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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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ihm doch das Gesetz verbürge, eine Zurücksetzung und materiellen Nachteil er¬
dulden müsse.

Diesen Erwägungen, die sür Beseitigung des Eides im Prozeß sprechen,
wird man entgegenhalten, die Abschaffung des Eides sei zwar an sich und aus
Gründen der Religion gewiß erstrebenswert, aber sie sei praktisch unausführ¬
bar, weil ohne den Eid die Ermittlung der Wahrheit im Prozeß nicht mög¬
lich sei. Ich halte dieses Bedenken für übertrieben. Zunächst giebt es Staaten,
wo anstatt oder neben der Anrufung Gottes im Eid eine andre Form der Be-
teurung vorgeschrieben oder zulässig ist. In Italien z. B. lautet die Formel
nur: Ich schwöre, daß u. s. w. Welche Erfahrungen man dort gesammelt hat,
ist mir allerdings leider nicht bekannt.

Man kann die Menschen für die Frage nach der Notwendigkeit des Eides
im Prozesse in drei Gruppen einteilen. Zunächst giebt es eine große Anzahl
Menschen, und zwar durchaus nicht etwa allein unter den Gebildeten oder den
obern Zehntausend, sondern im Gegenteil gerade auch unter dem Volke, die
wahrhaft sind aus innerm Trieb, die der Wahrheit die Ehre geben um ihrer
selbst willen, auch ohne jeden äußern Zwang und selbst gegen ihren Vorteil,
mag es nun die Stimme ihres Gewissens oder ihr Ehrgefühl, die stolze Scheu
vor der Gemeinheit der Lüge sein, die sie von der Unwahrheit fern hält. Zu
dieser Gruppe gehören in erster Linie alle Menschen von wahrhaft gottes-
fürchtiger und religiöser Gesinnung. Aber nicht nur diese, auch unter denen,
die an einen persönlichen Gott nicht glauben, giebt es ohne Zweifel fehr
viele, die die UnWahrhaftigkeit verabscheuen und zur Lüge unfähig sind.
Für diese Gruppe ist der Eid als Mittel, eine der Wahrheit entsprechende
Aussage herbeizuführen, unnötig; wer ihr angehört, der sagt die Wahrheit vor
Gericht auch unvereidigt.

Den entgegengesetzten Standpunkt nehmen die ein, die keine Scheu vor
der Lüge haben, und bei denen auch die Anrufung des Höchsten im Eid nicht
mehr den Erfolg hat, daß sie bei der Wahrheit bleiben, wenigstens wo diese
ihrem Vorteil widerstreitet. Wie zahlreich diese Gruppe heutzutage ist, das
beweisen eben die vielen Meineide, die jetzt vorkommen und oft um der größten
Lumpereien willen geschworen werden; und die fortwährende Zunahme der
Klagen über die Eidesnvt zeigt zugleich, daß sich diese Gruppe, anstatt abzu¬
nehmen, mehr und mehr vergrößert. Für diese Gruppe ist ebenfalls der Eid
unnütz, denn er bewirkt bei ihr doch nicht das, wozu allein er dienen soll.

Die dritte Gruppe steht in der Mitte zwischen diesen beiden. Zu ihr
gehören alle, die zwar zur Erlangung eines Vorteils nicht abgeneigt sind, auch
einmal von der Wahrheit abzugehen, die aber doch noch durch die Scheu vor
der beim Eid von ihnen feierlich cmgerufnen Gottheit und durch die Furcht
vor der mit der Verletzung des Eides verwirkten Strafe des weltlichen Richters
auf der Bahn der Wahrheit gehalten werden. Man muß zugeben, daß Mer-


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ihm doch das Gesetz verbürge, eine Zurücksetzung und materiellen Nachteil er¬
dulden müsse.

Diesen Erwägungen, die sür Beseitigung des Eides im Prozeß sprechen,
wird man entgegenhalten, die Abschaffung des Eides sei zwar an sich und aus
Gründen der Religion gewiß erstrebenswert, aber sie sei praktisch unausführ¬
bar, weil ohne den Eid die Ermittlung der Wahrheit im Prozeß nicht mög¬
lich sei. Ich halte dieses Bedenken für übertrieben. Zunächst giebt es Staaten,
wo anstatt oder neben der Anrufung Gottes im Eid eine andre Form der Be-
teurung vorgeschrieben oder zulässig ist. In Italien z. B. lautet die Formel
nur: Ich schwöre, daß u. s. w. Welche Erfahrungen man dort gesammelt hat,
ist mir allerdings leider nicht bekannt.

Man kann die Menschen für die Frage nach der Notwendigkeit des Eides
im Prozesse in drei Gruppen einteilen. Zunächst giebt es eine große Anzahl
Menschen, und zwar durchaus nicht etwa allein unter den Gebildeten oder den
obern Zehntausend, sondern im Gegenteil gerade auch unter dem Volke, die
wahrhaft sind aus innerm Trieb, die der Wahrheit die Ehre geben um ihrer
selbst willen, auch ohne jeden äußern Zwang und selbst gegen ihren Vorteil,
mag es nun die Stimme ihres Gewissens oder ihr Ehrgefühl, die stolze Scheu
vor der Gemeinheit der Lüge sein, die sie von der Unwahrheit fern hält. Zu
dieser Gruppe gehören in erster Linie alle Menschen von wahrhaft gottes-
fürchtiger und religiöser Gesinnung. Aber nicht nur diese, auch unter denen,
die an einen persönlichen Gott nicht glauben, giebt es ohne Zweifel fehr
viele, die die UnWahrhaftigkeit verabscheuen und zur Lüge unfähig sind.
Für diese Gruppe ist der Eid als Mittel, eine der Wahrheit entsprechende
Aussage herbeizuführen, unnötig; wer ihr angehört, der sagt die Wahrheit vor
Gericht auch unvereidigt.

Den entgegengesetzten Standpunkt nehmen die ein, die keine Scheu vor
der Lüge haben, und bei denen auch die Anrufung des Höchsten im Eid nicht
mehr den Erfolg hat, daß sie bei der Wahrheit bleiben, wenigstens wo diese
ihrem Vorteil widerstreitet. Wie zahlreich diese Gruppe heutzutage ist, das
beweisen eben die vielen Meineide, die jetzt vorkommen und oft um der größten
Lumpereien willen geschworen werden; und die fortwährende Zunahme der
Klagen über die Eidesnvt zeigt zugleich, daß sich diese Gruppe, anstatt abzu¬
nehmen, mehr und mehr vergrößert. Für diese Gruppe ist ebenfalls der Eid
unnütz, denn er bewirkt bei ihr doch nicht das, wozu allein er dienen soll.

Die dritte Gruppe steht in der Mitte zwischen diesen beiden. Zu ihr
gehören alle, die zwar zur Erlangung eines Vorteils nicht abgeneigt sind, auch
einmal von der Wahrheit abzugehen, die aber doch noch durch die Scheu vor
der beim Eid von ihnen feierlich cmgerufnen Gottheit und durch die Furcht
vor der mit der Verletzung des Eides verwirkten Strafe des weltlichen Richters
auf der Bahn der Wahrheit gehalten werden. Man muß zugeben, daß Mer-


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[0510] Der gerichtliche Lid ihm doch das Gesetz verbürge, eine Zurücksetzung und materiellen Nachteil er¬ dulden müsse. Diesen Erwägungen, die sür Beseitigung des Eides im Prozeß sprechen, wird man entgegenhalten, die Abschaffung des Eides sei zwar an sich und aus Gründen der Religion gewiß erstrebenswert, aber sie sei praktisch unausführ¬ bar, weil ohne den Eid die Ermittlung der Wahrheit im Prozeß nicht mög¬ lich sei. Ich halte dieses Bedenken für übertrieben. Zunächst giebt es Staaten, wo anstatt oder neben der Anrufung Gottes im Eid eine andre Form der Be- teurung vorgeschrieben oder zulässig ist. In Italien z. B. lautet die Formel nur: Ich schwöre, daß u. s. w. Welche Erfahrungen man dort gesammelt hat, ist mir allerdings leider nicht bekannt. Man kann die Menschen für die Frage nach der Notwendigkeit des Eides im Prozesse in drei Gruppen einteilen. Zunächst giebt es eine große Anzahl Menschen, und zwar durchaus nicht etwa allein unter den Gebildeten oder den obern Zehntausend, sondern im Gegenteil gerade auch unter dem Volke, die wahrhaft sind aus innerm Trieb, die der Wahrheit die Ehre geben um ihrer selbst willen, auch ohne jeden äußern Zwang und selbst gegen ihren Vorteil, mag es nun die Stimme ihres Gewissens oder ihr Ehrgefühl, die stolze Scheu vor der Gemeinheit der Lüge sein, die sie von der Unwahrheit fern hält. Zu dieser Gruppe gehören in erster Linie alle Menschen von wahrhaft gottes- fürchtiger und religiöser Gesinnung. Aber nicht nur diese, auch unter denen, die an einen persönlichen Gott nicht glauben, giebt es ohne Zweifel fehr viele, die die UnWahrhaftigkeit verabscheuen und zur Lüge unfähig sind. Für diese Gruppe ist der Eid als Mittel, eine der Wahrheit entsprechende Aussage herbeizuführen, unnötig; wer ihr angehört, der sagt die Wahrheit vor Gericht auch unvereidigt. Den entgegengesetzten Standpunkt nehmen die ein, die keine Scheu vor der Lüge haben, und bei denen auch die Anrufung des Höchsten im Eid nicht mehr den Erfolg hat, daß sie bei der Wahrheit bleiben, wenigstens wo diese ihrem Vorteil widerstreitet. Wie zahlreich diese Gruppe heutzutage ist, das beweisen eben die vielen Meineide, die jetzt vorkommen und oft um der größten Lumpereien willen geschworen werden; und die fortwährende Zunahme der Klagen über die Eidesnvt zeigt zugleich, daß sich diese Gruppe, anstatt abzu¬ nehmen, mehr und mehr vergrößert. Für diese Gruppe ist ebenfalls der Eid unnütz, denn er bewirkt bei ihr doch nicht das, wozu allein er dienen soll. Die dritte Gruppe steht in der Mitte zwischen diesen beiden. Zu ihr gehören alle, die zwar zur Erlangung eines Vorteils nicht abgeneigt sind, auch einmal von der Wahrheit abzugehen, die aber doch noch durch die Scheu vor der beim Eid von ihnen feierlich cmgerufnen Gottheit und durch die Furcht vor der mit der Verletzung des Eides verwirkten Strafe des weltlichen Richters auf der Bahn der Wahrheit gehalten werden. Man muß zugeben, daß Mer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/510>, abgerufen am 26.08.2024.