Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Zweites Vierteljahr.Lügen Düljriug und die Größen der modernen Litteratur Teilnahme und Förderung zu überlassen." Wo man sich der Thatsache nicht Lügen Düljriug und die Größen der modernen Litteratur Teilnahme und Förderung zu überlassen." Wo man sich der Thatsache nicht <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0047" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219723"/> <fw type="header" place="top"> Lügen Düljriug und die Größen der modernen Litteratur</fw><lb/> <p xml:id="ID_99" prev="#ID_98" next="#ID_100"> Teilnahme und Förderung zu überlassen." Wo man sich der Thatsache nicht<lb/> verschließt, daß hohe Gesichtspunkte fruchtbar und förderlich sein können, auch<lb/> wenn sie mit Mißurteilen im einzelnen gepaart sind, da wird man die Be¬<lb/> deutung gewisser durch das Buch hindurchgehender Anschauungen nicht ver¬<lb/> kennen. „Man muß rekoustruiren, und zwar im Geistigen wie im Politischen;<lb/> alsdann kann der menschliche Sinn wieder feste Haltung gewinnen. Man muß<lb/> reformatorisch verfahren, nicht also derartig, als gälte es erst eine Welt zu<lb/> schassen, was ein Widersinn ist, sondern in einer Weise, vermöge deren die<lb/> Wegschaffung des Baufälligen und der Ersatz durch Wiederaufbau die leitenden<lb/> Gesichtspunkte bleiben. Dieses Verfahren kann auch den Charakter wieder<lb/> hinreichend anfrischeu und demgemäß, was uns in unserm engern Zusammen¬<lb/> hang ja am meisten angeht, auch zu würdigen ästhetischen Leistungen befähigen.<lb/> Man lasse sich durch landläufige revolutionäre Perspektiven und durch ent¬<lb/> sprechendes Bramarbasiren nicht täuschen. Befiehl man sich die revolutionären<lb/> Elemente, die sich selber mit so viel Geräusch als Retter ankündigen, so findet<lb/> man nicht weniger, sondern eher noch mehr Korruption, als sonstwo in der<lb/> Gesellschaft und im Staate. — Wo etwas nicht beinahe schon von selber ein¬<lb/> stürzt, da werden die seltsamen Helden von der korrupt revolutionären Spielart,<lb/> wie sie sich heute aufspielt, auch nichts umstoßen oder wegschaffen. Ähnlich<lb/> verhält es sich mit dem geistigen Gebiet. Auch da giebt es septische und<lb/> skeptische Elemente, Gemüt und Verstand zersetzende und desorientirende Be¬<lb/> standteile genng. Unfähig sind sie aber sämtlich, nicht etwa bloß, wo es neu<lb/> zu bauen und zu schaffen gilt, sondern auch schon da, wo ernsthafte und gro߬<lb/> artige Wegräumnngeu in Frage kommen. Auch da sind diese kleinen Anzehrer,<lb/> die nur Fäulnis und Fäulnisdünste verbreiten, unmittelbar kraftlos." Oder:<lb/> „Die Kluft zwischen ästhetischer Haltung und charakterhafter Bedeutung kann<lb/> in doppelter Beziehung eine große sein, je nachdem der Mangel auf der eiuen<lb/> oder der andern Seite zu finden ist. Fragt man in erster Linie nach der er¬<lb/> ziehenden und bildenden Wirkung der Charakterhaltung, so müssen öfter erste<lb/> Formalgrößeu in den Hintergrund treten, und ein ästhetisch kaum zu nennender<lb/> Dichter kann der charaktergemäß überragende und in dieser Hinsicht auch heil¬<lb/> samer wirkende sein. — Anscheinend, aber anch nur anscheinend sonderbar ist<lb/> es, daß dieser dichterische sogenannte Realismus sich mit soviel Unrealem, mit<lb/> soviel Unwirklichkeit so gern gattet. Es rührt dies wohl im tiefern Grunde<lb/> daher, daß solcher Realismus zwar die Außenseite des Lebens hie und da<lb/> zugänglich abbilden mag, für das zugehörige Innere ihm aber meist das klare<lb/> Verständnis abgeht." Solche und vielleicht ein Dutzend ähnliche Sätze des<lb/> Verfassers haben allen Anspruch darauf, in den litterarisch-ästhetischen Er-<lb/> örterungen des Tages nicht übersehen zu werde», die Grundsehnsucht des<lb/> Schriftstellers nach ideal großen Litteraturschöpfnngen und Litteraturwirkungen<lb/> wäre gerade der Gegenwart heilsam, nur daß offenbar auf dem Wege, den</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0047]
Lügen Düljriug und die Größen der modernen Litteratur
Teilnahme und Förderung zu überlassen." Wo man sich der Thatsache nicht
verschließt, daß hohe Gesichtspunkte fruchtbar und förderlich sein können, auch
wenn sie mit Mißurteilen im einzelnen gepaart sind, da wird man die Be¬
deutung gewisser durch das Buch hindurchgehender Anschauungen nicht ver¬
kennen. „Man muß rekoustruiren, und zwar im Geistigen wie im Politischen;
alsdann kann der menschliche Sinn wieder feste Haltung gewinnen. Man muß
reformatorisch verfahren, nicht also derartig, als gälte es erst eine Welt zu
schassen, was ein Widersinn ist, sondern in einer Weise, vermöge deren die
Wegschaffung des Baufälligen und der Ersatz durch Wiederaufbau die leitenden
Gesichtspunkte bleiben. Dieses Verfahren kann auch den Charakter wieder
hinreichend anfrischeu und demgemäß, was uns in unserm engern Zusammen¬
hang ja am meisten angeht, auch zu würdigen ästhetischen Leistungen befähigen.
Man lasse sich durch landläufige revolutionäre Perspektiven und durch ent¬
sprechendes Bramarbasiren nicht täuschen. Befiehl man sich die revolutionären
Elemente, die sich selber mit so viel Geräusch als Retter ankündigen, so findet
man nicht weniger, sondern eher noch mehr Korruption, als sonstwo in der
Gesellschaft und im Staate. — Wo etwas nicht beinahe schon von selber ein¬
stürzt, da werden die seltsamen Helden von der korrupt revolutionären Spielart,
wie sie sich heute aufspielt, auch nichts umstoßen oder wegschaffen. Ähnlich
verhält es sich mit dem geistigen Gebiet. Auch da giebt es septische und
skeptische Elemente, Gemüt und Verstand zersetzende und desorientirende Be¬
standteile genng. Unfähig sind sie aber sämtlich, nicht etwa bloß, wo es neu
zu bauen und zu schaffen gilt, sondern auch schon da, wo ernsthafte und gro߬
artige Wegräumnngeu in Frage kommen. Auch da sind diese kleinen Anzehrer,
die nur Fäulnis und Fäulnisdünste verbreiten, unmittelbar kraftlos." Oder:
„Die Kluft zwischen ästhetischer Haltung und charakterhafter Bedeutung kann
in doppelter Beziehung eine große sein, je nachdem der Mangel auf der eiuen
oder der andern Seite zu finden ist. Fragt man in erster Linie nach der er¬
ziehenden und bildenden Wirkung der Charakterhaltung, so müssen öfter erste
Formalgrößeu in den Hintergrund treten, und ein ästhetisch kaum zu nennender
Dichter kann der charaktergemäß überragende und in dieser Hinsicht auch heil¬
samer wirkende sein. — Anscheinend, aber anch nur anscheinend sonderbar ist
es, daß dieser dichterische sogenannte Realismus sich mit soviel Unrealem, mit
soviel Unwirklichkeit so gern gattet. Es rührt dies wohl im tiefern Grunde
daher, daß solcher Realismus zwar die Außenseite des Lebens hie und da
zugänglich abbilden mag, für das zugehörige Innere ihm aber meist das klare
Verständnis abgeht." Solche und vielleicht ein Dutzend ähnliche Sätze des
Verfassers haben allen Anspruch darauf, in den litterarisch-ästhetischen Er-
örterungen des Tages nicht übersehen zu werde», die Grundsehnsucht des
Schriftstellers nach ideal großen Litteraturschöpfnngen und Litteraturwirkungen
wäre gerade der Gegenwart heilsam, nur daß offenbar auf dem Wege, den
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