, xsra, bsllum gilt nur unter der Voraussetzung, daß Mächte vorhanden
sind, deren zur Schau getragne Friedlichkeit unecht ist, die den Frieden brechen
wollen und nur durch die überlegne Kriegsmacht der andern daran gehindert
werden können.

Die Politik ist das Gebiet, auf dem der Widerspruch zwischen der Allmacht
moderner Technik und der Unfähigkeit der Menschen, sie zu ihrer eignen Beglückung
zu gebrauchen, am auffälligsten zur Erscheinung kommt. Die Unbehaglichkeit, die
jener Widerspruch erzeugt, wird zum giftigen Haß der Parteien gegen einander,
der sich anderwärts nur darum nicht so lebhaft äußert wie am 19. Juni in der
italienischen Kammer, weil man nördlich von den Alpen nicht leicht die Selbst¬
beherrschung so vollständig verliert. Indem jede der vielen Parteien etwas andres
will, die meisten aber gar nicht einmal recht wissen, was sie eigentlich wollen oder
zum eignen Besten wollen müßten, demnach die Staatsmaschine gerade in den Sachen,
die einem jeden am meisten am Herzen liegen, zur Unthätigkeit verurteilt bleibt,
der Mensch aber doch ohne Kraftäußerung nicht leben kann, so bleibt dem nomo
polikious unsrer Tage gewöhnlich nichts übrig, als seine Gegner zu hassen und auf
sie zu schimpfen. Am schönsten hat sich soeben, gleichzeitig mit unsern Kanalfest¬
lichkeiten, diese klägliche Lage der Dinge in Österreich offenbart. Während sich
unsre reichsdeutschen Staatsweisen seit Jahren darüber die Köpfe zerbrechen, wie
man am besten die Vertreter des vierten Standes aus dem Reichstage hinaus¬
bringen könne, fand der Graf Taciffe, dem auch seine ärgsten Feinde weder Arbeiter-
sreundlichkeit, noch Sozinlismus, noch Sentimentalität oder ähnliche staatsgefährliche
Laster nachsagen können, im Herbst 1893 auf einmal, daß es ohne Vertretung der
ärmer" Volksmassen nicht länger gehe, und legte seinen berühmten Wahlreform-
entwnrf vor. Er hatte in seinem Parlament alles, was sich ein staatserhaltendes
Herz nur wünschen kann: nichts als Großgrundbesitz, Klerus und Großbürgertum,
und dennoch fand er: es gehe so nicht weiter. Der Schreck der herrschenden
Klassen über das Gespenst einer Proletariervertretung wirkte so gewaltsam und
plötzlich, daß Taaffe hinausflog, die "Judcnliberalen" aber den Feudalklerikalen in
die Arme fielen. Daß die Polen die dritten im Bunde sein mußten, verstand sich
von selbst, weil sie in Österreich stets bei der Regierung sind. Nun war das zwar
ein sehr rührender Moment, aber die Folge davon war, daß sich keiner der hohen
Koalirten mehr rühren konnte. Selbst abgesehen von dem Gegensatz der Natio¬
nalitäten hätten Deutschlibcrale und Feudalklerikale nimmermehr an einem Strange
ziehen können, und mit ihrer einzigen gemeinsamen Aufgabe, Verschleppung der
Wahlreform, auch mir anderthalb Jahre auszufüllen, war schon schwierig genug.
Endlich ging es nicht mehr, und man muß es den Deutschliberalen lassen, daß sie
sich zum Schluß noch geschickt genug benommen haben, indem sie die 1K00 Gulden
für eine slowenische Gymnasialklasse in Cilli dazu benutzten, sich einen anständigen
Abgang zu verschaffe". Von dem "Beamtenministerium," dessen sich Cisleithanien
jetzt erfreut, ist nur noch ein Schritt bis zur reinen, absolut regierenden Büreau-
kratie, bei der die Stadt Wien nach der verunglückten Bürgermeisterwahl bereits


Maßgebliches und Unmaßgebliches

licher Zollschranken aufs neue gegen einander abzuschließen. Jeder Fortschritt der
Waffen- und Schiffstechnik aber zwingt die Völker, sich um der Landesverteidigung
willen neue Lasten aufzubürden. Wegen der Verteidigung des Vaterlandes gegen
wen? Da steckt eines der verzwicktesten Rätsel unsrer Zeit. Ist es doch ein hand¬
greiflicher Widerspruch, wenn die Versammlung einer furchtbaren Kriegsflotte als
eine Friedensbürgschaft gepriesen wird. Nicht je kriegerischer, sondern je unkriege¬
rischer die Völker sind, desto mehr ist der Frieden gesichert. Das Wort: 8i vis
Mcem, xsra, bsllum gilt nur unter der Voraussetzung, daß Mächte vorhanden
sind, deren zur Schau getragne Friedlichkeit unecht ist, die den Frieden brechen
wollen und nur durch die überlegne Kriegsmacht der andern daran gehindert
werden können.

Die Politik ist das Gebiet, auf dem der Widerspruch zwischen der Allmacht
moderner Technik und der Unfähigkeit der Menschen, sie zu ihrer eignen Beglückung
zu gebrauchen, am auffälligsten zur Erscheinung kommt. Die Unbehaglichkeit, die
jener Widerspruch erzeugt, wird zum giftigen Haß der Parteien gegen einander,
der sich anderwärts nur darum nicht so lebhaft äußert wie am 19. Juni in der
italienischen Kammer, weil man nördlich von den Alpen nicht leicht die Selbst¬
beherrschung so vollständig verliert. Indem jede der vielen Parteien etwas andres
will, die meisten aber gar nicht einmal recht wissen, was sie eigentlich wollen oder
zum eignen Besten wollen müßten, demnach die Staatsmaschine gerade in den Sachen,
die einem jeden am meisten am Herzen liegen, zur Unthätigkeit verurteilt bleibt,
der Mensch aber doch ohne Kraftäußerung nicht leben kann, so bleibt dem nomo
polikious unsrer Tage gewöhnlich nichts übrig, als seine Gegner zu hassen und auf
sie zu schimpfen. Am schönsten hat sich soeben, gleichzeitig mit unsern Kanalfest¬
lichkeiten, diese klägliche Lage der Dinge in Österreich offenbart. Während sich
unsre reichsdeutschen Staatsweisen seit Jahren darüber die Köpfe zerbrechen, wie
man am besten die Vertreter des vierten Standes aus dem Reichstage hinaus¬
bringen könne, fand der Graf Taciffe, dem auch seine ärgsten Feinde weder Arbeiter-
sreundlichkeit, noch Sozinlismus, noch Sentimentalität oder ähnliche staatsgefährliche
Laster nachsagen können, im Herbst 1893 auf einmal, daß es ohne Vertretung der
ärmer» Volksmassen nicht länger gehe, und legte seinen berühmten Wahlreform-
entwnrf vor. Er hatte in seinem Parlament alles, was sich ein staatserhaltendes
Herz nur wünschen kann: nichts als Großgrundbesitz, Klerus und Großbürgertum,
und dennoch fand er: es gehe so nicht weiter. Der Schreck der herrschenden
Klassen über das Gespenst einer Proletariervertretung wirkte so gewaltsam und
plötzlich, daß Taaffe hinausflog, die „Judcnliberalen" aber den Feudalklerikalen in
die Arme fielen. Daß die Polen die dritten im Bunde sein mußten, verstand sich
von selbst, weil sie in Österreich stets bei der Regierung sind. Nun war das zwar
ein sehr rührender Moment, aber die Folge davon war, daß sich keiner der hohen
Koalirten mehr rühren konnte. Selbst abgesehen von dem Gegensatz der Natio¬
nalitäten hätten Deutschlibcrale und Feudalklerikale nimmermehr an einem Strange
ziehen können, und mit ihrer einzigen gemeinsamen Aufgabe, Verschleppung der
Wahlreform, auch mir anderthalb Jahre auszufüllen, war schon schwierig genug.
Endlich ging es nicht mehr, und man muß es den Deutschliberalen lassen, daß sie
sich zum Schluß noch geschickt genug benommen haben, indem sie die 1K00 Gulden
für eine slowenische Gymnasialklasse in Cilli dazu benutzten, sich einen anständigen
Abgang zu verschaffe». Von dem „Beamtenministerium," dessen sich Cisleithanien
jetzt erfreut, ist nur noch ein Schritt bis zur reinen, absolut regierenden Büreau-
kratie, bei der die Stadt Wien nach der verunglückten Bürgermeisterwahl bereits


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[0634] Maßgebliches und Unmaßgebliches licher Zollschranken aufs neue gegen einander abzuschließen. Jeder Fortschritt der Waffen- und Schiffstechnik aber zwingt die Völker, sich um der Landesverteidigung willen neue Lasten aufzubürden. Wegen der Verteidigung des Vaterlandes gegen wen? Da steckt eines der verzwicktesten Rätsel unsrer Zeit. Ist es doch ein hand¬ greiflicher Widerspruch, wenn die Versammlung einer furchtbaren Kriegsflotte als eine Friedensbürgschaft gepriesen wird. Nicht je kriegerischer, sondern je unkriege¬ rischer die Völker sind, desto mehr ist der Frieden gesichert. Das Wort: 8i vis Mcem, xsra, bsllum gilt nur unter der Voraussetzung, daß Mächte vorhanden sind, deren zur Schau getragne Friedlichkeit unecht ist, die den Frieden brechen wollen und nur durch die überlegne Kriegsmacht der andern daran gehindert werden können. Die Politik ist das Gebiet, auf dem der Widerspruch zwischen der Allmacht moderner Technik und der Unfähigkeit der Menschen, sie zu ihrer eignen Beglückung zu gebrauchen, am auffälligsten zur Erscheinung kommt. Die Unbehaglichkeit, die jener Widerspruch erzeugt, wird zum giftigen Haß der Parteien gegen einander, der sich anderwärts nur darum nicht so lebhaft äußert wie am 19. Juni in der italienischen Kammer, weil man nördlich von den Alpen nicht leicht die Selbst¬ beherrschung so vollständig verliert. Indem jede der vielen Parteien etwas andres will, die meisten aber gar nicht einmal recht wissen, was sie eigentlich wollen oder zum eignen Besten wollen müßten, demnach die Staatsmaschine gerade in den Sachen, die einem jeden am meisten am Herzen liegen, zur Unthätigkeit verurteilt bleibt, der Mensch aber doch ohne Kraftäußerung nicht leben kann, so bleibt dem nomo polikious unsrer Tage gewöhnlich nichts übrig, als seine Gegner zu hassen und auf sie zu schimpfen. Am schönsten hat sich soeben, gleichzeitig mit unsern Kanalfest¬ lichkeiten, diese klägliche Lage der Dinge in Österreich offenbart. Während sich unsre reichsdeutschen Staatsweisen seit Jahren darüber die Köpfe zerbrechen, wie man am besten die Vertreter des vierten Standes aus dem Reichstage hinaus¬ bringen könne, fand der Graf Taciffe, dem auch seine ärgsten Feinde weder Arbeiter- sreundlichkeit, noch Sozinlismus, noch Sentimentalität oder ähnliche staatsgefährliche Laster nachsagen können, im Herbst 1893 auf einmal, daß es ohne Vertretung der ärmer» Volksmassen nicht länger gehe, und legte seinen berühmten Wahlreform- entwnrf vor. Er hatte in seinem Parlament alles, was sich ein staatserhaltendes Herz nur wünschen kann: nichts als Großgrundbesitz, Klerus und Großbürgertum, und dennoch fand er: es gehe so nicht weiter. Der Schreck der herrschenden Klassen über das Gespenst einer Proletariervertretung wirkte so gewaltsam und plötzlich, daß Taaffe hinausflog, die „Judcnliberalen" aber den Feudalklerikalen in die Arme fielen. Daß die Polen die dritten im Bunde sein mußten, verstand sich von selbst, weil sie in Österreich stets bei der Regierung sind. Nun war das zwar ein sehr rührender Moment, aber die Folge davon war, daß sich keiner der hohen Koalirten mehr rühren konnte. Selbst abgesehen von dem Gegensatz der Natio¬ nalitäten hätten Deutschlibcrale und Feudalklerikale nimmermehr an einem Strange ziehen können, und mit ihrer einzigen gemeinsamen Aufgabe, Verschleppung der Wahlreform, auch mir anderthalb Jahre auszufüllen, war schon schwierig genug. Endlich ging es nicht mehr, und man muß es den Deutschliberalen lassen, daß sie sich zum Schluß noch geschickt genug benommen haben, indem sie die 1K00 Gulden für eine slowenische Gymnasialklasse in Cilli dazu benutzten, sich einen anständigen Abgang zu verschaffe». Von dem „Beamtenministerium," dessen sich Cisleithanien jetzt erfreut, ist nur noch ein Schritt bis zur reinen, absolut regierenden Büreau- kratie, bei der die Stadt Wien nach der verunglückten Bürgermeisterwahl bereits

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/634>, abgerufen am 22.12.2024.