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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Italienische Lindrücke

deU^ ol8eg, zeigen und schleppte mich wirklich auf einen Altan bei einem
Häuschen, der einen hübschen Blick nach der Südküste der Insel und weit
hin auf das sonnenbeglänzte Meer darbot. Kaum war ich dort oben, als mir
eine ältere Frau mit höflichem Knix einen Stuhl brachte und fragte, ob ich
nicht ein Glas Wein (natürlich eignen Zuwachs!) trinken wollte, und es
dauerte nicht fünf Minuten, da war ich von einem Dutzend laut schwätzender
und lachender Buben und Mädel umgeben, vom dreijährigen Hemdenmatz
bis zum zehn- oder zwölfjährigen braunen Vengel, und vier von diesen tanzten
für mich die landesübliche Tarantella, einen Soldo der Mann. Da kann man
eigentlich nicht böse sein, sondern nimmt das am besten behaglich hin als eine
kleine Szene aus dem eapresischen Volksleben.

Dinge dieser Art können zuweilen unbequem werden, weil sie die Freiheit
der Bewegung hemmen; namentlich im Süden hat man oft die unangenehme
Empfindung, keinen Augenblick sicher zu sein vor einem kleinen Attentat, das
dem eignen Willen eine bestimmte Richtung zu Gunsten eines andern geben
soll. Und doch würde man unrecht thun, wenn mau sich dadurch ohne weiteres
zu einem ungünstigen Urteil über den italienischen Volkscharakter bestimmen
lassen wollte. Vetteln gilt eben dem Italiener für keine Schande, sondern für
eine Art des Erwerbs, wie jede andre, und die Kirche billigt ja diese Auf¬
fassung, indem sie den Bemittelten die Wohlthätigkeit zur Pflicht macht. Auch
ist damit keineswegs gesagt, daß das italienische Volk im allgemeinen etwa
faul sei, wie man häufig hören kann. Wer die unendliche Sorgfalt in der
Bestellung des Bodens beachtet, wird vielmehr zu dem Schluß kommen, daß
das Landvolk sehr fleißig arbeiten müsse. In den Städten aber steht man
die Handwerker überall in den offnen Werkstätten oder auf der Straße eifrig
am Werte. Und welch unendliche, zuweilen volkswirtschaftlich sehr überflüssige
Betriebsamkeit herrscht im umherziehenden Kleinhandel! Mit dem Vertrieb
von Zeitungen, Wachszüudern, Orangen sind in jeder großen Stadt gewiß
Hunderte von Menschen beschäftigt, und zuweilen ist es geradezu belustigend
zu sehen, mit welch geringen Mitteln einer sein Geschäft betreibt. Da hat er
etwa auf der Freitreppe einer Kirche ein Tüchlein ausgebreitet und darauf
ein paar Häufchen Äpfel und Mandeln gelegt; das ist alles! Gewiß, so an¬
gestrengt wie in unsern Fabriken wird der Italiener selten arbeiten. Das
herrliche, milde Klima, der Reichtum des Bodens, die Billigkeit der Lebens¬
mittel, die Genügsamkeit der Menschen begünstigen ein gewisses Bummelleben
auch für Ärmere; aber ob es ein so großes Unglück ist, daß den Italienern die
ewige, atemlose Hetzerei unsers nordischen großstädtischen Lebens bis jetzt meist
fremd geblieben ist? Der arme Teufel, der nichts hat als seine fragwürdigen,
mit Dutzenden von Flicken besetzten Lumpen, legt sich in einer Säulenhalle, an
der Treppe einer Kirche, an der Marina in die Sonne; am Sonntag Nach¬
mittag treibt sich alles auf der Straße herum, und der besser Bemittelte sitzt


Grenzboten II 1L95 65
Italienische Lindrücke

deU^ ol8eg, zeigen und schleppte mich wirklich auf einen Altan bei einem
Häuschen, der einen hübschen Blick nach der Südküste der Insel und weit
hin auf das sonnenbeglänzte Meer darbot. Kaum war ich dort oben, als mir
eine ältere Frau mit höflichem Knix einen Stuhl brachte und fragte, ob ich
nicht ein Glas Wein (natürlich eignen Zuwachs!) trinken wollte, und es
dauerte nicht fünf Minuten, da war ich von einem Dutzend laut schwätzender
und lachender Buben und Mädel umgeben, vom dreijährigen Hemdenmatz
bis zum zehn- oder zwölfjährigen braunen Vengel, und vier von diesen tanzten
für mich die landesübliche Tarantella, einen Soldo der Mann. Da kann man
eigentlich nicht böse sein, sondern nimmt das am besten behaglich hin als eine
kleine Szene aus dem eapresischen Volksleben.

Dinge dieser Art können zuweilen unbequem werden, weil sie die Freiheit
der Bewegung hemmen; namentlich im Süden hat man oft die unangenehme
Empfindung, keinen Augenblick sicher zu sein vor einem kleinen Attentat, das
dem eignen Willen eine bestimmte Richtung zu Gunsten eines andern geben
soll. Und doch würde man unrecht thun, wenn mau sich dadurch ohne weiteres
zu einem ungünstigen Urteil über den italienischen Volkscharakter bestimmen
lassen wollte. Vetteln gilt eben dem Italiener für keine Schande, sondern für
eine Art des Erwerbs, wie jede andre, und die Kirche billigt ja diese Auf¬
fassung, indem sie den Bemittelten die Wohlthätigkeit zur Pflicht macht. Auch
ist damit keineswegs gesagt, daß das italienische Volk im allgemeinen etwa
faul sei, wie man häufig hören kann. Wer die unendliche Sorgfalt in der
Bestellung des Bodens beachtet, wird vielmehr zu dem Schluß kommen, daß
das Landvolk sehr fleißig arbeiten müsse. In den Städten aber steht man
die Handwerker überall in den offnen Werkstätten oder auf der Straße eifrig
am Werte. Und welch unendliche, zuweilen volkswirtschaftlich sehr überflüssige
Betriebsamkeit herrscht im umherziehenden Kleinhandel! Mit dem Vertrieb
von Zeitungen, Wachszüudern, Orangen sind in jeder großen Stadt gewiß
Hunderte von Menschen beschäftigt, und zuweilen ist es geradezu belustigend
zu sehen, mit welch geringen Mitteln einer sein Geschäft betreibt. Da hat er
etwa auf der Freitreppe einer Kirche ein Tüchlein ausgebreitet und darauf
ein paar Häufchen Äpfel und Mandeln gelegt; das ist alles! Gewiß, so an¬
gestrengt wie in unsern Fabriken wird der Italiener selten arbeiten. Das
herrliche, milde Klima, der Reichtum des Bodens, die Billigkeit der Lebens¬
mittel, die Genügsamkeit der Menschen begünstigen ein gewisses Bummelleben
auch für Ärmere; aber ob es ein so großes Unglück ist, daß den Italienern die
ewige, atemlose Hetzerei unsers nordischen großstädtischen Lebens bis jetzt meist
fremd geblieben ist? Der arme Teufel, der nichts hat als seine fragwürdigen,
mit Dutzenden von Flicken besetzten Lumpen, legt sich in einer Säulenhalle, an
der Treppe einer Kirche, an der Marina in die Sonne; am Sonntag Nach¬
mittag treibt sich alles auf der Straße herum, und der besser Bemittelte sitzt


Grenzboten II 1L95 65
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[0521] Italienische Lindrücke deU^ ol8eg, zeigen und schleppte mich wirklich auf einen Altan bei einem Häuschen, der einen hübschen Blick nach der Südküste der Insel und weit hin auf das sonnenbeglänzte Meer darbot. Kaum war ich dort oben, als mir eine ältere Frau mit höflichem Knix einen Stuhl brachte und fragte, ob ich nicht ein Glas Wein (natürlich eignen Zuwachs!) trinken wollte, und es dauerte nicht fünf Minuten, da war ich von einem Dutzend laut schwätzender und lachender Buben und Mädel umgeben, vom dreijährigen Hemdenmatz bis zum zehn- oder zwölfjährigen braunen Vengel, und vier von diesen tanzten für mich die landesübliche Tarantella, einen Soldo der Mann. Da kann man eigentlich nicht böse sein, sondern nimmt das am besten behaglich hin als eine kleine Szene aus dem eapresischen Volksleben. Dinge dieser Art können zuweilen unbequem werden, weil sie die Freiheit der Bewegung hemmen; namentlich im Süden hat man oft die unangenehme Empfindung, keinen Augenblick sicher zu sein vor einem kleinen Attentat, das dem eignen Willen eine bestimmte Richtung zu Gunsten eines andern geben soll. Und doch würde man unrecht thun, wenn mau sich dadurch ohne weiteres zu einem ungünstigen Urteil über den italienischen Volkscharakter bestimmen lassen wollte. Vetteln gilt eben dem Italiener für keine Schande, sondern für eine Art des Erwerbs, wie jede andre, und die Kirche billigt ja diese Auf¬ fassung, indem sie den Bemittelten die Wohlthätigkeit zur Pflicht macht. Auch ist damit keineswegs gesagt, daß das italienische Volk im allgemeinen etwa faul sei, wie man häufig hören kann. Wer die unendliche Sorgfalt in der Bestellung des Bodens beachtet, wird vielmehr zu dem Schluß kommen, daß das Landvolk sehr fleißig arbeiten müsse. In den Städten aber steht man die Handwerker überall in den offnen Werkstätten oder auf der Straße eifrig am Werte. Und welch unendliche, zuweilen volkswirtschaftlich sehr überflüssige Betriebsamkeit herrscht im umherziehenden Kleinhandel! Mit dem Vertrieb von Zeitungen, Wachszüudern, Orangen sind in jeder großen Stadt gewiß Hunderte von Menschen beschäftigt, und zuweilen ist es geradezu belustigend zu sehen, mit welch geringen Mitteln einer sein Geschäft betreibt. Da hat er etwa auf der Freitreppe einer Kirche ein Tüchlein ausgebreitet und darauf ein paar Häufchen Äpfel und Mandeln gelegt; das ist alles! Gewiß, so an¬ gestrengt wie in unsern Fabriken wird der Italiener selten arbeiten. Das herrliche, milde Klima, der Reichtum des Bodens, die Billigkeit der Lebens¬ mittel, die Genügsamkeit der Menschen begünstigen ein gewisses Bummelleben auch für Ärmere; aber ob es ein so großes Unglück ist, daß den Italienern die ewige, atemlose Hetzerei unsers nordischen großstädtischen Lebens bis jetzt meist fremd geblieben ist? Der arme Teufel, der nichts hat als seine fragwürdigen, mit Dutzenden von Flicken besetzten Lumpen, legt sich in einer Säulenhalle, an der Treppe einer Kirche, an der Marina in die Sonne; am Sonntag Nach¬ mittag treibt sich alles auf der Straße herum, und der besser Bemittelte sitzt Grenzboten II 1L95 65

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/521>, abgerufen am 27.08.2024.