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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.

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Sedini

einem kleinen Wall umrahmt, der sich aus gefrornem und wieder geschmolzenem
Schmutz zusammensetzt und die Witterungsgeschichte des ganzen Winters dar¬
stellt. Vor solch einer Insel hebt die Mutter den Zipfel des Umschlagetuchs
und bestreicht mit ihren blaugefrornen Fingern die Rückseite des Zettels, den
ihr die Tochter reicht. Dann wird der Zettel um die Rundung der blechernen
Rinne geklebt und festgedrückt, und am andern Morgen blickt in den entferntesten
Stadtgegenden die Nachricht hernieder: "Feines Zimmer an soliden Herrn zu
vermieten. Akademiestraße 1 über vier Stiegen."

Aber Fräulein Bernarz hatte keine Tochter, denn sie war Jungfrau, ob¬
wohl sie alt war. Sie wohnte Akademiestraße 1 über zwei Stiegen und machte
die Hnusthüre nie weiter auf, als daß ihre rechte Pupille das Bild des
Draußenstehenden aufnehmen konnte; die linke war mit unter das Tuch ge¬
bunden, das sie trug, weil sie immer Zahnschmerzen hatte.

Man sagte von ihr, sie wäre unwirsch. Aber kann man verbindlich sein,
wenn mau sich immer, bei jedem Atemzuge im Stande der Notwehr befindet?
Und Fräulein Bernarz hatte immer Angst! Angst vor den Menschen, den sicht¬
baren Übeln, und fast noch mehr vor den unsichtbaren, dem Fegefeuer, der
Polizei und den Dieben, die unter den Betten liegen. Dazu dann noch die
viele Arbeit! Aber sie konnte sie auch nicht mehr bewältigen, und darum war
die Franzi gekommen, ihre Schwestertochter.

Nun saßen sie beide in der Küche, denn das war ihr Wohnraum; außer¬
dem hatten sie nur ein gemeinsames Schlafzimmer, und das war dunkel.

Fräulein Bernarz hatte zugleich mit ihrer Nichte eine Maß Bier herauf¬
gebracht und berauschte sich nun; aber nicht aus der Maß, sondern an dem
Bewußtsein, jemand zu haben, der ihr zuhörte. Darum war die Maß auch
noch nicht halb leer, als die Franzi bereits einen Überblick über die letzten
zehn Lebensjahre der Alten hatte. Weiter als diese zehn Jahre dachte Fräu¬
lein Bernarz nicht zurück. Damals war ihre Mutter gestorben, die in ihrem
hohen Alter wohl etwas schwach im Kopfe, aber für "das Kind" doch noch
der Umkreis der Welt gewesen war. Mit fünfzig Jahren, nach der Mutter
Tode hatte Auguste Bernarz eigentlich erst das Licht der Welt erblickt; seit¬
dem fror sie und hatte Zahnschmerzen.

Mühsam hatte sie es verstanden, als man ihr das Getriebe um sie her
erklärte, als man ihr half einen Teil ihrer Möbel verkaufen, die Wohnung
in der Akademiestraße suchen und Zettel schneiden, die mit schiefen Buchstaben
von allen Dachtraufen in München erzählen sollten: Feines Zimmer an
soliden Herrn zu vermieten.

Nachher, als die "soliden Herren" eingezogen waren, war ihr ein Berg
von der Seele genommen; denn wie man einem Menschen aufwartet, wie man
Zimmer putzt und Frühstück anrichtet, das wußte sie von den Zeiten der Mutter
her auswendig wie die Uhr ihre zwölf Schläge. Aber dann war der


Sedini

einem kleinen Wall umrahmt, der sich aus gefrornem und wieder geschmolzenem
Schmutz zusammensetzt und die Witterungsgeschichte des ganzen Winters dar¬
stellt. Vor solch einer Insel hebt die Mutter den Zipfel des Umschlagetuchs
und bestreicht mit ihren blaugefrornen Fingern die Rückseite des Zettels, den
ihr die Tochter reicht. Dann wird der Zettel um die Rundung der blechernen
Rinne geklebt und festgedrückt, und am andern Morgen blickt in den entferntesten
Stadtgegenden die Nachricht hernieder: „Feines Zimmer an soliden Herrn zu
vermieten. Akademiestraße 1 über vier Stiegen."

Aber Fräulein Bernarz hatte keine Tochter, denn sie war Jungfrau, ob¬
wohl sie alt war. Sie wohnte Akademiestraße 1 über zwei Stiegen und machte
die Hnusthüre nie weiter auf, als daß ihre rechte Pupille das Bild des
Draußenstehenden aufnehmen konnte; die linke war mit unter das Tuch ge¬
bunden, das sie trug, weil sie immer Zahnschmerzen hatte.

Man sagte von ihr, sie wäre unwirsch. Aber kann man verbindlich sein,
wenn mau sich immer, bei jedem Atemzuge im Stande der Notwehr befindet?
Und Fräulein Bernarz hatte immer Angst! Angst vor den Menschen, den sicht¬
baren Übeln, und fast noch mehr vor den unsichtbaren, dem Fegefeuer, der
Polizei und den Dieben, die unter den Betten liegen. Dazu dann noch die
viele Arbeit! Aber sie konnte sie auch nicht mehr bewältigen, und darum war
die Franzi gekommen, ihre Schwestertochter.

Nun saßen sie beide in der Küche, denn das war ihr Wohnraum; außer¬
dem hatten sie nur ein gemeinsames Schlafzimmer, und das war dunkel.

Fräulein Bernarz hatte zugleich mit ihrer Nichte eine Maß Bier herauf¬
gebracht und berauschte sich nun; aber nicht aus der Maß, sondern an dem
Bewußtsein, jemand zu haben, der ihr zuhörte. Darum war die Maß auch
noch nicht halb leer, als die Franzi bereits einen Überblick über die letzten
zehn Lebensjahre der Alten hatte. Weiter als diese zehn Jahre dachte Fräu¬
lein Bernarz nicht zurück. Damals war ihre Mutter gestorben, die in ihrem
hohen Alter wohl etwas schwach im Kopfe, aber für „das Kind" doch noch
der Umkreis der Welt gewesen war. Mit fünfzig Jahren, nach der Mutter
Tode hatte Auguste Bernarz eigentlich erst das Licht der Welt erblickt; seit¬
dem fror sie und hatte Zahnschmerzen.

Mühsam hatte sie es verstanden, als man ihr das Getriebe um sie her
erklärte, als man ihr half einen Teil ihrer Möbel verkaufen, die Wohnung
in der Akademiestraße suchen und Zettel schneiden, die mit schiefen Buchstaben
von allen Dachtraufen in München erzählen sollten: Feines Zimmer an
soliden Herrn zu vermieten.

Nachher, als die „soliden Herren" eingezogen waren, war ihr ein Berg
von der Seele genommen; denn wie man einem Menschen aufwartet, wie man
Zimmer putzt und Frühstück anrichtet, das wußte sie von den Zeiten der Mutter
her auswendig wie die Uhr ihre zwölf Schläge. Aber dann war der


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[0051] Sedini einem kleinen Wall umrahmt, der sich aus gefrornem und wieder geschmolzenem Schmutz zusammensetzt und die Witterungsgeschichte des ganzen Winters dar¬ stellt. Vor solch einer Insel hebt die Mutter den Zipfel des Umschlagetuchs und bestreicht mit ihren blaugefrornen Fingern die Rückseite des Zettels, den ihr die Tochter reicht. Dann wird der Zettel um die Rundung der blechernen Rinne geklebt und festgedrückt, und am andern Morgen blickt in den entferntesten Stadtgegenden die Nachricht hernieder: „Feines Zimmer an soliden Herrn zu vermieten. Akademiestraße 1 über vier Stiegen." Aber Fräulein Bernarz hatte keine Tochter, denn sie war Jungfrau, ob¬ wohl sie alt war. Sie wohnte Akademiestraße 1 über zwei Stiegen und machte die Hnusthüre nie weiter auf, als daß ihre rechte Pupille das Bild des Draußenstehenden aufnehmen konnte; die linke war mit unter das Tuch ge¬ bunden, das sie trug, weil sie immer Zahnschmerzen hatte. Man sagte von ihr, sie wäre unwirsch. Aber kann man verbindlich sein, wenn mau sich immer, bei jedem Atemzuge im Stande der Notwehr befindet? Und Fräulein Bernarz hatte immer Angst! Angst vor den Menschen, den sicht¬ baren Übeln, und fast noch mehr vor den unsichtbaren, dem Fegefeuer, der Polizei und den Dieben, die unter den Betten liegen. Dazu dann noch die viele Arbeit! Aber sie konnte sie auch nicht mehr bewältigen, und darum war die Franzi gekommen, ihre Schwestertochter. Nun saßen sie beide in der Küche, denn das war ihr Wohnraum; außer¬ dem hatten sie nur ein gemeinsames Schlafzimmer, und das war dunkel. Fräulein Bernarz hatte zugleich mit ihrer Nichte eine Maß Bier herauf¬ gebracht und berauschte sich nun; aber nicht aus der Maß, sondern an dem Bewußtsein, jemand zu haben, der ihr zuhörte. Darum war die Maß auch noch nicht halb leer, als die Franzi bereits einen Überblick über die letzten zehn Lebensjahre der Alten hatte. Weiter als diese zehn Jahre dachte Fräu¬ lein Bernarz nicht zurück. Damals war ihre Mutter gestorben, die in ihrem hohen Alter wohl etwas schwach im Kopfe, aber für „das Kind" doch noch der Umkreis der Welt gewesen war. Mit fünfzig Jahren, nach der Mutter Tode hatte Auguste Bernarz eigentlich erst das Licht der Welt erblickt; seit¬ dem fror sie und hatte Zahnschmerzen. Mühsam hatte sie es verstanden, als man ihr das Getriebe um sie her erklärte, als man ihr half einen Teil ihrer Möbel verkaufen, die Wohnung in der Akademiestraße suchen und Zettel schneiden, die mit schiefen Buchstaben von allen Dachtraufen in München erzählen sollten: Feines Zimmer an soliden Herrn zu vermieten. Nachher, als die „soliden Herren" eingezogen waren, war ihr ein Berg von der Seele genommen; denn wie man einem Menschen aufwartet, wie man Zimmer putzt und Frühstück anrichtet, das wußte sie von den Zeiten der Mutter her auswendig wie die Uhr ihre zwölf Schläge. Aber dann war der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219675/51>, abgerufen am 24.08.2024.