Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wandlungen des Zeh im Zeitenstrome

seine Unbildung und sein Stumpfsinn bei den protestantischen Honoratioren
der Stadt und der Umgegend geschadet hätten. Gerade so einer ist oder
war damals wenigstens den Herren eben recht. Der gute, der liebe Herr
Pfarrer, hieß es immer, wenn von ihm die Rede war, und seine Ungezogen¬
heiten wurden als berechtigte Eigentümlichkeiten entschuldigt. Denn wer von
den Herren auf dem Pfarrhofe zu thun hatte, bekam ein gutes Glas Wein,
ab und zu wurde einer zu einem Festmahle geladen, der Katholizismus machte
sich am Orte äußerlich, durch Prozessionen u. dergl., nicht bemerkbar, und an
konfessionelle Konflikte war gar nicht zu denken. Das ist es. was ich den
rationalistischen Typus nenne, obwohl bei Leuten von Bars Schlage die r-Mo
im höhern Sinne keine Rolle spielte. Es gab ja in jener Generation von
Geistlichen auch solche, die es mit der ratio ernst nahmen, die aufrichtig uach
Erkenntnis strebten und eine rege gemeinnützige Thätigkeit entfalteten. Aber
was sie bei den Protestanten beliebt machte, war doch weniger ihr positives
Wirken, als die Negation oder wenigstens Nichtbetvnung des spezifisch Ka¬
tholischen.

Die Geistlichen, die sich ein paarmal im Jahre zu einem Festessen bei
uns versammelten, waren mit Ausnahme eines "ehrwürdigen," in Wirklichkeit
wahrhaft nichtswürdigen Jubelgreises etwas jünger als Bär und schon ein
wenig vom neuen Geiste ergriffen, doch nicht so sehr, daß sie Spaßverderber
gewesen wären. Der eine, ein übermütig lustiger Bruder, hatte einmal die
damals aufgekommnen Exerzitien mitgemacht und erzählte, daß ihm da die
Bedeutung der Meßstipendien aufgegangen sei. Diese sollten ja nur ein Al¬
mosen sein, und ein gut begründeter Pfarrer wie er, der keine Almosen brauche,
habe demnach die Pflicht, sie an Arme wegzuschenken. Er lasse sie daher jetzt
immer auf dem Fensterbret liegen, und der erste Bummler, der vorübergehe,
bekomme, was gerade daliege, möge es ein Viergroschenstück, ein Achtgroschen¬
stück oder ein Thaler sein. Ein andrer, ein possirlicher, lahmer Mann, mit
einem so großen Bauche, daß er nicht darüber hinwegreichte und sich die
Stiefel von rückwärts anziehen mußte, daneben ein weicher Gemütsmensch und
Dichter, hatte sich auf die Mystik verlegt und in seiner Gemeinde eine Heilige
entdeckt, die Erscheinungen hatte. Vergebens warnte ich ihn, da der Betrug
ganz augenscheinlich war; er sorgte so lange für Verherrlichung dieser Dienst¬
magd , bis sie eines Tages eines Knäbleins genas und ihn so in der ganzen
Umgegend zum Gespött machte. Ein älterer Pfarrer, mit dem ich mich über
die Dinge unterhalten konnte, die mich damals interesstrten, war sah. in Ö.
Er war wissenschaftlich gebildet, aufrichtig fromm und besaß eine ansehnliche
Bibliothek. Er war zwanzig Jahre in Amerika gewesen, hatte dort eine strenge
Richtung angenommen, sich aber durch Umstände veranlaßt gesehen, in die
Breslauer Diözese zurückzukehren. Man gab ihm da eine der schlechtesten
Pfarreien (jährlich vierhundert Thaler), doch hatte er ein hübsches Hünschen


Wandlungen des Zeh im Zeitenstrome

seine Unbildung und sein Stumpfsinn bei den protestantischen Honoratioren
der Stadt und der Umgegend geschadet hätten. Gerade so einer ist oder
war damals wenigstens den Herren eben recht. Der gute, der liebe Herr
Pfarrer, hieß es immer, wenn von ihm die Rede war, und seine Ungezogen¬
heiten wurden als berechtigte Eigentümlichkeiten entschuldigt. Denn wer von
den Herren auf dem Pfarrhofe zu thun hatte, bekam ein gutes Glas Wein,
ab und zu wurde einer zu einem Festmahle geladen, der Katholizismus machte
sich am Orte äußerlich, durch Prozessionen u. dergl., nicht bemerkbar, und an
konfessionelle Konflikte war gar nicht zu denken. Das ist es. was ich den
rationalistischen Typus nenne, obwohl bei Leuten von Bars Schlage die r-Mo
im höhern Sinne keine Rolle spielte. Es gab ja in jener Generation von
Geistlichen auch solche, die es mit der ratio ernst nahmen, die aufrichtig uach
Erkenntnis strebten und eine rege gemeinnützige Thätigkeit entfalteten. Aber
was sie bei den Protestanten beliebt machte, war doch weniger ihr positives
Wirken, als die Negation oder wenigstens Nichtbetvnung des spezifisch Ka¬
tholischen.

Die Geistlichen, die sich ein paarmal im Jahre zu einem Festessen bei
uns versammelten, waren mit Ausnahme eines „ehrwürdigen," in Wirklichkeit
wahrhaft nichtswürdigen Jubelgreises etwas jünger als Bär und schon ein
wenig vom neuen Geiste ergriffen, doch nicht so sehr, daß sie Spaßverderber
gewesen wären. Der eine, ein übermütig lustiger Bruder, hatte einmal die
damals aufgekommnen Exerzitien mitgemacht und erzählte, daß ihm da die
Bedeutung der Meßstipendien aufgegangen sei. Diese sollten ja nur ein Al¬
mosen sein, und ein gut begründeter Pfarrer wie er, der keine Almosen brauche,
habe demnach die Pflicht, sie an Arme wegzuschenken. Er lasse sie daher jetzt
immer auf dem Fensterbret liegen, und der erste Bummler, der vorübergehe,
bekomme, was gerade daliege, möge es ein Viergroschenstück, ein Achtgroschen¬
stück oder ein Thaler sein. Ein andrer, ein possirlicher, lahmer Mann, mit
einem so großen Bauche, daß er nicht darüber hinwegreichte und sich die
Stiefel von rückwärts anziehen mußte, daneben ein weicher Gemütsmensch und
Dichter, hatte sich auf die Mystik verlegt und in seiner Gemeinde eine Heilige
entdeckt, die Erscheinungen hatte. Vergebens warnte ich ihn, da der Betrug
ganz augenscheinlich war; er sorgte so lange für Verherrlichung dieser Dienst¬
magd , bis sie eines Tages eines Knäbleins genas und ihn so in der ganzen
Umgegend zum Gespött machte. Ein älterer Pfarrer, mit dem ich mich über
die Dinge unterhalten konnte, die mich damals interesstrten, war sah. in Ö.
Er war wissenschaftlich gebildet, aufrichtig fromm und besaß eine ansehnliche
Bibliothek. Er war zwanzig Jahre in Amerika gewesen, hatte dort eine strenge
Richtung angenommen, sich aber durch Umstände veranlaßt gesehen, in die
Breslauer Diözese zurückzukehren. Man gab ihm da eine der schlechtesten
Pfarreien (jährlich vierhundert Thaler), doch hatte er ein hübsches Hünschen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0527" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220203"/>
          <fw type="header" place="top"> Wandlungen des Zeh im Zeitenstrome</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2064" prev="#ID_2063"> seine Unbildung und sein Stumpfsinn bei den protestantischen Honoratioren<lb/>
der Stadt und der Umgegend geschadet hätten. Gerade so einer ist oder<lb/>
war damals wenigstens den Herren eben recht. Der gute, der liebe Herr<lb/>
Pfarrer, hieß es immer, wenn von ihm die Rede war, und seine Ungezogen¬<lb/>
heiten wurden als berechtigte Eigentümlichkeiten entschuldigt. Denn wer von<lb/>
den Herren auf dem Pfarrhofe zu thun hatte, bekam ein gutes Glas Wein,<lb/>
ab und zu wurde einer zu einem Festmahle geladen, der Katholizismus machte<lb/>
sich am Orte äußerlich, durch Prozessionen u. dergl., nicht bemerkbar, und an<lb/>
konfessionelle Konflikte war gar nicht zu denken. Das ist es. was ich den<lb/>
rationalistischen Typus nenne, obwohl bei Leuten von Bars Schlage die r-Mo<lb/>
im höhern Sinne keine Rolle spielte. Es gab ja in jener Generation von<lb/>
Geistlichen auch solche, die es mit der ratio ernst nahmen, die aufrichtig uach<lb/>
Erkenntnis strebten und eine rege gemeinnützige Thätigkeit entfalteten. Aber<lb/>
was sie bei den Protestanten beliebt machte, war doch weniger ihr positives<lb/>
Wirken, als die Negation oder wenigstens Nichtbetvnung des spezifisch Ka¬<lb/>
tholischen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2065" next="#ID_2066"> Die Geistlichen, die sich ein paarmal im Jahre zu einem Festessen bei<lb/>
uns versammelten, waren mit Ausnahme eines &#x201E;ehrwürdigen," in Wirklichkeit<lb/>
wahrhaft nichtswürdigen Jubelgreises etwas jünger als Bär und schon ein<lb/>
wenig vom neuen Geiste ergriffen, doch nicht so sehr, daß sie Spaßverderber<lb/>
gewesen wären. Der eine, ein übermütig lustiger Bruder, hatte einmal die<lb/>
damals aufgekommnen Exerzitien mitgemacht und erzählte, daß ihm da die<lb/>
Bedeutung der Meßstipendien aufgegangen sei. Diese sollten ja nur ein Al¬<lb/>
mosen sein, und ein gut begründeter Pfarrer wie er, der keine Almosen brauche,<lb/>
habe demnach die Pflicht, sie an Arme wegzuschenken. Er lasse sie daher jetzt<lb/>
immer auf dem Fensterbret liegen, und der erste Bummler, der vorübergehe,<lb/>
bekomme, was gerade daliege, möge es ein Viergroschenstück, ein Achtgroschen¬<lb/>
stück oder ein Thaler sein. Ein andrer, ein possirlicher, lahmer Mann, mit<lb/>
einem so großen Bauche, daß er nicht darüber hinwegreichte und sich die<lb/>
Stiefel von rückwärts anziehen mußte, daneben ein weicher Gemütsmensch und<lb/>
Dichter, hatte sich auf die Mystik verlegt und in seiner Gemeinde eine Heilige<lb/>
entdeckt, die Erscheinungen hatte. Vergebens warnte ich ihn, da der Betrug<lb/>
ganz augenscheinlich war; er sorgte so lange für Verherrlichung dieser Dienst¬<lb/>
magd , bis sie eines Tages eines Knäbleins genas und ihn so in der ganzen<lb/>
Umgegend zum Gespött machte. Ein älterer Pfarrer, mit dem ich mich über<lb/>
die Dinge unterhalten konnte, die mich damals interesstrten, war sah. in Ö.<lb/>
Er war wissenschaftlich gebildet, aufrichtig fromm und besaß eine ansehnliche<lb/>
Bibliothek. Er war zwanzig Jahre in Amerika gewesen, hatte dort eine strenge<lb/>
Richtung angenommen, sich aber durch Umstände veranlaßt gesehen, in die<lb/>
Breslauer Diözese zurückzukehren. Man gab ihm da eine der schlechtesten<lb/>
Pfarreien (jährlich vierhundert Thaler), doch hatte er ein hübsches Hünschen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0527] Wandlungen des Zeh im Zeitenstrome seine Unbildung und sein Stumpfsinn bei den protestantischen Honoratioren der Stadt und der Umgegend geschadet hätten. Gerade so einer ist oder war damals wenigstens den Herren eben recht. Der gute, der liebe Herr Pfarrer, hieß es immer, wenn von ihm die Rede war, und seine Ungezogen¬ heiten wurden als berechtigte Eigentümlichkeiten entschuldigt. Denn wer von den Herren auf dem Pfarrhofe zu thun hatte, bekam ein gutes Glas Wein, ab und zu wurde einer zu einem Festmahle geladen, der Katholizismus machte sich am Orte äußerlich, durch Prozessionen u. dergl., nicht bemerkbar, und an konfessionelle Konflikte war gar nicht zu denken. Das ist es. was ich den rationalistischen Typus nenne, obwohl bei Leuten von Bars Schlage die r-Mo im höhern Sinne keine Rolle spielte. Es gab ja in jener Generation von Geistlichen auch solche, die es mit der ratio ernst nahmen, die aufrichtig uach Erkenntnis strebten und eine rege gemeinnützige Thätigkeit entfalteten. Aber was sie bei den Protestanten beliebt machte, war doch weniger ihr positives Wirken, als die Negation oder wenigstens Nichtbetvnung des spezifisch Ka¬ tholischen. Die Geistlichen, die sich ein paarmal im Jahre zu einem Festessen bei uns versammelten, waren mit Ausnahme eines „ehrwürdigen," in Wirklichkeit wahrhaft nichtswürdigen Jubelgreises etwas jünger als Bär und schon ein wenig vom neuen Geiste ergriffen, doch nicht so sehr, daß sie Spaßverderber gewesen wären. Der eine, ein übermütig lustiger Bruder, hatte einmal die damals aufgekommnen Exerzitien mitgemacht und erzählte, daß ihm da die Bedeutung der Meßstipendien aufgegangen sei. Diese sollten ja nur ein Al¬ mosen sein, und ein gut begründeter Pfarrer wie er, der keine Almosen brauche, habe demnach die Pflicht, sie an Arme wegzuschenken. Er lasse sie daher jetzt immer auf dem Fensterbret liegen, und der erste Bummler, der vorübergehe, bekomme, was gerade daliege, möge es ein Viergroschenstück, ein Achtgroschen¬ stück oder ein Thaler sein. Ein andrer, ein possirlicher, lahmer Mann, mit einem so großen Bauche, daß er nicht darüber hinwegreichte und sich die Stiefel von rückwärts anziehen mußte, daneben ein weicher Gemütsmensch und Dichter, hatte sich auf die Mystik verlegt und in seiner Gemeinde eine Heilige entdeckt, die Erscheinungen hatte. Vergebens warnte ich ihn, da der Betrug ganz augenscheinlich war; er sorgte so lange für Verherrlichung dieser Dienst¬ magd , bis sie eines Tages eines Knäbleins genas und ihn so in der ganzen Umgegend zum Gespött machte. Ein älterer Pfarrer, mit dem ich mich über die Dinge unterhalten konnte, die mich damals interesstrten, war sah. in Ö. Er war wissenschaftlich gebildet, aufrichtig fromm und besaß eine ansehnliche Bibliothek. Er war zwanzig Jahre in Amerika gewesen, hatte dort eine strenge Richtung angenommen, sich aber durch Umstände veranlaßt gesehen, in die Breslauer Diözese zurückzukehren. Man gab ihm da eine der schlechtesten Pfarreien (jährlich vierhundert Thaler), doch hatte er ein hübsches Hünschen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/527
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/527>, abgerufen am 27.08.2024.