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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Der erste Leske

Was ist denn, Kind? fragte er, als sie mühsam schluckte.

Ach nichts, antwortete sie gequält, unglücklich. Geh nur, laß mich allein,
kümmere dich nicht mehr um mich, es ist ja doch alles -- sie drückte das Ge¬
sicht ins Kissen.

Er saß ein kleines Weilchen still und betrachtete sie schweigend, wie sie
da so stoßweise und zitternd atmete, wie es ihr um die Mundwinkel zuckte;
jetzt kam eine kleine Hand unter der Decke herauf und wischte die Thräne
weg, die über die Wange gelaufen war.

Das ist irgend eine seelische Erschütterung, schloß er bei sich. Er beugte
sich tief über sie.

Was quält dich denn, mein Herz? fragte er sanft. In seiner gedämpften,
tiefen Stimme lag die zarteste Liebkosung. Ganz leise schob er den Arm
unter ihre Schulter.

Kannst du das deinem alten Fritz nicht sagen?

Sie schluchzte in ihr Kissen hinein, ohne zu antworten. Er wartete noch
einen Augenblick, dann richtete er sich wieder auf und ließ sie los.

Vielleicht morgen, nicht wahr? sagte er eben so sanft. Versuch nun zu
schlafen, dann wird dir besser. Ich lasse dich jetzt allein; niemand soll zu
dir kommen, damit du ungestört bist. Gute Nacht.

Er strich ihr noch einmal übers Haar und ging dann leise hinaus.

Margarete richtete sich hastig auf. Schon war die Thür geschlossen;
gerade hob sich noch die Klinke.

Fritz, lieber Fritz, murmelte sie mit erstickter Stimme. Dann brach sie
in fassungsloses Weinen aus. Sie zog die Kniee herauf und kauerte so, das
Gesicht in den Armen verborgen.

Warum hatte sie ihn so weggehen lassen? Warum hatte sie ihn nicht
mit beiden Armen um den Hals genommen, als er ihr so nahe war, sich an
ihn gedrückt, seinen guten, freundlichen Mund geküßt und gesagt: Verzeih mir,
ich hab dich ja so lieb! Ich bin ja nur so unglücklich, weil ich dich ver¬
loren habe, und weil ich mich fortwährend schäme, und weil ich dich ja gar
nicht verdiene, und weil ich dir alles verdorben habe, und weil der Hans
gesagt hat, ich wäre ein Störenfried. -- Dieser Hans, dieser dumme Junge!
Was wußte denn der! "Mühe gäbest, ihn kennen zu lernen!" Als ob sie
nicht wüßte, wer der Fritz wäre! Eben weil sie ihn erkannt hatte, mit jedem
Tage mehr, darum schämte sie sich ja so, darum verging sie ja vor Reue
über das Unrecht, das sie ihm angethan hatte. Darum verkroch sie sich auch,
um ihm möglichst wenig zu Gesicht zu kommen. Sie verdiente ja den Platz
an seiner Seite nicht. O, hätte sie ihn zur rechten Zeit erkannt, dann wäre
ja alles anders gekommen. "Lieb gewannest!" Das war es ja eben, das
Elend, daß sie ihn nun liebte, da es zu spät war. Erst als sie alles ver¬
scherzt hatte, da war mit der Reue auch die Liebe gekommen. Und mit der
Beschämung auch die Sehnsucht nach einem guten, zärtlichen Wort. Ach,
wenn sie noch einmal wieder so mit ihm allein im Strandkorb sitzen könnte,
wie an dem Tage, wo er sie zuletzt mit fröhlichem Herzen geküßt hatte! Heute
könnte er sie fragen, was er wollte, sie würde nur eine Antwort wissen:
Sei gut mit mir, verzeih mir! Heute würde sich kein fremdes Bild dazwischen
schieben, heute nicht und nie mehr. Wenn er sie nur noch einmal so in die
Arme nehmen wollte, wie an dem Abend bei der Ankunft unten in ihrem
Zimmer, in ihrem lieben Märchenzimmer, wo seine Güte und Fürsorge wohnte


Der erste Leske

Was ist denn, Kind? fragte er, als sie mühsam schluckte.

Ach nichts, antwortete sie gequält, unglücklich. Geh nur, laß mich allein,
kümmere dich nicht mehr um mich, es ist ja doch alles — sie drückte das Ge¬
sicht ins Kissen.

Er saß ein kleines Weilchen still und betrachtete sie schweigend, wie sie
da so stoßweise und zitternd atmete, wie es ihr um die Mundwinkel zuckte;
jetzt kam eine kleine Hand unter der Decke herauf und wischte die Thräne
weg, die über die Wange gelaufen war.

Das ist irgend eine seelische Erschütterung, schloß er bei sich. Er beugte
sich tief über sie.

Was quält dich denn, mein Herz? fragte er sanft. In seiner gedämpften,
tiefen Stimme lag die zarteste Liebkosung. Ganz leise schob er den Arm
unter ihre Schulter.

Kannst du das deinem alten Fritz nicht sagen?

Sie schluchzte in ihr Kissen hinein, ohne zu antworten. Er wartete noch
einen Augenblick, dann richtete er sich wieder auf und ließ sie los.

Vielleicht morgen, nicht wahr? sagte er eben so sanft. Versuch nun zu
schlafen, dann wird dir besser. Ich lasse dich jetzt allein; niemand soll zu
dir kommen, damit du ungestört bist. Gute Nacht.

Er strich ihr noch einmal übers Haar und ging dann leise hinaus.

Margarete richtete sich hastig auf. Schon war die Thür geschlossen;
gerade hob sich noch die Klinke.

Fritz, lieber Fritz, murmelte sie mit erstickter Stimme. Dann brach sie
in fassungsloses Weinen aus. Sie zog die Kniee herauf und kauerte so, das
Gesicht in den Armen verborgen.

Warum hatte sie ihn so weggehen lassen? Warum hatte sie ihn nicht
mit beiden Armen um den Hals genommen, als er ihr so nahe war, sich an
ihn gedrückt, seinen guten, freundlichen Mund geküßt und gesagt: Verzeih mir,
ich hab dich ja so lieb! Ich bin ja nur so unglücklich, weil ich dich ver¬
loren habe, und weil ich mich fortwährend schäme, und weil ich dich ja gar
nicht verdiene, und weil ich dir alles verdorben habe, und weil der Hans
gesagt hat, ich wäre ein Störenfried. — Dieser Hans, dieser dumme Junge!
Was wußte denn der! „Mühe gäbest, ihn kennen zu lernen!" Als ob sie
nicht wüßte, wer der Fritz wäre! Eben weil sie ihn erkannt hatte, mit jedem
Tage mehr, darum schämte sie sich ja so, darum verging sie ja vor Reue
über das Unrecht, das sie ihm angethan hatte. Darum verkroch sie sich auch,
um ihm möglichst wenig zu Gesicht zu kommen. Sie verdiente ja den Platz
an seiner Seite nicht. O, hätte sie ihn zur rechten Zeit erkannt, dann wäre
ja alles anders gekommen. „Lieb gewannest!" Das war es ja eben, das
Elend, daß sie ihn nun liebte, da es zu spät war. Erst als sie alles ver¬
scherzt hatte, da war mit der Reue auch die Liebe gekommen. Und mit der
Beschämung auch die Sehnsucht nach einem guten, zärtlichen Wort. Ach,
wenn sie noch einmal wieder so mit ihm allein im Strandkorb sitzen könnte,
wie an dem Tage, wo er sie zuletzt mit fröhlichem Herzen geküßt hatte! Heute
könnte er sie fragen, was er wollte, sie würde nur eine Antwort wissen:
Sei gut mit mir, verzeih mir! Heute würde sich kein fremdes Bild dazwischen
schieben, heute nicht und nie mehr. Wenn er sie nur noch einmal so in die
Arme nehmen wollte, wie an dem Abend bei der Ankunft unten in ihrem
Zimmer, in ihrem lieben Märchenzimmer, wo seine Güte und Fürsorge wohnte


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[0628] Der erste Leske Was ist denn, Kind? fragte er, als sie mühsam schluckte. Ach nichts, antwortete sie gequält, unglücklich. Geh nur, laß mich allein, kümmere dich nicht mehr um mich, es ist ja doch alles — sie drückte das Ge¬ sicht ins Kissen. Er saß ein kleines Weilchen still und betrachtete sie schweigend, wie sie da so stoßweise und zitternd atmete, wie es ihr um die Mundwinkel zuckte; jetzt kam eine kleine Hand unter der Decke herauf und wischte die Thräne weg, die über die Wange gelaufen war. Das ist irgend eine seelische Erschütterung, schloß er bei sich. Er beugte sich tief über sie. Was quält dich denn, mein Herz? fragte er sanft. In seiner gedämpften, tiefen Stimme lag die zarteste Liebkosung. Ganz leise schob er den Arm unter ihre Schulter. Kannst du das deinem alten Fritz nicht sagen? Sie schluchzte in ihr Kissen hinein, ohne zu antworten. Er wartete noch einen Augenblick, dann richtete er sich wieder auf und ließ sie los. Vielleicht morgen, nicht wahr? sagte er eben so sanft. Versuch nun zu schlafen, dann wird dir besser. Ich lasse dich jetzt allein; niemand soll zu dir kommen, damit du ungestört bist. Gute Nacht. Er strich ihr noch einmal übers Haar und ging dann leise hinaus. Margarete richtete sich hastig auf. Schon war die Thür geschlossen; gerade hob sich noch die Klinke. Fritz, lieber Fritz, murmelte sie mit erstickter Stimme. Dann brach sie in fassungsloses Weinen aus. Sie zog die Kniee herauf und kauerte so, das Gesicht in den Armen verborgen. Warum hatte sie ihn so weggehen lassen? Warum hatte sie ihn nicht mit beiden Armen um den Hals genommen, als er ihr so nahe war, sich an ihn gedrückt, seinen guten, freundlichen Mund geküßt und gesagt: Verzeih mir, ich hab dich ja so lieb! Ich bin ja nur so unglücklich, weil ich dich ver¬ loren habe, und weil ich mich fortwährend schäme, und weil ich dich ja gar nicht verdiene, und weil ich dir alles verdorben habe, und weil der Hans gesagt hat, ich wäre ein Störenfried. — Dieser Hans, dieser dumme Junge! Was wußte denn der! „Mühe gäbest, ihn kennen zu lernen!" Als ob sie nicht wüßte, wer der Fritz wäre! Eben weil sie ihn erkannt hatte, mit jedem Tage mehr, darum schämte sie sich ja so, darum verging sie ja vor Reue über das Unrecht, das sie ihm angethan hatte. Darum verkroch sie sich auch, um ihm möglichst wenig zu Gesicht zu kommen. Sie verdiente ja den Platz an seiner Seite nicht. O, hätte sie ihn zur rechten Zeit erkannt, dann wäre ja alles anders gekommen. „Lieb gewannest!" Das war es ja eben, das Elend, daß sie ihn nun liebte, da es zu spät war. Erst als sie alles ver¬ scherzt hatte, da war mit der Reue auch die Liebe gekommen. Und mit der Beschämung auch die Sehnsucht nach einem guten, zärtlichen Wort. Ach, wenn sie noch einmal wieder so mit ihm allein im Strandkorb sitzen könnte, wie an dem Tage, wo er sie zuletzt mit fröhlichem Herzen geküßt hatte! Heute könnte er sie fragen, was er wollte, sie würde nur eine Antwort wissen: Sei gut mit mir, verzeih mir! Heute würde sich kein fremdes Bild dazwischen schieben, heute nicht und nie mehr. Wenn er sie nur noch einmal so in die Arme nehmen wollte, wie an dem Abend bei der Ankunft unten in ihrem Zimmer, in ihrem lieben Märchenzimmer, wo seine Güte und Fürsorge wohnte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/628>, abgerufen am 22.12.2024.