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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Der gerichtliche Lid

scheu dieses Schlags die größte Gruppe bilden: es ist die sittlich indifferente
Masse, der naturgemäß die große Mehrzahl angehört.

Die Beurteilung der Frage, ob für diese Gruppe als Zwangsmittel, um
sie bei der Wahrheit zu halten, die feierliche Anrufung Gottes nötig sei, wird
wesentlich dadurch erschwert, daß unser Strafgesetz jetzt nicht die Verletzung der
Wahrheitspflicht als solcher, sondern nur die Verletzung ahndet, bei der diese
Pflicht durch den förmlichen Eid oder mindestens durch ein Gelöbnis um
Eidesstatt besonders übernommen ist. Wenn z. B. ein Zeuge, der nicht ver¬
eidigt worden ist, etwa weil die Parteien auf seine Vereidigung verzichtet
haben, das Vertrauen der einen Partei täuscht und auss gröbste lügt, so ist
er heutzutage vollständig straflos. Indem so der Eid auf sich sowohl den
Schutz der Religion wie den des weltlichen Richters vereinigt, während die
Pflicht zur Wahrheit im übrigen von dem weltlichen Gesetz vollständig schutzlos
gelassen wird, ist nicht mit Sicherheit festzustellen, ob es mehr die Furcht vor
dem Strafgericht Gottes oder die vor dem weltlichen Richter ist, die die Menge
in Schranken hält, und ob nicht die Scheu vor dem Zuchthaus oder dem Ge¬
fängnis allein genügen würde, auch die sittlich indifferente Gruppe zur Wahr¬
heit anzuhalten. Ja wenn man erwägt, daß Religion und Sittengesetz jede,
auch die unbeeidigte falsche Aussage für sündhaft erklären, wie schon das neunte
Gebot das falsche Zeugnis verbietet, gleichviel ob es beeidigt wird oder nicht,
so muß man annehmen, daß die Scheu vor einer Verletzung der Eides¬
pflicht entschieden mehr durch die Strafandrohung des weltlichen Gesetzes her¬
vorgerufen wird. Für die überwiegende Mehrzahl der Menschen gilt dies
in der Gegenwart ganz gewiß, und der bisherige Entwicklungsgang bietet
wenig Aussicht, daß es in absehbarer Zukunft anders werde. Damit soll
keineswegs gesagt sein, daß eine Zunahme echter, tiefer Religiosität im Volke
ausgeschlossen sei. Im Gegenteil, es liegen manche Anzeichen für eine solche
Wendung vor. Wahre Gottesfurcht aber bedarf nicht des Eides, um bei der
Wahrheit zu bleiben; je mehr sie sich also wieder ausbreitet, umso mehr wird
dadurch gerade der Bereich eingeschränkt, für den man äußerstenfalls den Eid
als notwendig ansehen könnte.

Die Sache liegt mithin so, daß bei den Menschen, deren Eid allerdings
eine unbedingte Glaubwürdigkeit beanspruchen, auf der andern Seite aber auch
allein eine sichere Grundlage für die richterliche Überzeugung abgeben kann,
dieses Mittel, die Wahrheit zu bekräftigen, nicht nötig ist, weil sie auch ohne
dies der Wahrheit die Ehre geben würden. Wem man aber dieses Zutrauen
nicht schenken kann, bei dem schwindet gerade heutzutage auch mehr und mehr
die Zuverlässigkeit des Eides. Die Stellung, die der Eid im Prozeß ein¬
nimmt, verdankt er aber nur der Annahme einer Zuverlässigkeit, die, von ver¬
schwindenden Ausnahmen abgesehen, geradezu unbedingt genannt werden muß.
Wenn sich diese Ansncchmen derart mehren, wie dies in der Gegenwart der


Der gerichtliche Lid

scheu dieses Schlags die größte Gruppe bilden: es ist die sittlich indifferente
Masse, der naturgemäß die große Mehrzahl angehört.

Die Beurteilung der Frage, ob für diese Gruppe als Zwangsmittel, um
sie bei der Wahrheit zu halten, die feierliche Anrufung Gottes nötig sei, wird
wesentlich dadurch erschwert, daß unser Strafgesetz jetzt nicht die Verletzung der
Wahrheitspflicht als solcher, sondern nur die Verletzung ahndet, bei der diese
Pflicht durch den förmlichen Eid oder mindestens durch ein Gelöbnis um
Eidesstatt besonders übernommen ist. Wenn z. B. ein Zeuge, der nicht ver¬
eidigt worden ist, etwa weil die Parteien auf seine Vereidigung verzichtet
haben, das Vertrauen der einen Partei täuscht und auss gröbste lügt, so ist
er heutzutage vollständig straflos. Indem so der Eid auf sich sowohl den
Schutz der Religion wie den des weltlichen Richters vereinigt, während die
Pflicht zur Wahrheit im übrigen von dem weltlichen Gesetz vollständig schutzlos
gelassen wird, ist nicht mit Sicherheit festzustellen, ob es mehr die Furcht vor
dem Strafgericht Gottes oder die vor dem weltlichen Richter ist, die die Menge
in Schranken hält, und ob nicht die Scheu vor dem Zuchthaus oder dem Ge¬
fängnis allein genügen würde, auch die sittlich indifferente Gruppe zur Wahr¬
heit anzuhalten. Ja wenn man erwägt, daß Religion und Sittengesetz jede,
auch die unbeeidigte falsche Aussage für sündhaft erklären, wie schon das neunte
Gebot das falsche Zeugnis verbietet, gleichviel ob es beeidigt wird oder nicht,
so muß man annehmen, daß die Scheu vor einer Verletzung der Eides¬
pflicht entschieden mehr durch die Strafandrohung des weltlichen Gesetzes her¬
vorgerufen wird. Für die überwiegende Mehrzahl der Menschen gilt dies
in der Gegenwart ganz gewiß, und der bisherige Entwicklungsgang bietet
wenig Aussicht, daß es in absehbarer Zukunft anders werde. Damit soll
keineswegs gesagt sein, daß eine Zunahme echter, tiefer Religiosität im Volke
ausgeschlossen sei. Im Gegenteil, es liegen manche Anzeichen für eine solche
Wendung vor. Wahre Gottesfurcht aber bedarf nicht des Eides, um bei der
Wahrheit zu bleiben; je mehr sie sich also wieder ausbreitet, umso mehr wird
dadurch gerade der Bereich eingeschränkt, für den man äußerstenfalls den Eid
als notwendig ansehen könnte.

Die Sache liegt mithin so, daß bei den Menschen, deren Eid allerdings
eine unbedingte Glaubwürdigkeit beanspruchen, auf der andern Seite aber auch
allein eine sichere Grundlage für die richterliche Überzeugung abgeben kann,
dieses Mittel, die Wahrheit zu bekräftigen, nicht nötig ist, weil sie auch ohne
dies der Wahrheit die Ehre geben würden. Wem man aber dieses Zutrauen
nicht schenken kann, bei dem schwindet gerade heutzutage auch mehr und mehr
die Zuverlässigkeit des Eides. Die Stellung, die der Eid im Prozeß ein¬
nimmt, verdankt er aber nur der Annahme einer Zuverlässigkeit, die, von ver¬
schwindenden Ausnahmen abgesehen, geradezu unbedingt genannt werden muß.
Wenn sich diese Ansncchmen derart mehren, wie dies in der Gegenwart der


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[0511] Der gerichtliche Lid scheu dieses Schlags die größte Gruppe bilden: es ist die sittlich indifferente Masse, der naturgemäß die große Mehrzahl angehört. Die Beurteilung der Frage, ob für diese Gruppe als Zwangsmittel, um sie bei der Wahrheit zu halten, die feierliche Anrufung Gottes nötig sei, wird wesentlich dadurch erschwert, daß unser Strafgesetz jetzt nicht die Verletzung der Wahrheitspflicht als solcher, sondern nur die Verletzung ahndet, bei der diese Pflicht durch den förmlichen Eid oder mindestens durch ein Gelöbnis um Eidesstatt besonders übernommen ist. Wenn z. B. ein Zeuge, der nicht ver¬ eidigt worden ist, etwa weil die Parteien auf seine Vereidigung verzichtet haben, das Vertrauen der einen Partei täuscht und auss gröbste lügt, so ist er heutzutage vollständig straflos. Indem so der Eid auf sich sowohl den Schutz der Religion wie den des weltlichen Richters vereinigt, während die Pflicht zur Wahrheit im übrigen von dem weltlichen Gesetz vollständig schutzlos gelassen wird, ist nicht mit Sicherheit festzustellen, ob es mehr die Furcht vor dem Strafgericht Gottes oder die vor dem weltlichen Richter ist, die die Menge in Schranken hält, und ob nicht die Scheu vor dem Zuchthaus oder dem Ge¬ fängnis allein genügen würde, auch die sittlich indifferente Gruppe zur Wahr¬ heit anzuhalten. Ja wenn man erwägt, daß Religion und Sittengesetz jede, auch die unbeeidigte falsche Aussage für sündhaft erklären, wie schon das neunte Gebot das falsche Zeugnis verbietet, gleichviel ob es beeidigt wird oder nicht, so muß man annehmen, daß die Scheu vor einer Verletzung der Eides¬ pflicht entschieden mehr durch die Strafandrohung des weltlichen Gesetzes her¬ vorgerufen wird. Für die überwiegende Mehrzahl der Menschen gilt dies in der Gegenwart ganz gewiß, und der bisherige Entwicklungsgang bietet wenig Aussicht, daß es in absehbarer Zukunft anders werde. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß eine Zunahme echter, tiefer Religiosität im Volke ausgeschlossen sei. Im Gegenteil, es liegen manche Anzeichen für eine solche Wendung vor. Wahre Gottesfurcht aber bedarf nicht des Eides, um bei der Wahrheit zu bleiben; je mehr sie sich also wieder ausbreitet, umso mehr wird dadurch gerade der Bereich eingeschränkt, für den man äußerstenfalls den Eid als notwendig ansehen könnte. Die Sache liegt mithin so, daß bei den Menschen, deren Eid allerdings eine unbedingte Glaubwürdigkeit beanspruchen, auf der andern Seite aber auch allein eine sichere Grundlage für die richterliche Überzeugung abgeben kann, dieses Mittel, die Wahrheit zu bekräftigen, nicht nötig ist, weil sie auch ohne dies der Wahrheit die Ehre geben würden. Wem man aber dieses Zutrauen nicht schenken kann, bei dem schwindet gerade heutzutage auch mehr und mehr die Zuverlässigkeit des Eides. Die Stellung, die der Eid im Prozeß ein¬ nimmt, verdankt er aber nur der Annahme einer Zuverlässigkeit, die, von ver¬ schwindenden Ausnahmen abgesehen, geradezu unbedingt genannt werden muß. Wenn sich diese Ansncchmen derart mehren, wie dies in der Gegenwart der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/511>, abgerufen am 26.08.2024.